WŁADYSŁAW BARTOSZEWSKI: Mein Auschwitz. Aus dem Polnischen von Sandra Ewers und Agnieszka Grzybkowska. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2015. 282 S., 29,90 €, ISBN 978-3-506-78119-2
Władysław Bartoszewski war ein polnischer Historiker, Publizist, Schriftsteller und Politiker. Er wurde am 19. Februar 1922 in Warschau geboren und starb dortselbst am 24. April 2015. Nach Kriegsausbruch beteiligte sich der frischgebackene Abiturient als Rotkreuzhelfer (noszowy) bei der Zivilverteidigung seiner Heimatstadt. Im Mai 1940 erhielt er eine Anstellung beim Polnischen Roten Kreuz in der Verwaltung eines Ambulatoriums. Vier Monate später, am 19. September 1940, geriet er im Stadtteil Źoliborz in eine der gefürchteten Straßenrazzien.
Bei diesen riegelten die deutschen Besatzer ein ganzes Stadtviertel ab
und verhafteten wahllos eine bestimmte Anzahl von Menschen, die sich
zufällig auf der Straße oder in den Häusern befanden.
Die Verhafteten kamen in ein Sammellager zur Überprüfung
ihrer Personalien. Wer auf einer Fahndungsliste stand oder sonstwie
„verdächtig“ war, wurde der Gestapo übergeben, die
übrigen zur Zwangsarbeit ins Reich deportiert oder in ein
Konzentrationslager eingewiesen. Letzteres geschah auch mit dem
achtzehnjährigen Bartoszewski, der in der Nacht vom 21. auf den
22. September 1940 im KZ Auschwitz eintraf, wo er die
Häftlingsnummer 4427 erhielt und als noch nicht Volljähriger
(man wurde dies damals erst mit einundzwanzig) in den
„Minderjährigenblock“ eingewiesen wurde.
In seiner Funktionsweise unterschied sich das KZ Auschwitz zu dieser
Zeit nicht wesentlich von den schon länger im Reichsgebiet
bestehenden Konzentrationslagern. Birkenau und andere Außenlager
existierten noch nicht, es gab noch keine Vergasungen und auch noch
keine pseudomedizinischen Experimente, Häftlingen wurde noch nicht
ihre Lagernummer in den linken Unterarm eintätowiert, und es
wurden auch noch keine Häftlinge zur Zwangsarbeit an nahe gelegene
Fabriken „ausgeliehen“. Dies alles, womit der Name „Auschwitz“ in der
öffentlichen Wahrnehmung heute verbunden ist, geschah erst zu
einer Zeit, als Bartoszewski schon nicht mehr dort war.
Auschwitz war offiziell ein Lager der Lagerstufe I für
„weniger belastete und unbedingt besserungsfähige
Schutzhäftlinge“. Es war im Mai 1940 gegründet worden zur
Entlastung der Zivilgefängnisse im besetzten Polen und diente der
Terrorisierung der dortigen Bevölkerung. Ähnlich wie bei den
KZs in den 1930er Jahren, gab es auch in Auschwitz anfangs nicht selten
Entlassungen. Auch Bartoszewski profitierte davon. Zwar mussten sich
die Entlassenen unter Strafandrohung verpflichten, niemandem
gegenüber etwas Negatives über ihren KZ-Aufenthalt verlauten
zu lassen. Dass dies nicht immer eingehalten wurde, war jedoch von der
Gestapo durchaus kalkuliert. Die Gerüchte, die in Polen über
Auschwitz umliefen, waren den Besatzern als Disziplinierungsmittel
keineswegs unwillkommen.
Als weder politisch, noch „rassisch“ Belasteter gehörte
Bartoszewski in Auschwitz zum Lagerdurchschnitt. Als
Minderjähriger konnte er sogar mit einer gewissen Fürsorge
seitens älterer Landsleute rechnen. Dennoch unterschied sich das,
was er selbst in Auschwitz erlebt hat, nicht wesentlich von dem, was
Tausende KZ-Überlebende in ihren Lagermemoiren berichtet haben:
Schikanen und Quälereien durch sadistische SS-Männer und
Kapos auf der Arbeit, im Block und bei den täglichen Appellen,
mangelhafte Ernährung bei schwerer körperlicher Arbeit
(Bartoszewski wurde etwa zum Abdecken des Krematoriums mit Grassoden
oder zum Ausladen und Einlagern von Kartoffeln eingesetzt), desolate
hygienische und sanitäre Verhältnisse, völlig
unzureichende ärztliche Versorgung, und der Tod als täglicher
Begleiter.
Über all dieses berichtet der Autor in der ersten Hälfte des
Buches. Es sind zur Publikation aufbereitete Protokolle von
Gesprächen, die er von November 2009 bis Juni 2010 mit Piotr M.A.
Cywiński, dem Direktor des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau, und
dem Journalisten Marek Zajac, dem Sekretär des Internationalen
Auschwitz-Rates, geführt hat. Bartoszewski geht aber in diesen
Gesprächen über die Beschreibung seiner Lagerzeit hinaus,
indem er versucht zu schildern, wie Auschwitz sein Leben beeinflusst
hat und welche Beziehungen ihn mit diesem Ort nach dessen Befreiung
durch die Rote Armee im Januar 1945 und seiner späteren
Umgestaltung zu einer Gedenkstätte verbunden haben. Es ist ein
wesentlicher und höchst interessanter Teil seiner Biographie, die
zu schreiben jedoch noch Forschungsdesiderat ist.
Bartoszewski hatte das große Glück, nach 199 Tagen, am
8. April 1941, aus Auschwitz entlassen zu werden. Was genau zu
seiner Entlassung geführt hat, ist bis heute nicht bekannt.
Bestechung von Gestapo-Beamten scheint keine Rolle gespielt zu haben;
seine Familie wäre dazu finanziell gar nicht in der Lage gewesen.
Er selbst vermutet, dass er seine Entlassung wohl Bemühungen
seines Arbeitgebers, des Polnischen Roten Kreuzes, zu verdanken habe.
Dem steht jedoch entgegen, dass dessen Leitung damals ganz andere, viel
dringendere Aufgaben zu bewältigen hatte, als sich bei den
Deutschen für die KZ-Entlassung eines kleinen Angestellten auf
einem unbedeutenden Posten einzusetzen. Auch hat sich kein
einschlägiger Hinweis in den Akten des Roten Kreuzes finden
lassen. Warum Bartoszewski aus Auschwitz entlassen wurde, wird man
wegen der gegen Kriegsende erfolgten Vernichtung der Gestapo- und
KZ-Akten vermutlich auch nie erfahren.
Nach seiner Entlassung aus Auschwitz nahm Bartoszewski seine Arbeit in
der Verwaltung des Polnischen Roten Kreuzes wieder auf. In seinen
Gesprächen mit Cywiński und Zajac berichtet er, wie es zu
seinen
Kontakten zur polnischen Widerstandsbewegung in Warschau kam, in der er
schließlich selbst aktiv wurde: im Hilfsrat für die Juden
„Źegota“
und in der Propaganda-Abteilung der Heimatarmee.
Wie fast alle, die die Hölle der nationalsozialistischen Lager überlebten, fühlte Bartoszewski die moralische Verpflichtung, der Nachwelt von seinen Erfahrungen zu berichten, damit die Erinnerung an das Leid der Millionen wach gehalten und die Verantwortlichen eines Tages zur Rechenschaft gezogen würden. Seine Lagererlebnisse, die er Hanka Czaki, einer langjährigen Vertrauten, erzählt hatte, waren die Grundlage für eine Broschüre, die als zweiundzwanzigseitiges Typoskript im April 1942 von der Propagandakommission der Heimatarmee in Warschau vervielfältigt und in Umlauf gebracht wurde: „Oświęcim. Pamiętnik więźnia“ (Auschwitz. Erinnerungen eines Häftlings). Verfasserin war Halina Krahelska, eine Aktivistin der Heimatarmee, der Hanka Czaki von Bartoszewskis Lagererfahrungen berichtet hatte.
„Oświęcim. Pamiętnik więźnia“ eröffnet in deutscher Erstübersetzung den zweiten Teil des Buches: frühe Publikationen über Auschwitz, die im Original kaum zugänglich sind. Sie bieten eine Fundgrube für jeden historisch Interessierten. Schon allein ihretwegen lohnt sich die Lektüre des Buches. Die Auswahl hat Bartoszewski selbst getroffen. Es sind Texte, die ihm persönlich besonders wichtig waren, weil in ihnen das beschrieben wird, was er erlebt hat, was „sein Auschwitz“ war.
Es folgt die deutsche Erstübersetzung von „W piekle“ (In der
Hölle), erstmals publiziert im Juni 1942 in Warschau. Autorin war
Zofia Kossak, eine katholische Schriftstellerin, die sich zu der Zeit
vor der Gestapo versteckt hielt. Bekannt wurde sie vor allem dadurch,
dass sie entscheidend an der Gründung von „Źegota“ beteiligt war.
„W piekle“ hatte einunddreißig eng bedruckte Seiten und handelte
nicht nur von Auschwitz, sondern auch von anderen Konzentrationslagern
im Reich, etwa Dachau, Oranienburg oder Mauthausen. Wie Halina
Krahelska, stützte auch Zofia Kossak ihren Text nicht auf eigene
Lagererfahrungen, sondern auf Augenzeugenberichte von entlassenen
Häftlingen.
Als nächstes findet sich die Erzählung „Apel“ (Der Appell)
von Jerzy Andrzejewski. Sie wurde Ende 1942 geschrieben, aber erst nach
Kriegsende veröffentlicht und kam schon 1968 in deutscher
Übersetzung heraus. Thema ist der mörderische Strafappell,
den Lagerkommandant Höß am 28. Oktober 1940 angeordnet
hatte, weil ein Häftling fehlte. Das ganze Lager musste vom
frühen Nachmittag bis in die späte Nacht hinein in Reih und
Glied im Schneeregen auf dem Appellplatz stehen, bis der Fehlende
gefunden worden war. Nach Ende des Appells wurden 120 Tote und
Sterbende vom Platz getragen. Obwohl Andrzejewski nie KZ-Häftling,
geschweige denn Insasse von Auschwitz war, hat er es meisterhaft
verstanden, das Geschehene so zu beschreiben, als hätte er mit den
Häftlingen damals in einer Reihe auf dem Appellplatz gestanden.
Die dritte Erstübersetzung ins Deutsche ist die der Broschüre
„Za drutami obozu koncentracyjnego w Oświęcimiu“ (Hinter dem
Stacheldraht des Konzentrationslagers Auschwitz), erschienen im
Frühjahr 1945 in Krakau. Ihr Verfasser, ein ehemaliger
Häftling, nennt sich „Pater Augustyn“. Seine Identität ist
nicht bekannt; es handelt sich jedoch höchstwahrscheinlich um
einen Teilnehmer des ersten Transports polnischer Gefangener, der am
14 Juni 1940 im Lager eintraf. Die Broschüre ist vor allem
deswegen interessant, weil sie Pläne vom Stammlager
(Auschwitz I) aus den Jahren 1940 und 1944 sowie von Birkenau etwa
aus dem Jahre 1943 enthält.
„Mein Auschwitz“ schließt mit der Rede, die Bartoszewski am
27. Januar 2005 aus Anlass des sechzigsten Jahrestages der
Befreiung von Auschwitz gehalten hat. Angesichts der Tatsache, dass die
Anzahl derjenigen, die aus eigener Anschauung Zeugnis über
Auschwitz geben können, Jahr für Jahr weniger und in
absehbarer Zeit ganz verschwinden werden, forderte Bartoszewski, dass
„an dem Ort, an dem ein so unfassbares Verbrechen begangen wurde,
Nachdenklichkeit sich in besondere Verantwortung verwandeln muss, in
ein dauerhaftes Erinnern dessen, was geschah.“
„Mein Auschwitz“, auf Polnisch als „Mój Auschwitz“ schon im
August 2010 erschienen, kam erst fast fünf Jahre später in
deutscher Übersetzung heraus, drei Monate vor dem Tode des Autors.
„Mein Auschwitz“ ist Vermächtnis und Mahnung zugleich an
künftige Generationen: „Ich habe berichtet, habe Zeugnis abgelegt.
Die letzten von uns gehen heim. Was bleibt, sind unsere Geschichten.
Ihr tätet gut daran, Schlüsse daraus zu ziehen.“
Zum Rezensenten:
Joachim Neander, geb. 1938, freier Historiker, ehrenamtlicher
Mitarbeiter der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora in Nordhausen und
des Panstwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau in Oświęcim.
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