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Hans Maier (Hg.), Die Freiburger Kreise. Akademischer Widerstand und Soziale Marktwirtschaft, Paderborn 2014, Schöningh-Verlag (= Politik- und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görresgesellschaft, 31), 284 S., 29,00 €, ISBN: 978-3-506-76953-4

Der Band setzt es sich zur Aufgabe, den Anteil der „Freiburger Kreise“ am Widerstand gegen die NS-Diktatur näher zu beleuchten. Wie Hans Maier einleitend betont, wird die oppositionelle Betätigung verschiedener Freiburger Professoren im Nachdenken über eine angemessene Ordnung des Gemeinwesens nach dem Untergang des Dritten Reichs von der Widerstands-Historiographie allzu oft übergangen. In den „Freiburger Kreisen“ flossen zwei Strömungen zusammen, weshalb zumeist im Plural davon gesprochen wird – eine nationalökonomische der Wirtschaftsprofessoren Walter Eucken, Adolf Lampe, Constantin von Dietze, zu denen der in Jena lebende Franz Böhm noch hinzuzurechnen ist, und eine aus dem evangelischen Bekenntnischristentum hervorgehende, die um Gerhard Ritter gruppiert war und an der die Ökonomen in unterschiedlicher Intensität beteiligt waren.

Untergliedert in drei Teile, gibt das Buch einen höchst informativen Einblick in die biographischen Zusammenhänge, die Gedankenwelt und die Programmatik dieser oppositionellen Gruppe: „Gesamtbild und Forschungsstand“ ist der erste Teil überschrieben, der sich vor allem dem Problem widmet, warum die Freiburger in der Widerstandsgeschichte am Rande stehen. In diesem Band wird ihre Opposition ganz entschieden dem Widerstand zugerechnet. Drei Professoren wurden Ende 1944 verhaftet, weil Carl F. Goerdeler in der Haft ihre Namen preisgegeben hatte, und sie blieben nur deshalb verschont, weil im Februar 1945 ein amerikanischer Luftangriff den Volksgerichtshof traf und sowohl die Akten als auch den Vorsitzenden Richter Freisler vernichtete.

Der zweite Teil gilt den „Wortführern“. In einer Kombination aus persönlichen Erinnerungen der Kinder Irene Eucken, Klaus Lampe und Gottfried von Dietze und geschichtswissenschaftlichen Beiträgen von Uwe Dathe zu Eucken und Böhm, Daniela Rüther zu Lampe und Klaus Schwabe zu Ritter werden die Protagonisten menschlich und fachlich plastisch beschrieben. Günther Gillesen fügt einen Beitrag über die „Gerhard Ritter-Kontroverse 2008 in Freiburg“ an, die sich auf die Entscheidung der Badischen Zeitung bezieht, den „Gerhard Ritter-Preis“ für Arbeiten junger Historiker nicht mehr nach Ritter zu benennen. Nach zwei Jahrzehnten moralisch aufgeladener öffentlicher Debatte über den „Holocaust“ und die historisch untilgbare Schuld der Deutschen entsprach diese Entscheidung dem Zeitgeist, nicht aber dem biographischen Profil Ritters. Gleichwohl, dass er ein kämpferischer Nationalkonservativer geblieben war, der nicht nur die westlichen Demokratien schmähte, sondern auch aus seiner – in der Kriegspropaganda von 1917 ankernden – antipluralistischen Gesellschaftsvorstellung kein Hehl machte, hatte er noch am 17. Juni 1955 vor dem Deutschen Bundestag kundgetan. Damals sprach Ritter, umgeben von der Aura des Widerstands, zum Gedenken an den Volksaufstand in der DDR zum Thema: „ Von der Unteilbarkeit deutscher Vaterlandsliebe“. Darin heißt es: „Es gibt eine eigene, dem Westen gegenüber selbständige Entwicklung deutscher Freiheitsideale (…) Dem älteren deutschen Liberalismus (…) ist der Staat mehr als ein Schutzdach des Privategoismus der einzelnen Staatsbürger, Freiheit noch etwas Anderes und Besseres als das Recht, ungestört seinem Privatinteresse nachgehen zu können. Der Staat ist politische Volkgemeinschaft [sic], die sich als sittliche Gemeinschaft freier Volksgenossen zu bewähren hat; die Freiheit ist freiwillige Hingabe zum Dienst an solcher Gemeinschaft, in der allein sich der Mensch als sittliches Wesen vollendet und damit erst zur Persönlichkeit im höheren Sinne reift.“ Die deutsche Spielart politischen Luthertums mit der antiliberalen Grundhaltung des Bismarckstaats zu verbinden und vor dem Deutschen Bundestag als Orientierungsmuster im Staat der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ zu beschwören, war schon 1955 mehr als unzeitgemäß. Diesen Aspekt übergeht Günther Gillessen.

Der dritte Teil des Buchs behandelt „Die verschlungenen Wege zur Sozialen Marktwirtschaft“ und bietet Beiträge von Hans F. Zacher über Entwicklung und (zeitgenössische) Krise der Sozialen Marktwirtschaft sowie über den Ort der Freiburger Kreise in der europäischen Geschichte, während Uwe Dathe den Beitrag Walter Euckens zur Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft behandelt.

Die Freiburger Opposition entstand in unmittelbarer Reaktion auf die Reichspogromnacht vom November 1938. Zwei programmatische Denkschriften wurden verfasst: die erste sofort 1938 unter dem Titel „Kirche und Welt“, die zweite 1942/43 unter dem Titel „Politische Gemeinschaftsordnung“. In beiden Fällen ging es um die Ortsbestimmung des evangelischen Christentums und um das christliche Gewissen vor der Herausforderung, eine Gesellschaftsordnung nach dem Nationalsozialismus neu zu denken. Daher sind hier – und das macht die Sonderstellung der Freiburger innerhalb des Widerstands aus – christlicher Impuls und Wirtschaftskonzeption aufs engste, ja untrennbar miteinander verbunden. Obwohl es den Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ bis 1948 gar nicht gab, entstand hier in Gestalt des „Ordoliberalismus“ das Konzept einer marktwirtschaftlichen Ordnung, die fest in den Rechtsstaat eingebunden und mit der staatlichen Ordnung funktional verkoppelt sein musste. Das zeitgenössische Pendant im nordatlantischen Wirtschaftsraum war der Keynesianismus, weshalb nach der Währungsreform, unter den Bedingungen des Marshall-Plans, die deutsche Soziale Marktwirtschaft und die atlantische Theorie des Funktionszusammenhangs von marktwirtschaftlicher Freiheit und staatlicher „Globalsteuerung“ ineinanderfließen konnten. Gesellschaft, Wirtschaft und Staat sowie Wirtschaft und Recht im Rechtsstaat wurden hier wie dort in einem untrennbaren Zusammenhang gesehen, und das prägte die Nachkriegsentwicklung bis in die 1970er Jahre. Die protestantische und alsbald interkonfessionelle christliche Grundierung trat in den Hintergrund, ging aber nicht verloren. Volkswirtschaft und Gesellschaft wurden durchweg als eine auch ethisch fundierte Gesamtordnung gesehen.

Es nimmt daher nicht wunder, dass sich Walter Eucken schon auf der zweiten Tagung der von Friedrich August von Hayek inspirierten Mont Pèlerin Society 1949 mit Hayeks Mentor Ludwig von Mises feindschaftlich überwarf. Mises war ein Vorkämpfer für die allumfassende Freiheit der Wirtschaft im Staat und in der Gesellschaft. Er vertrat die heute so genannte „neoliberale“ Laissez-faire-Politik, die den Menschen primär als Material für den kapitalistischen Verwertungsprozess kennt und den Staat aus ihrem Tun heraushalten will. Irene Eucken macht auf diesen frühen Konflikt aufmerksam (S. 83); das bestätigt die pessimistische Sicht von Hans F. Zacher, dass mit dem Durchbruch des Neoliberalismus spätestens im Zuge der Währungsunion der Sinnzusammenhang der Sozialen Marktwirtschaft verloren ging: das „wurde zum Desaster“ (S. 205)

Das Buch deckt gewiss nur Teilaspekte dieses weitgespannten Themas ab, doch leistet es einen wichtigen Beitrag zu drei Aspekten: zur Geschichte des Widerstands im Dritten Reich, zum Anteil christlicher Überzeugung bei der Grundlegung der westdeutschen Wirtschaftsordnung nach 1945/48 und zur Historizität der Sozialen Marktwirtschaft. Sie blieb an die Aufbaujahrzehnte gebunden und wurde dann von anderen Einflüssen überformt, ohne völlig zu verschwinden.


Zum Rezensenten:
Anselm Doering-Manteuffel, geb. 1949, ist Professor em. für Neuere Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Eberhard Karls Universität Tübingen.



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