Pierre-Frédéric Weber, Timor Teutonorum. Angst vor Deutschland seit 1945: eine europäische Emotion im Wandel, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015, 285 S., EUR 39.90 / CHF 51.90, ISBN: 978-3-506-78101-7
Emotionen haben eine Geschichte. So lautet die Grundvoraussetzung der historischen Emotionsforschung. „Für die Geschichtswissenschaft bedeutet dies, dass historische Phänomene und Gegenstände wie beispielsweise die Mobilisierung und Durchführung von politischen Demonstrationen, die Vermarktung von Konsumgütern, Entscheidungen an der Börse, Strategien gesundheitlicher Aufklärung, Gewalthandlungen wie Amokläufe, koloniale Konflikte aus einer emotionshistorischen Perspektive neu betrachtet werden und bisher unberücksichtigte Erkenntnisse offengelegt werden können.“ – schreiben die Autoren des Internetportals „Geschichte der Gefühle“ auf ihrer Homepage.[1] In diesen neuen Forschungstrend reiht sich die Studie von Pierre-Frédéric Weber ein. Der Verfasser setzte sich zum Ziel, „die europäische Angst vor Deutschland seit 1945 in ihren kollektiven und kulturellen Dimensionen sowie in ihrer Vielfalt zu erfassen“ (S. 10). Somit wird mit der Kategorie der Angst vor Deutschland das Nachkriegskapitel der „Deutschlandfrage“ umschrieben.
Das Buch besteht aus sieben Kapiteln. In den beiden ersten Kapiteln werden die Leitbegriffe „Emotionen“ und „Angst“ sowie der methodische Apparat erläutert, der hauptsächlich auf den Ansätzen des Sozialkonstruktivismus basiert. Die Studie ist im Bereich der historischen Soziologie (S. 28) verortet. Die Kapitel 3 bis 5 entschlüsseln die Angst vor Deutschland aus drei eng aufeinander bezogenen Perspektiven. Mit einer Typologie (3. Kapitel) werden Teilaspekte der Angst vor Deutschland sowie deren Instrumentalisierung in der Öffentlichkeit und Politik nachgezeichnet. Eine Topographie (4. Kapitel) spiegelt die geographische Verteilung der Angst vor Deutschland in Europa und deren transnationale Aspekte wider. Schließlich zeigt ein Zeitregime der Angst (5. Kapitel) deren Wandel zwischen Beständigkeit, Abbau und Reaktivierung. Im 6. Kapitel dreht der Autor die Blickrichtung um und fragt nach Rückwirkungen der Angst vor Deutschland auf Deutschland selbst. Das kurze 7. Kapitel weist zum Abschluss der Studie auf andere Ängste Europas hin: vor Russland und vor Frankreich.
Zwei Vorzüge der Studie gilt es hier hervorzuheben. Zum einen betrachtet der Autor die aus der Forschung bereits bekannten Fakten hinsichtlich der Beziehungen Deutschlands zu seinen beiden größten Nachbarländern Frankreich und Polen aus einer neuen Perspektive, indem er diese unter dem Aspekt der „Angst“ untersucht. Dadurch kann er den (erinnerungs-)kulturellen, (geschichts-)politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen auf den Grund gehen, die bis heute in der europäischen Öffentlichkeit, als antideutsche Vorurteile, Ressentiments oder Anzeichen von Misstrauen anzutreffen sind. Zum anderen verbindet der Autor europäische Erfahrungen mit Deutschland in deren west- und osteuropäischer Prägung miteinander, indem er Frankreich und Polen in den Blick nimmt. Selbst wenn sich damit noch kein vollständiges europäisches Panorama skizzieren lässt (wie der Autor selbst bemerkt, S. 84), leistet er doch einen wichtigen Beitrag zur Überwindung der immer noch währenden Tendenz deutschsprachiger geschichtswissenschaftlicher Studien, die Nachkriegsgeschichte West- und Osteuropas als zwei Parallelabläufe zu betrachten oder auch Untersuchungen der als „europäisch“ bezeichneten Phänomene auf Fallbeispiele aus Westeuropa einzuschränken.
Allerdings wirft die Studie beim Leser kritische Fragen auf, die hier auch genannt werden sollten. Erstens, obwohl das Inhaltsverzeichnis einen schlüssigen und übersichtlichen Eindruck erweckt, finden sich an etlichen Stellen wenig leserfreundliche systematische Brüche. Zudem bildet das Inhaltsverzeichnis nicht alle Gliederungsebenen ab, was die Orientierung im komplexen Stoff erschwert. Hier sei nur auf zwei Beispiele hingewiesen. Das Thema der Versöhnung als einer neuen Norm für die bilateralen Beziehungen wird zwei Mal behandelt – unter Typologie (S. 108-112) und unter Zeitregime (S. 193-199), wobei nur das letztere aus dem Inhaltsverzeichnis ersichtlich ist. Wer wiederum nach räumlichen bzw. geographischen Aspekten der Angst sucht, muss nicht nur im 4. Kapitel über Topographie, sondern auch im Abschnitt „Räumliche Voraussetzungen“ (S. 93-108) im Typologie-Kapitel 3. nachschlagen; dieser Zwischentitel ist im Inhaltsverzeichnis allerdings nicht zu finden. Sicherlich sind gewisse Wiederholungen unvermeidlich, weil das Phänomen Angst auf mehreren sich überschneidenden Ebenen reflektiert wird, doch wenn ein/e Leser/in gezielt nach ausgewählten Aspekten sucht, können ihm/ihr einige wichtige Passagen verborgen bleiben.
Zweitens ist auch die Quellenauswahl ein Kritikpunkt an der Studie. Selbstverständlich stellt die Quellenauswahl im Falle eines so breiten und vielschichtigen Themas eine Herausforderung dar, worauf der Autor selbst hinweist (S. 22, 30-32). Doch gerade deswegen müsste ein Korpus sehr unterschiedlicher Quellen (wie Egodokumente, Gespräche, diplomatische Korrespondenzen, Pressebeiträge, Reden, Erklärungen etc.) ausführlich begründet und auch die folgende grundsätzliche Frage beantwortet werden: Was bedeutet es für eine systematische Analyse der europäischen Angst vor Deutschland, dass die Quellen derart unterschiedlichen Sorten von Dokumenten bzw. Aussagen zugehören? Gerade im Kontext der Typologie der Angst scheint es wichtig, wer der Träger der Angst ist (z.B. die Regierung, ein konkreter Teil der Gesellschaft oder deren prominente Vertreter) oder inwiefern und in welcher Form Angst gesteuert wird (z.B. in den Medien). Diese Fragen lässt die Studie größtenteils unbeantwortet.
Weitere kritische Nachfragen, diesmal aus der Perspektive der Theologie, gelten, drittens, dem Unterkapitel „Universalisierung und politische Religion“ (S. 187-193). In diesem Unterkapitel zeigt der Autor, wie europäische Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg nach einem angemessenen Umgang mit den überwältigenden Schrecken des jüngsten Krieges suchten. Dies sei zum Teil mit einem Rückgriff auf Religion geschehen; nicht zuletzt basiere das Konzept der Menschenrechte auf theologischem Gedankengut, unterlag aber einer Universalisierung als Norm über den religiösen Geltungsbereich hinaus. Diese Argumentation erscheint plausibel, wird in der Fortführung der Begründung allerdings zunehmend problematisch. Der Autor versucht den Zusammenhang zwischen Religion und der Universalisierung von Normen am Beispiel der Erinnerung an den Holocaust zu verdeutlichen. Er betont die Rolle der Massenmedien, v.a. der Fernsehserie „Holocaust“ von 1978, in der „Durchsetzung des Holocaust als größtes Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Weltgeschichte“ (S. 192). In diesem Zusammenhang formuliert er den folgenden Satz: „Dass diese Medialisierung unter führenden Persönlichkeiten der jüdischen Überlebenden für zum Teil heftige Debatten sorgte, bei denen es besonders um die Wahrung der Sakralität und der Einmaligkeit des Völkermordes an den Juden ging, ist ein zusätzlicher Beweis für die stark religiöse Dimension der Erinnerung an den Holocaust.“ (S. 192). Diese Aussage ist fehlerhaft und stellt eine enorme Verkürzung der Problematik dar. Als Beleg für jüdische Debatten um die Medialisierung des Holocaust wird nur ein einziger Artikel von Elie Wiesel angeführt. Die Unterscheidung zwischen der jüdischen und europäischen bzw. nicht-jüdischen Erinnerung ist in der gesamten Passage äußerst unscharf. Es stimmt, dass in der christlichen Theologie und in manchen Strömungen des Judentums eine theologische Reflexion über den Holocaust geführt wird. Es ist aber nie von der „Sakralität“ des Holocaust die Rede. In Teilen des Judentums hält man es hingegen für unmöglich, der Erinnerung an den Holocaust jegliche religiöse Dimension zu verleihen, geschweige denn dessen „Sakralität“ zu wahren. Wie kann denn überhaupt ein in rassistischer Ideologie begründeter industrialisierter Massenmord als sakral gelten? Diese Formulierung ist aus theologischer Sicht inakzeptabel; außerhalb der Theologie muss sie als höchst unglücklich erscheinen. Die Erinnerung an den Holocaust hat in gewissen Ausprägungen durchaus eine religiöse Dimension. Diese besteht aber sicherlich nicht in der Wahrung von dessen „Sakralität“.
Zusammenfassend kann man feststellen, dass es sich bei dem Buch von Pierre-Frédéric Weber um einen neuen, interessanten und wichtigen Zugriff auf die „Deutschlandfrage“ handelt. Gleichwohl ist die Qualität dieser Studie in methodischer und inhaltlicher Hinsicht leider stark schwankend.
[1]https://www.history-of-emotions.mpg.de/de (10.03.2016)Zur Rezensentin:
Dr. Urszula Pękala, geb. 1978, ist Wiss. Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz.
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