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Mihran Dabag/ Kristin Platt, Verlust und Vermächtnis. Überlebende des Genozids an den Armeniern erinnern sich, Ferdinand Schöningh, Paderborn u.a. 2015, Schöningh Verlag, 388 S., 29,90 €, ISBN 978-3-506-78148-2


Im Jahr 2015 jährte sich der Beginn des Völkermordes an den Armeniern zum einhundertsten Mal. Im Zentrum der zu besprechenden Publikation stehen sieben ausführliche Erinnerungsberichte von Überlebenden des Genozides, die zwischen 1989 und 1996 von den beiden Autoren aufgezeichnet worden sind. Publiziert wird eine Auswahl bzw. eine Zusammenfassung von über 140 Interviews, wobei jede Person mehrere Tage lang die Gelegenheit hatte, über die Todesmärsche zu berichten. Es handelte sich wahrscheinlich um die letzten noch lebenden Zeugen, die zur Zeit des Genozides noch Kinder bzw. Jugendliche waren, und einige von ihnen erzählen hier zum ersten Mal über ihre Erlebnisse. Inhaltlich stehen die Themen von Kindheit und Jugend, die Erfahrungen der Deportationen, Massaker und Todesmärsche, das eigene Überleben, der Tod der Angehörigen und das Leben danach im Mittelpunkt. Gelegentlich werden diese Erinnerungen ergänzt durch Reflexionen über den Völkermord, über den Umgang mit Gewalterfahrungen, über die eigene Geschichte und Tradition, über Herkunft und Familie und über Religion. Die Interviews wurden weitgehend ungekürzt aus dem Armenischen ins Deutsche übersetzt. 

Die Lektüre dieser häufig sehr persönlichen Zeugnisse ist sowohl erschütternd als auch ergreifend. Auch wenn die Ereignisse lange zurückliegen, spürt man in den Gesprächen immer noch das tiefe Trauma, und offensichtlich suchten diese Personen nach einer Möglichkeit, endlich einmal von den grauenhaften Erfahrungen berichten zu können. Zugleich spürt man aber auch an vielen Stellen, dass es für die Befragten sehr schwer, manchmal sogar fast unmöglich ist, die grauenhaften Erfahrungen in Worte zu fassen. Ebenso ist das immer noch etwas rätselhafte Phänomen des Überlebenstraumas greifbar, d.h. die vollständig unschuldigen Überlebenden werden von Schuldgefühlen gegenüber denjenigen gequält, die von einer dritten Macht brutal ermordet worden sind. Deutlich wird auch, dass die Leugnung des Geschehens durch die türkische Politik und Geschichtsschreibung den Überlebenden die Möglichkeit genommen hat, ihre persönlichen Erfahrungen in ein allgemein akzeptiertes Narrativ einzubringen. Einige haben sogar jahrelang am „Wert“ ihrer Erinnerungen gezweifelt (S. 22).

Methodisch steht der Band in der besten Tradition der oral history. Das Forschungsinteresse besteht nicht nur darin, einige Quellen zum Völkermord an den Armeniern zu sichern, sondern resultiert auch auf dem sozialpsychologischen Interesse, wie und auf welche Weise die extremen Gewalterfahrungen im Alter erinnert werden. Die Interviews sind sehr sorgfältig vorbereitet worden und sowohl die Befragungen, als auch die Auswertung der jeweiligen Quellen zeugen von einem hochgradigen methodischen Problembewusstsein. Aufgrund der geringen Zahl der interviewten Personen hätte die Anwendung standardisierter Fragebögen keinen Sinn gemacht. Die Interviews wurden deshalb in zwei Schritten durchgeführt, die aufeinander aufbauen. Im ersten Teil hatten die Befragten die Möglichkeit, frei ihre ganz individuellen Erlebnisse weitgehend unstrukturiert zu erzählen. Im zweiten Teil wurde anhand von Leitfragen detailliert nachgefragt. Da die Personen zur Zeit des Genozides noch sehr jung waren, ist eine präzise Rekonstruktion der jeweiligen Ereignisgeschichte kaum möglich, auch wenn sehr häufig bestimmte Orte oder bestimmte Vorgänge, hier besonders Massaker, noch bis ins Detail erinnerlich waren. Auch wenn die individuellen Schicksale nur schwer generalisierbar sind, wird ferner eindeutig klar, wie schwierig das Leben mit der Erinnerung an den Völkermord für die Überlebenden war.

Es handelt sich um ein sehr sorgfältig erarbeitetes Buch, dem eine weite Verbreitung zu wünschen ist. Ergänzt werden die Berichte durch umfangreiches Bild- und Kartenmaterial, durch eine klare Einführung und durch einen umfangreichen Anhang, in dem die jeweiligen Berichte historisiert und in den größeren historischen Kontext eingeordnet werden.


Zum Rezensenten:
Dr. Boris Barth, geb. 1961, ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Konstanz.                                  


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