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Klaus Mertes


Überlegungen zur Aufarbeitung von Homophobie in der katholischen Kirche


Von „Homophobie“ kann man eigentlich erst sprechen, seit es den Begriff der „Homosexualität“ gibt. Dieser wiederum stammt aus der medizinischen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts und bezeichnet eine dauerhafte gleichgeschlechtliche Orientierung oder auch Veranlagung, worauf auch immer sie zurückzuführen ist. Sexualverhalten von Menschen wird dabei – typisch für neuzeitliches Wissenschaftsverständnis – klaren Kategorien zugeordnet. Eine solche Klassifizierung kennt die neutestamentlich-frühchristliche Tradition nicht, und ebenso wenig die frühjüdische Literatur.

Homophobie bezeichnet nach heutigem Verständnis eine "soziale, gegen Lesben und Schwule gerichtete Aversion bzw. Feindseligkeit. Homophobie wird in den Sozialwissenschaften zusammen mit Phänomenen wie Rassismus, Xenophobie oder Sexismus unter den Begriff 'gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit' gefasst und ist demnach nicht krankhaft abnorm bedingt. [...] Der Begriff Homophobie weist auf Angst als Ursache des ablehnenden Verhaltens [...]. Angst ist ein anerkanntes Erklärungsmodell für das aggressiv-ablehnende Verhalten nicht nur Jugendlicher, sondern auch Erwachsener gegenüber Homosexuellen, und zwar nicht Angst vor diesen Personen, sondern eine tiefsitzende, oft unbewusste Angst vor den eigenen unterdrückten Persönlichkeitsanteilen. Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine phobische Störung im klinisch-psychologischen Sinne.“[1]

Homophobie verstößt also zunächst einmal gegen das Gebot der Nächstenliebe. Der Begriff des oder der „Nächsten“ ist weder im AT noch im NT eingeschränkt auf eine bestimmte Gruppe, Nation oder auf ein bestimmtes Geschlecht. In diesem Zusammenhang werden gerade auch in der frühen Christenheit Abgrenzungen und Unterordnungsverhältnisse aufgehoben, die gesellschaftlich tief verwurzelt sind und die eine hohe ideologische Legitimation sowie eine lange Tradition für sich in Anspruch nehmen können. Für die Kirche gilt die revolutionäre Aussage: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr seid alle eins in Christus.“ (Gal 3,28) Unter den Bedingungen neuzeitlicher Sprachregelungen kann ergänzt werden: „Es gibt nicht mehr … homosexuell oder heterosexuell …“ Dass die Kirche sich nicht aufraffen kann, grundlegende Menschenrechte für homosexuelle Menschen einzuklagen, dass sie es vielmehr zulässt, wenn sogar hohe kirchliche Repräsentanten um Verständnis für kulturelle Traditionen werben, in denen homosexuelle Menschen mit dem Tod bedroht werden, widerspricht dem Evangelium.


1. Homophobie und historisch-kritische Exegese

Homophobie verhindert einen historisch-kritischen Blick auf die einschlägigen Passagen in den biblischen Texten und in thematisch entsprechende Texte der nicht-jüdischen Umwelt von AT und NT – zu ihrer jeweiligen Zeit. Sie korreliert mit einer fundamentalistischen Bibel-Exegese. Es verwundert deswegen nicht, dass sich homophobe und antimoderne Zirkel gegenseitig anziehen. Indem Texte von AT und NT als Aussagen über Homosexualität im neuzeitlichen Sinne des Wortes gelesen werden, werden folgenreiche Missverständnisse produziert und diese durch den Bezug auf die Autorität der Schrift zugleich legitimiert. Dabei ist – für die katholische Kirche – die historisch-kritische Methode im Zweiten Vatikanischen Konzil längst anerkannt. Sie ist auch nicht bloß als eine unter mehreren möglichen Methoden der Schriftinterpretation anerkannt, sondern als diejenige Methode, die geeignet ist, die Aussagen der Schrift mit den Erkenntnissen der Moderne in Beziehung zu setzen. Ohne historisch-kritische Hermeneutik verliert die Kirche ihre Sprachfähigkeit.


Es gibt jedenfalls keinen vernünftigen Grund, die biblischen Texte über „Homosexualität“ einer historisch-kritischen Lektüre zu entziehen. Der Versuch, hier eine Ausnahme zu machen, gehört bereits zur Symptomatik der Homophobie. Mehr noch: Genau hier verbinden sich homophobe Einstellungen mit Impulsen der Verweigerung gegenüber der Moderne, vergleichbar mit dem Widerstand von Kreationisten gegen die Evolutionslehre.


2. Katechismus der katholischen Kirche

Vorurteile, auch homophobe Vorurteile, erkennt man an blinden Flecken und performativen Widersprüchen. Beispiele dafür bietet der Katechismus der katholischen Kirche, der in Nr. 2357-2359 über „Keuschheit und Homosexualität“ handelt. Die Paragraphen sind der vorhergehenden Überschrift „Verstöße gegen die Keuschheit (Nr. 2351-2356) untergeordnet. Diese Zuordnung entspricht einem klassischen homophoben Impuls, nach dem Homosexualität nicht erst dann, wenn sie in „homosexuellen Handlungen“ gelebt wird, ein Verstoß gegen die Keuschheit ist. Die Zuordnung insinuiert, dass bereits die Sehnsüchte und Wünsche von Homosexuellen ebenso wie das Outing Akte der Unkeuschheit sind.[2] Das wirkt sich bis heute in der Alltagserfahrung von homosexuellen Menschen in der Kirche schmerzhaft aus. Anstatt dem Themenbereich „Keuschheit“ zugeordnet zu werden, sollte das Thema Homosexualität unter dem Stichwort „Menschenrechte“ behandelt werden.

Der Katechismus der katholischen Kirche spricht einerseits in Nr.2358 ein Diskriminierungsverbot von Homosexuellen[3] aus. Andererseits wirkt das Diskriminierungsverbot widersprüchlich, seltsam verloren inmitten von diskriminierenden Aussagen über Homosexualität.[4] Allein schon die Formulierung, man möge Homosexuellen mit „Achtung, Mitleid und Takt“ (Nr. 2358) begegnen, ist herablassend und verletzt. Dass Homosexualität ein Kreuz sein soll, welches Homosexuelle „mit dem Kreuzesopfer des Herrn vereinen“ mögen (Nr.2358), vernebelt die eigentlichen Ursachen des Leidens Homosexueller. Nicht die Orientierung ist das Kreuz, sondern die Aversion und Feindlichkeit der Homophobie.

Homophobie bestreitet Homosexuellen sogar die Möglichkeit, mit den Psalmenworten zu beten: „Ich danke dir, dass du mich so wunderbar erschaffen hast.“[5] Sie greift auf eine Kreuzesfrömmigkeit zurück, die ihrerseits übergriffig ist. „Wer mein Jünger sein will, der … nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“ (Mk 8,34) Was aber „mein“ Kreuz im Unterschied zu „deinem“ Kreuz ist, kann nicht von außen her definiert werden, und schon gar nicht von außen für eine ganze Menschengruppe. Entsprechende Übergriffe bis hin zu spiritueller Gewalt haben sehr viele homosexuelle Menschen in der katholischen Kirche erlebt; ein „Kreuz“ wurde ihnen mit frommen Worten von der homophoben Umwelt auferlegt, und damit wurden sie auch noch theologisch-spirituell in die Irre geführt.

Offen diskriminierend wird es, wenn der Katechismus Homosexualität als „schlimme Abirrung“ bezeichnet und dazu als biblischen Beleg auf Gen 19,1-29 verweist. In der Geschichte der Männer von Sodom geht es um sexualisierte Gewalt, nicht um Homosexualität. Die Verwechslung von Homosexualität mit sexualisierter Gewalt lässt Rückschlüsse auf die homophoben Vorurteile der Autoren dieser Passagen zu. Sie kommt aus dem Gefühl der (eingebildeten) Bedrohung. Man muss nicht einmal historisch-kritisch an Gen 19,1-29 herangehen, um die offensichtliche Verwechslung zu erkennen, der die Autoren der Passage unterliegen. Hier zeigt sich ein blinder Fleck.

Im Übrigen verweist der Katechismus auf die einschlägigen Stellen bei Paulus: Röm 1,24-27 und 1 Kor 6,10 (sowie 1 Tim 1,10). Zu diesen und anderen Belegstellen findet seit vielen Jahren eine breite exegetische Debatte statt: Die Verurteilung gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen in Lev 18,22 (deren Terminologie in Teilen von Paulus übernommen wird, allerdings in anderem Kontext) kann auf Reinheitsvorstellungen zurückgeführt werden[6] oder auf die Situation einer unterdrückten Minderheit, die ihre Mitglieder zur Fruchtbarkeit und damit zum Überleben ermutigen wollte.[7] Der aus der griechisch-hellenistischen Tradition stammende Begriff „para physin“ (gegen die Natur) meint in der Regel sexuelle Begegnung, die Fruchtbarkeit ausschließt, auch im Falle des heterosexuellen Koitus. Eine beständige sexuelle Orientierung ist bei Paulus nicht vorausgesetzt; er könnte sonst nicht in 1 Kor 6,10 sagen: Ihr „wart“ (!) früher „Weichlinge (arsenoi – passive Rolle) und Beischläfer von Männlichen (arsenoikoites – aktive Rolle, vgl. Lev 18,22)“. Im Röm 1,24 wird die sexuelle Leidenschaft „para physin“ als Bild für die Verwechslung von Schöpfer und Geschöpf bei den nicht-jüdischen Völkern gebraucht. Thema der Passage ist die Frage nach der Notwendigkeit der Rechtfertigung für alle Völker. Wenn man das Bild ernst nimmt, dann beschreibt Paulus hier Geschlechtsverkehr „para physin“ als einen Vorgang der Verwechslung. Damit ist auch unter dieser Rücksicht „Homosexualität“ im neuzeitlichen Sinne ausgeschlossen.

Man könnte sogar umgekehrt sagen: Paulus lebt selbst para physin, weil er ehelos lebt (vgl. 1 Kor 7). Der eigentlich neue Akzent, den die frühe Christenheit im Umgang mit Sexualität setzte, war die Wertschätzung der Ehelosigkeit bzw. der sexuellen Enthaltsamkeit. Dahinter stand ein Freiheits-Thema: Die menschliche Sexualität steht nicht im Dienst der Weiterlebens der Polis.[8] Die in der griechischen Kultur behauptete und praktizierte Pflicht zur Fruchtbarkeit wurde von den Christen bestritten und führte bei ihnen phasenweise in eine spirituelle Überhöhung der Enthaltsamkeit, gegen die Konzilien den Wert und die Würde der Ehe verteidigen mussten.


3. Männerbündigkeit

Bei allen unterschiedlichen Ansätzen ist es doch der Konsens der historischen Bibelwissenschaft, dass weder AT noch NT das Konzept der „Homosexualität“ im neuzeitlichen Sinne kennen. Ein anderer Befund kommt hinzu, der nicht minder bedeutsam ist: In den antiken Gesellschaften war Sexualität „untrennbar verbunden mit den Macht- und Herrschaftsbeziehungen, die die damaligen Gesellschaften prägten … Freie Männer standen als aktive Sexualpartner auf der einen Seite, Frauen, SklavInnen und Knaben als passive auf der anderen Seite.“[9] Daraus folgt, dass die Unterscheidung von Hetero- oder Homosexualität nicht die Normen setzte, sondern die Differenz zwischen aktiv und passiv, gebend und empfangend, frei und abhängig. Der freie griechische Mann kann Frauen, SklavInnen und Knaben penetrieren, aber keinen freien griechischen Mann. Vor diesem Hintergrund können sogar die paulinischen Aussagen über Homosexualität, vor allem aber Gal 3,28 emanzipatorische Bedeutung für sich beanspruchen. Jedenfalls empfiehlt es sich, Röm 1,24 und 1 Kor 6,10 in Beziehung zu Gal 3,28 zu lesen.

In Platons Symposion erzählt Aristophanes einen Mythos über die Entstehung des Eros: Die Menschen hatten ursprünglich Kugelform, männliche Kugel, weibliche Kugel und androgyne Kugel; die Vollkommenheit der Kugelform verleitete sie zum Hochmut; dafür bestrafte sie Zeus, indem er die Kugeln in zwei Hälften zerschnitt: „Jeder von uns ist also ein Stück von einem Menschen, da wir ja zerschnitten sind, wie die Schollen aus einem zwei geworden sind. Also sucht nun immer jedes sein anderes Stück … Welche Frauen aber Abschnitte einer Frau sind, die kümmern sich nicht viel um die Männer, sondern sind mehr den Frauen zugewendet … Die aber Schnitte eines Mannes sind, suchen das Männliche auf, so lange sie noch Knaben sind lieben sie als Schnittstücke des Mannes die Männer, und bei den Männern zu liegen und sich mit ihnen zu umschlingen ergötzt sie, und dies sind die Trefflichsten unter den Knaben und heranwachsenden Jünglingen, weil sie die männlichsten sind von Natur. Einige nennen sie zwar schamlos, aber mit Unrecht. Denn nicht aus Schamlosigkeit tun sie dies, sondern weil sie mit Mut und Kühnheit und Mannhaftigkeit das Ähnliche lieben. Davon ist ein großer Beweis, dass, wenn sie vollkommen ausgebildet sind, solche Männer vorzüglich für die Angelegenheit des Staates gedeihen. Sind sie aber mannbar geworden, so werden sie Knabenliebe haben; zu Ehe aber und Kinderzeugung haben sie von Natur aus keine Lust, sondern nur durch das Gesetz werden sie dazu genötigt. Ihnen selbst wäre es genug, untereinander zu leben unverehelicht.“[10]

Gottfried Bach[11] unterzieht den platonischen Mythos von der biblischen Schöpfungstheologie her der Kritik, dass bei Platon der Eros Folgewirkung einer Strafe sei und damit negativ bewertet werde; so werde der Eros „beschädigt“. Mir scheint mindestens genauso bedenkenswert, dass Platons Text eine Höherwertigkeit des gleichgeschlechtlich-männlichen Eros gegenüber dem lesbischen Eros und auch gegenüber dem aus der androgynen Kugel kommenden männlich-weiblichen Eros zum Ausdruck bringt. (Hier sehe ich einen Zusammenhang zu dem Anliegen der Frauenbewegung, von der „Homophobie“ eine „Lesben-Phobie“ zu unterscheiden, bei der auch schwule Männer mitmachen und die ihren eigenen Geschmack hat, wenn sie sich mit männerbündiger Selbstgefälligkeit verbindet.) Zur Fruchtbarkeit werden die männerbündig miteinander verbundenen Männer bei Platon per Gesetz verpflichtet. Die Polis bedarf zu ihrem Überleben des Nachwuchses, neue Männer, deren „Trefflichste“ wiederum als Knaben über den gleichgeschlechtlich-genitalen Sex in den Männerbund initiiert werden können. Das impliziert ein bloß utilitaristisches Verständnis von Fruchtbarkeit und ein rein instrumentelles Verhältnis zu Frauen. Eigentlicher Zweck des Männerbundes ist hingegen, die „Angelegenheiten des Staates“ zu betreiben – ein für Männerbünde typisches elitäres Selbstverständnis, welches sich mit einem Machtanspruch verbindet.[12]

Platons Text rührt an zwei Grundfesten christlichen Selbstverständnisses: Zum einen dokumentiert und legitimiert sein Mythos eine männerbündig dominierte Gesellschaftsordnung. Er hat somit eine eindeutig frauenverachtend-gynophobe Seite und widerspricht damit dem Wortlaut und dem Geist von Gal 3,28. Auch Aristoteles sieht das Weibliche „von Natur aus“ als das Passive an, und das Männliche „von Natur aus“ als das Aktive, geht also von einer Über- und Unterordnung des Männlichen und des Weiblichen aus. Dieses Frauenbild hat ebenfalls eine lange, problematische Rezeptionsgeschichte im Christentum.

Zum anderen legitimiert der Text Knabenliebe, also gleichgeschlechtlich-genitale Liebe in asymmetrischen Beziehungen. Heute, nach der Aufdeckung sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche, in Schulen und anderen Einrichtungen, wissen wir besser als vor einigen Jahren, dass hier dem sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen Tür und Tor geöffnet wird. Platonische Motive spielten in den missbräuchlichen pädagogischen Beziehungen von Reformpädagogen eine wichtige Rolle für die Legitimation ihrer Handlungen. Innerhalb der katholischen Kirche gab es den Rückgriff auf die platonische Tradition zwar nicht explizit, zumal die katholische Sexualmoral ja jegliche sexuelle Handlung außerhalb der Ehe zwischen Mann und Frau moralisch verurteilt. Doch in der „Sache“ haben gerade die missbräuchlichen Verhältnisse zwischen Klerikern und Knaben den Geschmack des Männerbündigen. Viele männliche Missbrauchsopfer berichten, dass die Atmosphäre des Elitären ein wichtiger Attraktivitätsfaktor für ihre Beziehung mit dem Täter war, und dass sie mit „gemeinsamer Verantwortung“ für liturgische, verbandliche und andere Veranstaltungen verknüpft war.


4. Homosexualität und sexueller Missbrauch

Seit der Fertigstellung des Untersuchungsberichts über „Vatileaks“, den Papst Benedikt XVI 2012 in Auftrag gab, kursiert in der katholischen Kirche das Wort von den „homosexuellen Netzwerken“ in der Kurie und in der Kirchenleitung. Papst Franziskus griff das Stichwort in einem Gespräch mit den Oberen der Frauen- und Männerorden von Lateinamerika auf und sprach von einer „schwulen Lobby“ im Vatikan. Auf der Rückreise von seinem Besuch beim Weltjugendtag in Rio de Janeiro präzisierte er die Aussage dahingehend, dass an „schwulen Lobbys“ die Lobby problematisch sei, nicht das Schwul-Sein. „Wenn jemand homosexuell ist und Gott sucht und guten Willens ist, wer bin ich, über ihn zu richten?“, fügte er hinzu.[13]

Es ist kein Zufall, dass das Jahr 2010 die Debatte um „schwule Netzwerke“ in und um den Klerus der katholischen Kirche neu entfacht hat. Die Kirchenleitung trägt dafür selbst einen erheblichen Teil der Verantwortung. Noch im selben Frühjahr 2010 schloss Kardinal Bertone mit seinen Thesen über den Zusammenhang von Homosexualität und sexuellem Missbrauch an eine homophobe Argumentationsstrategie an, die in der katholischen Kirchenleitung viele Jahre lang die strategische Antwort auf die Missbrauchsskandale darstellte: „Entfernt die Schwulen aus dem Klerus, dann haben wir keine sexuellen Übergriffe mehr“, oder um es mit den Worten des verstorbenen Fuldaer Erzbischofs zu sagen, der über zwei ihm bekannte Modelle von Austritten aus dem Priestertum bemerkte: „Die einen landen vor dem Standesamt, die anderen vor dem Staatsanwalt.“

Auf dem Kongress „Unterwegs zu Heilung und Erneuerung“ der Gregoriana im Februar 2012 wurde die These vom Zusammenhang zwischen Homosexualität und sexueller Übergriffigkeit durch nüchterne Zahlen widerlegt. Eine Studie der amerikanischen Bischofskonferenz zu Ursachen und Kontexten des sexuellen Missbrauchs durch katholische Priester, die auf dem Kongress zitiert wurde, stellt ausdrücklich fest: Die klinischen Daten unterstützen nicht die Hypothese, dass Priester mit einer homosexuellen Identität eher Kinder sexuell missbrauchen als Priester mit einer heterosexuellen Orientierung.[14] Auch die von Stephen Rosetti[15] im Kontext dargestellten Zahlen sprechen eine klare Sprache: Mehr als 95% aller sexuellen Missbrauchstäter sind Männer. Die Mehrheit der Opfer sexualisierter Gewalt sind Frauen und Mädchen. Die Mehrheit der Missbrauchstäter sind Heterosexuelle. Bei Priestertätern ist die größte Opfergruppe die der postpubertären Jungen.[16]

Die letzte Feststellung lässt nicht den Schluss zu, dass es eine besondere Anfälligkeit von homosexuellen Klerikern für sexualisierte Gewalt gibt. Sie lässt höchstens den Schluss zu, dass es eine signifikant hohe Zahl von homosexuellen Männern im Klerus der katholischen Kirche gibt. Das aber ist keine Neuigkeit. Sie war allerdings bisher noch nicht risikofrei aussprechbar. Als der Augsburger Pastoraltheologe Hanspeter Hainz 1996 zum ersten Mal in der deutschsprachigen Öffentlichkeit die Zahl der homosexuellen Priester in der katholischen Kirche auf 20% schätzte, wurde er wegen Beleidigung des Klerus beschimpft. Heute gehen die Schätzungen viel weiter.

Angenommen, es gäbe tatsächlich eine signifikant hohe Anzahl von Übergriffigkeiten und sexualisierter Gewalt durch homosexuelle Täter im Klerus – im Vergleich zu der Prozentzahl von Übergriffigkeiten und sexualisierter Gewalt in anderen Berufsgruppen –, so wäre auch dies noch kein Nachweis für einen besonderen Zusammenhang von Homosexualität und Missbrauch. Vielmehr würde sich der Schluss nahelegen, dass es eine signifikant große Anzahl von homosexuellen Männern im Klerus gibt, die kein reifes Verhältnis zu ihrer Sexualität haben. Dass es sich wahrscheinlich so verhält, hängt aber wiederum auch mit kirchlichen Strukturen zusammen, die homophoben Zuschnitt haben. Die Kirchenleitung hat in den letzten Jahren mehrfach die Unvereinbarkeit von Homosexualität und Priestertum festgeschrieben, zuletzt noch einmal Papst Benedikt XVI selbst in seinem Interview-Buch „Licht der Welt“: „Homosexualität ist mit dem Priesterberuf nicht vereinbar.“[17] Sexuelle Reife lässt sich aber – auch und gerade im zölibatären Leben – nur dann erreichen, wenn man in der ersten Person Singular über die eigene Sexualität, über die eigenen Träume, Wünsche und Sehnsüchte sprechen kann. Im Falle der homosexuellen Priesteramtskandidaten kann das allein schon deswegen nicht geschehen, weil sie damit ihre Zulassung zur Priesterweihe gefährden. Wir stoßen hier auf eine strukturelle Ursache für mangelnde Möglichkeiten gerade von homosexuellen Klerikern, in ihrer Sexualität zu reifen – übrigens auch mit einer schädlichen Nebenwirkung für heterosexuelle Kleriker und deren psychosexuelle Reifung. Denn zum einen schafft das Schweigegebot für die schwulen Kleriker ein Gerechtigkeitsproblem innerhalb des Klerus, welches wiederum das Schweigen über Sexualität im Klerus generell verstärkt, zum anderen wird es den heterosexuellen Klerikern nicht ermöglicht, die homosexuellen Mitbrüder als solche kennenzulernen und die eigenen Ängste abzubauen, die für sie meist mit der ihnen fremden sexuellen Orientierung verbunden sind.


5. Männerbündigkeit und Klerus

Die Kulturwissenschaft kennt den Begriff der „Homosozialität“. In Männerorden sind nur Männer, in Frauenorden nur Frauen, in Jungenschulen nur Jungen, in Mädchenschulen nur Mädchen, im linken Kirchenschiff sitzen nur Frauen, im rechten Kirchenschiff sitzen nur Männer, und so weiter. Niemand käme auf die Idee, aus dieser Zusammensetzung auf die sexuelle Orientierung der Beteiligten zu schließen. Homosozialität gibt es in verschiedensten Ausprägungen in allen Kulturen und allen Phasen menschlichen Lebens. Zum Zusammenleben der Geschlechter gehört ein ständiges Spiel von Nähe und Distanz, auch in Gruppenkonstellationen.

Homosozialität wird allerdings zum Problem, wenn sie sich mit Macht verbündet, Zugänge zu Machtpositionen verschließt und ausgrenzt. Männer-Homosozialität wird zur Männerbündigkeit, wenn sie sich gegenüber dem anderen Geschlecht verschließt und zum Selbstzweck wird. Homosoziale Gruppen sind anfällig für „Bündigkeit“, wenn sie gerade deswegen besonders attraktiv sind, weil sie homosozial strukturiert sind. Für das Beispiel des Klerus in der katholischen Kirche bedeutet das: Wenn der Priesterberuf seine Attraktivität vornehmlich deswegen hat, weil man dort unter Männern sein kann, dann wird die homosoziale Struktur des Klerus männerbündig verengt.

Mit der Männerbündigkeit entwickelt der Klerus auch eine frauenfeindliche Außenseite. Er strahlt eine gegenüber Frauen exklusive Atmosphäre aus. Das Exklusive macht ihn für die einen attraktiv, für die anderen, insbesondere für die Frauen zum Problem. Homophobie öffnet gegen die eigene Intention eine Tür: Man kann nämlich nicht in homophober Empörung über „schwule Lobbys“ in der Kirche sprechen, ohne die Frauenfrage mit anzusprechen. Das Problem ist – wie von Papst Franziskus gesagt – nicht das „Schwul-sein“ von einzelnen Personen in der Lobby, sondern der Lobby-Charakter der Lobby.

Der Männerbund ist eigentlich nicht „schwul“, sondern homophob. Er beschäftigt sich – das macht ja den Charakter seiner Bündigkeit aus – mit der Zuteilung von Posten und Positionen: „Die Freunde der Freunde des Papstes werden Bischöfe“, schrieb ein Journalist treffend nach dem Scheitern des skandalösen Versuchs der Lobby, in der österreichischen Diözese Linz einen Kleriker als Weihbischof durchzudrücken, der sich unter anderem mit folgendem Kommentar zum Hurrikan Katrina in New Orleans 2005 profiliert hatte: „Der Hurrikan Katrina hat … nicht nur alle Nachtclubs und Bordelle vernichtet, sondern auch all fünf (!) Abtreibungskliniken … Wussten Sie, dass 2 Tage danach die Homo-Verbände im Französischen Viertel eine Parade von 125.000 Homosexuellen geplant hatten? Wie erst so langsam bekannt wird, sind die amoralischen Zustände in dieser Stadt unbeschreiblich … Ist die auffallende Häufung von Naturkatastrophen nur eine Folge der Umweltverschmutzung durch den Menschen, oder doch mehr noch Folge einer geistigen Umweltverschmutzung? Darüber werden wir in Zukunft verstärkt nachdenken müssen.“[18] Am 31.1. 2009 ernannte Papst Benedikt XVI. den Autor dieses Textes, Pfarrer Gerhard Wagner, zum Weihbischof von Linz. Wegen der heftigen Proteste vieler Katholiken einschließlich der großen Mehrheit des Linzer Klerus und der österreichischen Bischofskonferenz ersuchte Wagner am 16.2.2009 den Papst um die Rücknahme seiner Ernennung. So blieb er der Diözese Linz als Weihbischof erspart.

Homophobie spielt im Verwirrspiel der Begriffe „schwul“ und „Lobby“ eine aktive Rolle: Sie lenkt von sich selbst ab. Da Homophobie zumal in Männerbünden nicht nur die eigenen Anteile an Homosexualität leugnet, sondern auch die eigene Lust, das eigene Gefallen an Machtpositionen, ist sie der stärkste Kitt gegen einen internen kritischen Diskurs. Differenzierende Überlegungen zum Thema Homosexualität oder auch zum Thema Macht stehen deswegen unter Verratsverdacht. Denn auch dies ist ein Kennzeichen von Männerbünden: Der Abgrenzung nach außen entspricht eine hohe Loyalitätspflicht nach innen.


6. Das vollmächtige Wort

Ein australisches katholisches Ehepaar erzählte im Plenum der Familiensynode in Rom 2014 von seiner Familienwirklichkeit, zu der auch ein verpartnerter Sohn gehört. Dem Auftritt schloss sich heftige Kritik an. Sie bezog sich weniger auf die Inhalte des Gesagten, als vielmehr darauf, dass es der Synode überhaupt zugemutet wurde, sich die Erzählung anzuhören.

Hier zeigt sich das Gesicht der Homophobie. Sie will den Diskurs nicht. Das ist ihr Problem. Denn der Diskurs ist wie Paste, die man nicht mehr in die Tube zurückgedrückt kriegt. Homophobie erlebt Diskurs als bedrohlich und schlägt zurück, statt zuzuhören und zu argumentieren.

Die Szene aus Rom zeigt aber auch die Macht des persönlichen Wortes: Der Diskurs wird nicht durch das „Sprechen über“ in der dritten Person Singular ausgelöst, sondern durch das Sprechen in der ersten Person Singular (oder Plural). Der wichtigste Beitrag zum Abbau von Homophobie ist also der Diskurs in der ersten Person. Er ist zugleich auch der riskanteste, weil dabei der Opferschutz im Blick bleiben muss. Auch deswegen kann und darf er nicht einfach nur den Betroffenen überlassen werden.

Homophobie wird durch Sprechen in der ersten Person demaskiert. Dieses Sprechen geschieht in der Regel aus einer Not, einer Betroffenheit heraus, keineswegs aus Lust an Exhibitionismus, wie gerne homophob unterstellt wird (siehe Vorwurf der „Unkeuschheit“). Letztlich ist es ja die Gewalt der Homophobie selbst, die das Sprechen der Betroffenen auslöst, welches dann zugleich der Schrecken schlechthin für die Homophobie ist.

Homophobie verstrickt sich in den eigenen Widersprüchen. Sie ist gefährlich, weil sie jederzeit wie ein getriebenes Tier rücksichtslos nach vorne durchbrechen kann, um sich zu retten. Die von Homophobie Getriebenen halten sich für Opfer, obwohl sie Täter sind. Die Aufarbeitung ist so schwer, weil der homophoben Verblendung eine Wahrnehmungsdifferenz zugrunde liegt, die nur durch eine grundlegende metánoia (Mk 1,13) im eigenen Selbstverständnis aufgelöst werden kann. Die Macht, vor der die Homophobie kapituliert, ist die der Wirklichkeit, zur Sprache gebracht in der ersten Person Singular. Das sich aussprechende „Ich“ ist der kleine David, das den mit viel Ressentiment, Ideologie und wortreichen Rationalisierungen gepanzerten Goliath zur Strecke bringt.


Anmerkungen

[1] Art. Homophobie, in: Wíkipedia. Die freie Enzyklopädie, https://de.wikipedia.org/wiki/Homophobie (zuletzt eingesehen am 20. Juni 2016)
[2] Vgl. dazu: Ralf Klein, Ich danke dir, dass du mich so wunderbar gestaltet hast, in: Werksstatt schwule Theologie, Nr.3/2002, S.236ff
[3] Spätestens an dieser Stelle müssten auch Transsexuelle erwähnt und inkludiert werden, für die selbstverständlich dasselbe gilt wie für Homosexuelle.
[4] Offensichtlich spüren auch diejenigen Stimmen, die sich auf der letzten Familiensynode in Rom 2015 für die Streichung des Diskriminierungsverbotes ausgesprochen haben, die Widersprüchlichkeiten in dem Text.
[5] Klein, Ebd.
[6] Dazu: Peter Winzeler, Was sagt die Bibel zur Homosexualität, in: Neue Wege 3/1996, Zürich 1996, S.279ff.
[7] Dazu: Thomas Hieke, Kennt und verurteilt das Alte Testament Homosexualität?, in: Stephan Goertz (Hrsg.), „Wer bin ich zu verurteilen?“, Freiburg 2015, S.19-52
[8] Vgl. dazu Peter Brown, Die Keuschheit der Engel, München 1991
[9] Wolfgang Stegemann, Homosexualität – ein modernes Konzept, in: Zeitschrift für Neues Testament 1 (1998), S. 61-68, hier: S.62
[10] Platon, Symposion, 191e-192b
[11] Der beschädigte Eros – Mann und Frau im Christentum, Freiburg i. Br. 1989
[12] Vgl. Ansgar Wucherpfennig, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript „Neues Testament und Homosexualität“, Juni 2016, Frankfurt/M., Haus am Dom. Ich verdanke diesem Text neue Einsichten.
[13] Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 30. Juli 2013
[14] United States Conference of Catholic Bishops/John Jay College Research Team, The Causes and Context of Sexual Abuse of Minors by Catholic Priests in the United States, 1950-2002, Washington, D.C., May 2011, http://www.usccb.org/issues-and-action/child-and-youth-protection/The-Causes-and-Context-of-Sexual-Abuse-of-Minors-by-Catholic-Priests-in-the-United-States-1950-2010.pdf
[15] Stephen Rosetti, Aus Fehlern lernen - Vortrag auf dem Kongress „Unterwegs zu Heilung und Erneuerung“ in Rom, 7. Februar 2012
[16] Vgl.: Mary Hallay-Witte/Bettina Janssen (Hrsg.), Schweigebruch – vom sexuellen Missbrauch zur institutionellen Prävention, Freiburg 2016
[17] Benedikt XVI, Licht der Welt – ein Gespräch mit Peter Seewald, Freiburg 2010, S. 181
[18] Pfarrbrief St. Jakob, Windischgarten, Nr. 137, November 2005, S.10

Zum Autor:
Klaus Mertes ist ein deutscher Jesuit, Gymnasiallehrer, Autor und Chefredakteur. Seit September 2011 ist er Direktor des Kollegs St. Blasien.

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