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Julien Reitzenstein,  Himmlers Forscher. Wehrwissenschaft und Medizinverbrechen im "Ahnenerbe" der SS. Paderborn: Schöningh Verlag, 2015, 415 Seiten, EUR 44.90 (DE), EUR 46.20 (AT), sfr 57.80,  ISBN 978-3506766571


Das Berlin Document Center, halbwegs idyllisch am Berliner Schlachtensee in dem Gebäude der ehemaligen Reichspost untergebracht, bewahrte bis zum Abzug der Alliierten im Jahr 1994 Unterlagen, die von den US-Anklägern zur Vorbereitung der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse zusammen getragen worden waren. Zu den am schwersten einzuordnenden Quellen in diesem Bestand gehören die Akten eines SS-eigenen Forschungsinstituts, das die Bezeichnung „Deutsches Ahnenerbe“ trug. Die Namensgebung verweist auf den Germanenkult Heinrich Himmlers. Der oberste SS Offizier war 1939 zum Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums ernannt worden und hatte mit der Prägung des Begriffs „gottgläubig“, der Christen  auf den Personenstandsbögen der NS-Zeit neben den Konfessionsbezeichnungen evangelisch und römisch-katholisch als dritte Alternative angeboten wurde, bereits kurz nach der Machtübernahme der NSDAP kulturpolitische Akzente gesetzt. Seine SS verstand er als ein Instrument zur Verbreitung von Bildung und Tugend.

Neben den Altertumswissenschaften, die in den Anfangsjahren den Schwerpunkt der Forschungsförderung des „Ahnenerbes“ bildeten, unterstütze die Organisation auf den ersten Blick vor allem Abseitiges: Exhumierungen im Quedlinburger Dom, die Herausgabe eines Kinderbuchs zu Ehren der Tochter von Reichsmarschall Göring und Ostasien-Expeditionen zur Suche nach einer arischen Ur-Religion.

In seinem Diensttagebuch protokollierte Himmlers Referent Rudolf Brandt die esoterischen Interessen seines Vorgesetzten. Ein Beispiel: Der Gedanke, wissenschaftlich untersuchen zu lassen, ob Schmetterlinge Ozeane überqueren können, sei dem „Reichsführer SS“ anlässlich einer Reise nach Krakau gekommen. Als Forschungsauftrag reichte Brandt die Idee an den Geschäftsführer des „Ahnenerbes“, SS-Standartenführer Wolfram Sievers (1905-1948), weiter.

Grauenerregendes von Belanglosem zu trennen, dabei dennoch die SS-eigene Forschungsförderung in ihren Charakteristika treffend zu beschrieben und ihre Rolle im Gefüge weiterer Organisationen, wie der Notgemeinschaft Deutscher Wissenschaft, der Kaiser Wilhelm Institute, der DFG  und der pharmazeutischen Industrie einzuordnen, ist eine Herausforderung. Denn eins ist sicher: die Organisation förderte insbesondere auf dem Gebiet der Medizin und der Naturwissenschaften renommierte Wissenschaftler, und das steht im Widerspruch zu dem Ruf, der dem „Ahnenerbe“ – und in der Konsequenz der gesamten NS-Medizin – bis weit in die 1990er Jahre von den Geschichtswissenschaften zugeschrieben wurde. Die These, die NS-Medizinverbrechen seien per se unwissenschaftlich gewesen, geriet in der Nachkriegszeit zur Exkulpationsstrategie.

Dabei setzte bei der Erforschung des „Ahnenerbes“ die Heidelberger Dissertation des kanadischen Historikers Michael Kater (1966 bei Werner Conze verfasst) früh Maßstäbe. Der hier rezensierte Band nimmt mehrfach respektvoll Bezug auf diese Leistung, die den  Forschungsstand zum „Ahnenerbe“ bis heute bestimmt. Doch der vom „Ahnenerbe“ initiierten medizinischen Forschung widmete Kater weniger als 30 Seiten. Insbesondere das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung des „Ahnenerbes“, in dessen Organisationseinheit zahlreiche Medizinverbrechen (darunter die in Alexander Mitscherlichs und Fred Mielkes Wissenschaft ohne Menschlichkeit 1949 ikonisch dokumentierten Höhen- und Kälteversuche),  stattfanden, die Gegenstand der Nürnberger Prozesse wurden, ist nicht systematisch untersucht worden. Die nach der Befreiung Straßburgs entdeckten Morde an 86 KZ-Häftlingen zur Anfertigung einer „jüdischen Skelettsammlung“ gehörten zu den ersten Medizinverbrechen des Nationalsozialismus, die – von amerikanischen Ärzten forensisch untersucht – noch 1944 einer breiten internationalen Öffentlichkeit bekannt wurden. Zumindest in Frankreich gehören diese Vorgänge bis heute zum Schulbuchwissen. Die Straße, an der die Straßburger Universitätsklinik liegt, wurde nach Menachem Taffel benannt, dem einzigen Opfer, dessen Name vor 2004 namentlich bekannt war.  Erst 60 Jahre nach Entdeckung der Verbrechen identifizierte der Tübinger Historiker und Journalist Hans-Joachim Lang die Ermordeten und rekonstruierte ihre Lebensgeschichten. Die Ergebnisse seiner Recherche veröffentlichte er vor zehn Jahren in dem herausragenden Buch Die Namen der Nummern.

Nun hat der Historiker Julien Reitzenstein mit einer bemerkenswerten Studie auch den Forschungsstand zum Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung grundlegend verbessert. Seine Düsseldorfer Dissertation stützt sich auf Quellen aus insgesamt 13 Archiven in Deutschland und in den USA. Über viele Seiten hinweg besteht sie aus den Biographien des „Ahnenerbe“-Leiters Wolfram Sievers, des Anatomen August Hirth, des Arztes Sigmund Rascher, des Internisten und späteren Freiburger Professors Kurt Plötner, des mit Himmler verschwägerten Botanikers Philipp von Luetzelburg  und zahlreicher weiterer Verbrecher aus dem Umfeld der medizinisch-wehrwissenschaftlichen Forschungsabteilungen des „Ahnenerbe“.

 Reitzenstein interessiert sich für die Strukturen des Apparats. Er listet jeden der über 80 Mitarbeiter der Institution auf, von der Hausmeisterin über die Sekretärin und die Häftlingsmitarbeiter bis hin zu den wissenschaftlichen Assistenten. Mitunter stakkatohaft werden die Lebensdaten vieler Täter heruntererzählt, hinter jeder Zeile steckt ein enormer Rechercheaufwand. Viele Details finden sich als Subtext in den Fußnoten. Auch hier gilt: in Einzelfällen enthalten die kurz gefassten Anmerkungen genug Informationen, um daraus eigene Aufsätze zu verfassen. Bisweilen reicht Reitzenstein das eingangs geschilderte Dilemma eines von der Flut an Information erschlagenen Archivbenutzers an seine Leser weiter. So werden auch der Fuhrpark (einschließlich aller DKW-Zweitakt-Limousinen und der Namen aller Pferde) und der Standort der Schreibtische der Täter, die Berliner „Ahnenerbe“-Zentrale (auf dem Gelände der heutigen Dienstwohnung Joachim Gaucks) anhand von Bau- und Verwaltungsakten akribisch beschrieben. Die Genauigkeit im Detail ist zugleich eine große Stärke der Arbeit Reitzensteins.

Unter anderem identifiziert er alle Opfer eines von dem Anatomen August Hirth initiierten Kampfgas-Versuchs im Konzentrationslager Natzweiler.  Hirth verfolgte die vage Idee, mit Hilfe von Vitaminen die Wirkungen des Kampfstoffs Lost abschwächen zu können. Begierig nahm „Ahnenerbe“-Leiter Sievers die ursprünglich auf 240 Opfer hin konzipierte Versuchsreihe als „kriegswichtig“  in das Programm seiner Stiftung auf. Versuchspersonen waren ausschließlich deutsche KZ-Häftlinge, die nicht aus politischen Gründen, sondern als wiederholt verurteilte Straftäter in Konzentrationslagern inhaftiert worden waren. Nach den Vorstellungen der SS sollten die unfreiwilligen Versuchspersonen gewöhnlichen Wehrmachtsangehörigen so ähnlich wie möglich sein. Auch ihre Kost wurde daran angepasst. Sie erhielten vor der potentiell tödlichen Exposition mit flüssigem Lost Wehrmachtsrationen. Die von Reitzenstein recherchierten Listen legen den Schluss nahe, dass Hirth und seine Gehilfen streng wissenschaftlich vorgingen, in dem sie Kontrollgruppen bildeten und die Dosis von Kampfgas und Medikation variierten.  Die Liste der Opfernamen füllt wenige Seiten, Hauptgegenstand des Buches bleiben die Täter und die sie verbindende Organisation.


Die Gliederung des Bands orientiert sich über weite Strecken streng an der Organisationsstruktur des Instituts für wehrwissenschaftliche Zweckforschung, dessen einzelne Abteilungen mit den Anfangsbuchstaben der Namen ihrer Leiter benannt wurden. Reitzenstein bemüht sich, die individuelle Schuld einzelner Täter genau zu beurteilen und stellt dabei, unter anderem zu Hirths Verantwortung für die Anlegung der Straßburger Skelettsammlung, eigene Thesen auf. Die „Projektskizze“ zu den Morden sei Hirths Assistenten Bruno Berger zuzuschreiben.

Archivalien werden in diesem Band sehr ausführlich zitiert. Der Eindruck entsteht, nahezu alle vorhandenen Quellen würden zumindest benannt. Das kann als mangelnde Gewichtung ausgelegt werden. Doch wäre bei einer Sortierung manch sprechendes Detail unveröffentlicht geblieben – wie etwa die Tatsache, dass Sievers von sich und von vielen Mitarbeitern des „Ahnenerbes“ Charaktergutachten anhand von Handschrift-Proben erstellen ließ. Nachdem Sigmund Rascher wegen Kindesentführungen und Betrug für die SS untragbar geworden war, stellte eine Graphologin „kriminelle Neigungen“ bei dem Arzt fest, der mit seinen KZ-Versuchen mehr als 150 Menschen in Eiswasser und in der Unterdruckkammer ermordet hatte.  

Zum Rezensenten:
Prof. Dr. med Philipp Osten ist kommissarischer Leiter des Instituts für Geschichte und Ethik in Hamburg und Professor am Zentrum für Psychosoziale Medien im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.



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