Stephan Scholz, Vertriebenendenkmäler. Topographie einer deutschen Erinnerungslandschaft, Paderborn 2015, Ferdinand Schöningh Verlag, 83 Abb., 440 S., 49,90 EUR, ISBN 978-3-506-77264-0
Den ersten Impuls, sich mit Vertriebenendenkmälern zu beschäftigen, gab dem Autor eine sich über mehrere Jahre hinziehende lokale Denkmaldebatte. An dieser Debatte war und ist er doppelt beteiligt: als engagierter Zeitzeuge, der mit zum Scheitern eines 2005 vom Bund der Vertriebenen (BdV) angeregten Denkmals zur Erinnerung an Flucht und Vertreibung in Oldenburg beitrug, und als Historiker, der in der lebhaften Diskussion zu Recht ein Phänomen gegenwärtiger Geschichtskultur erkannte, dessen Dimension weit über den lokalen Rahmen hinausreicht. Beide, auch in der vorliegenden Arbeit in einem komplexen Verhältnis stehenden Sehepunkte, der des standortgebundenen Zeitzeugen und jener des wissenschaftlich arbeitenden Historikers, bilden die Grundlage für die aus einer in Oldenburg angenommenen Habilitationsschrift hervorgegangenen Publikation. Mit dem gewählten Thema, der Fragestellung und mit ihren Ergebnissen geht die anregende Arbeit bei der Erforschung eines wichtigen Segments der deutschen Erinnerungskultur neue Wege.
Auch die Forschung zur Chiffre ‚Flucht und Vertreibung‘ – die
Vorgeschichte, der Verlauf und die Folgen der Zwangsmigration von rund
12,5 Millionen deutschen Reichsbürgern und Angehörigen
deutscher Minderheiten in Ostmitteleuropa während und am Ende des
Zweiten Weltkriegs – verzeichnete in den letzten Jahrzehnten einen
Erinnerungsboom. Das Erinnerungsmedium Denkmal als ein Zugang zur
deutschen Erinnerungskultur zu ‚Flucht und Vertreibung’ geriet dabei so
gut wie nicht in den Blick, obwohl, wie in der Studie nicht zu Unrecht
betont wird, in jüngster Zeit im Bundesgebiet bisher 1584
Vertriebenendenkmäler identifiziert wurden, man also von einer
regelrechten dezentral organisierten Landschaft der
Vertriebenendenkmäler sprechen kann. Die große Ausnahme im
unbeackerten Forschungsfeld bildet die nur in elektronischer Form
verfügbare Dissertation des amerikanischen Historikers Jeffry
Luppes von 2010, „To Our Dead. Local Expellee Monuments and the
Contestation of German Postwar Memory“. Darin werden die
Vertriebenendenkmäler als ein Element des dekontextualisierten,
mit der Erinnerung an den Holocaust verknüpften Narrativs
deutschen Leids interpretiert.
An diese These, die er sich zu eigen macht, knüpft Scholz an und
erweitert sie zeitlich, kontextbezogen und inhaltlich. Er betont
Kontinuitätslinien, die er vom Ende des 19. Jahrhunderts über
das Ende des Ersten Weltkriegs und insbesondere für die
bundesrepublikanische Zeit bis zum Fall des Eisernen Vorhangs und
darüber hinaus zieht. Scholz ist bemüht, die
Vertriebenendenkmäler, die in die deutsche Denkmallandschaft
insgesamt eingebettet werden, nicht nur als eine Sache der
Vertriebenenverbände, sondern als ein gesamtgesellschaftliches
bundesrepublikanisches Phänomen zu deuten. Und er sieht in der
deutschland- und geschichtspolitischen Dimension nur zwei aus einem
ganzen Bündel von Funktionen der Vertriebenendenkmäler. Dabei
werden die Vertriebenendenkmäler in Anlehnung an die Ergebnisse
der erinnerungskulturellen Forschung als „feste Objektivationen“
interpretiert, in denen sich Erinnerung repräsentiert, sichtbar
wird und Teilhabe ermöglicht.
Die Studie ist in neun Kapitel gegliedert. Die ersten drei legen die
forschungsgeschichtlichen, theoretischen und empirischen Grundlagen der
Arbeit offen. Zunächst wird der Forschungsstand skizziert und es
werden die Fragestellung und der theoretische Rahmen erläutert.
Dann werden Denkmäler als Medien kollektiver Erinnerung
vorgestellt, wobei zwischen der Generierung von Bedeutung, die ihren
Ausdruck im Standort, der Form und Symbolik, in den Inschriften und in
der sozialen Praxis findet, und den Funktionen des Erinnerns – Trauer,
Anerkennung und Integration, politische Mobilisierung und historische
Bewusstseinsbildung – unterschieden wird. Schließlich erfolgt
eine detaillierte Bestandsaufnahme der Vertriebenendenkmäler.
Dabei stützt sich der Autor auf eine deutschlandweite, allerdings
deutliche regionale Schwerpunkte aufweisende archivalische
Quellengrundlage und auf die Auswertung der Presse sowie der breit
rezipierten Literatur, auch der in diesem Fall wichtigen
Verbandspublikationen. Diese Bestandsaufnahme ist nach Anzahl und
zeitlicher Konjunktur der Denkmäler, nach der räumlichen
Verteilung in der Bundesrepublik, nach den Standorten, Formen und
Motiven, nach den Inschriften sowie den Akteuren bei der Planung,
Errichtung, Einweihung und den Praktiken des Erinnerns differenziert.
Auf der so geschaffenen breiten theoretischen und empirischen Grundlage
bauen die vier folgenden, umfangreichen Kapitel auf. Sie stellen das
Herz der Studie dar und enthalten, wie alle anderen Kapitel, zahlreiche
Abbildungen von Vertriebenendenkmälern, auch ein Ergebnis der
regen Reisetätigkeit des Autors. Analytischen Gesichtspunkten
folgend steht in diesen Kapiteln getrennt und nochmals fein
aufgegliedert jeweils eine zentrale Erinnerungsfunktion von
Vertriebenendenkmälern im Mittelpunkt, ihre jeweilige Bedeutung
und zeitliche Konjunktur: Vertriebenendenkmälern als Orte der
Trauer, als Orte der Integration, als Orte der Deutschlandlandpolitik
sowie als Orte der Geschichtsdeutung. Diese Kapitel zeichnen sich wie
die gesamte Studie durch das Bemühen um eine klare
Begrifflichkeit, eine präzise Beschreibung sowie eine
differenzierte Argumentation und Analyse aus. Vor diesem Hintergrund
fallen die zahlreichen mit einem Fragzeichen versehenen
Zwischenüberschriften umso mehr auf.
In einem eigenen Kapitel wird anschließend der Geschichte
zentraler, in der Regel vom Bund der Vertriebenen ausgegangenen
Denkmalinitiativen mit nationalem Anspruch nachgegangen. Diese war bis
in die jüngste Zeit eine Geschichte des Scheiterns. Erst mit der
in der Realisierungsphase befindlichen Dauerausstellung der Stiftung
„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in Berlin zeichnet sich eine
neue Entwicklungsphase ab, der der Autor auch mit Blick auf den 2014
eingeführten nationalen Gedenktag an ‚Flucht und Vertreibung’
skeptisch gegenübersteht. Weshalb ein zentrales Kapitel der
jüngeren deutschen Geschichte nicht auch mit Hilfe eines zentralen
Denkmals im deutschen kulturellen Gedächtnis verankert werden
sollte, bleibt allerdings unbeantwortet.
Das abschließende Kapitel fasst die Ergebnisse der Studie
pointiert zusammen. Sie bestätigen zum einen eindrucksvoll die
Befunde der vorliegenden Untersuchungen mit anderem thematischem
Zuschnitt und anderer Fragestellung zu ‚Flucht und Vertreibung’ als
deutschem Erinnerungsort. Lediglich einige seien genannt: Die
Auseinandersetzung mit der deutschen Zwangsmigration war kein Tabu in
der Bundesrepublik, wie nicht zuletzt die große Zahl und die
breite zeitliche Streuung der Vertriebenendenkmäler erkennen
lässt. Diese Auseinandersetzungen waren ein Ergebnis der
Hypotheken, mit der die Bundesrepublik startete – deutsche
Gebietsverluste und Teilung, Kalter Krieg, Westintegration – und sie
waren politisch konnotierten Konjunkturen unterworfen –
parteipolitische Polarisierung, grundsätzliche juristische
Offenheit der deutschen Frage bis 1990 –, die ihren Niederschlag auch
in den Vertriebenendenkmälern fanden. Das zeigt die Grafik
über die Errichtung von Vertriebenendenkmälern im Zeitraum
1945 bis 2013 (S. 43). Den Spitzenwerten bis an die Wende zu den 1960er
Jahren und den hohen Zahlen in dem 1980er Jahrzehnt sowie nochmals um
1995 stehen vergleichsweise geringe Zahlen in den anderen Zeitfenstern
gegenüber. Schließlich fanden auch das stufenweise Ankommen
der Flüchtlinge und Vertriebenen in der Bundesrepublik und, damit
verbunden, deren allmähliches Loslösen von der
Herkunftsregion ihren Niederschlag in den Denkmälern. Eine
Auswertung der Inschriften auf den Vertriebenendenkmälern (Grafik
S. 80) lässt seit den 1950er Jahren eine stetige Verringerung von
Texten erkennen, in denen der Toten gedacht wird. Gleichzeitig nahm die
Zahl der Inschriften kontinuierlich zu, in denen die Aufnahme und
Integration ein Thema sind. Deren Zahl überstieg an der Wende zum
gegenwärtigen Jahrhundert erstmals die Zahl jener Inschriften, in
denen der Toten gedacht wird.
Zum anderen gehen die Ergebnisse der gut lesbaren und nur wenige
Überschneidungen aufweisenden Studie weit über die
Erkenntnisse der bisherigen Forschung hinaus. Das zeigt sich u. a. in
der zentralen These der abwägend argumentierenden und um
Ausgewogenheit bemühten Studie. Scholz verweist zwar auf die Rolle
der Vertriebenendenkmäler als Instrumente der Beheimatung und der
sozialen Befriedung für ein Viertel der bundesdeutschen
Gesellschaft, das die Flüchtlinge und Vertriebenen ausmachten.
Auch unterstreicht er in einem eigenen, tiefgründigen, bis in den
Bereich der Psychologie ausgreifenden ausführlichen Kapitel die
Trauerfunktion, die Vertriebenendenkmälern zukommt, also ihre
Funktion als Orte auch der individuellen Trauer und des Abschiednehmens
von Familienangehörigen, von Nachbarn und Bekannten. Doch, so
Scholz, statt diesen Prozess der Trauer durch die Anerkennung des
endgültigen Verlusts der Heimat zu unterstützen, hätten
die Vertriebenendenkmäler die Akzeptanz des Verlusts als Ergebnis
einer gelungenen Trauer behindert. Anders formuliert: Der Prozess der
Trauer soll durch die Erinnerungspraxis an den Denkmälern, die von
Seiten der Vertriebenenverbände auf ein Offenhalten der deutschen
Frage und die Konstruktion eines gesellschaftlichen Trauerverbots
angelegt waren, eher behindert und verzögert als gefördert
worden sein. Deshalb spricht Scholz von einem „normativen Trauertabu“.
Dieser These kann man, muss man aber nicht folgen, schon gar nicht in
ihrer verallgemeinernden Form. Wie der Autor selbst konzediert, eignen
sich Denkmäler generell nicht für die Darstellung komplexer
Zusammenhänge und damit wohl auch nicht der weitreichenden
Schlüsse, die er zu ziehen geneigt ist. Die Wirkung der
Denkmäler im Prozess der Trauer lässt sich zudem, wie Scholz
hervorhebt, empirisch nicht mehr feststellen. Mangels entsprechender
Quellen konzentriert er sich auf den Diskurs der
Vertriebenenverbände, allen voran jenen des BdV. Damit kann er
aber im Wesentlichen nur Funktionen von Vertriebenendenkmälern
fassen, die diesen von den Vertriebenenverbänden zugeschrieben
wurden, ohne dass daraus generelle Schlüsse zur Trauerfunktion
solcher Denkmäler abgeleitet werden können. Wie sich der
politisierte Erinnerungsdiskurs der Verbände, den die Studie
bezogen auf die Vertriebenendenkmäler überzeugend nachweist,
auf die Trauer der Vertriebenen auswirkte, lässt sich auf die
Grundlage der verwendeten Quellen nicht eruieren.
Ob aber auch allein bezogen auf die Vertriebenenverbände das
postulierte „normative Trauertabu“ bestand, müsste noch genauer
und vergleichend untersucht werden. Dabei bietet sich an, zwischen zwei
Vertriebenengruppen zu unterscheiden, jenen aus dem Reichsgebiet und
der Tschechoslowakei auf der einen Seite und den Vertriebenen aus den
südosteuropäischen Ländern auf der anderen Seite. Bei
diesen stellten sich territoriale und Grenzfragen nicht, wodurch eine
politische Überfrachtung der Trauerarbeit bei den Vertriebenen
nicht gegeben war. Folgt man der These der Studie, dürfte es das
postulierte normative Trauertabu bei letzteren nicht oder jedenfalls
nicht in der angenommenen Ausprägung gegeben haben.
Dessen ungeachtet liegt mit der gewichtigen Studie zweifellos erstmals
sowohl eine geographische als auch inhaltliche Topographie des Mediums
Vertriebenendenkmal vor. Die grundlegende Studie vermisst aber nicht
nur ein wichtiges Segment der deutschen Erinnerungskultur, sondern sie
fordert mit dem erinnerungspolitischen Akzent, den sie setzt, zur
Diskussion zu einem bedeutenden Kapitel deutscher Geschichte auf und
bringt schon deshalb die Forschung voran.
Zum Rezensenten:
Dr. Mathias Beer, Historiker, seit 2007 Geschäftsführer und stellvertretender Leiter des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde (IdGL)Tübingen.
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