theologie.geschichte - Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte

Theo Salemink

Katholische Identität und das Bild der jüdischen ‘Anderen’. * Die Bewegung Amici Israel und ihre Aufhebung durch das Heilige Offizium im Jahre 1928

(Vortrag auf der 19.Tagung des Schwerter Arbeitskreises Katholizismusforschung, 11. – 13. November 2005)


Marcel Poorthuis und ich haben im Jahr 2000 die Geschichte der Bewegung Amici Israel (1926-1928) analysiert. Als Quelle haben wir das Archiv von Kardinal van Rossum, dem Leiter der Congregatio de Propaganda Fide, das sich in Nimwegen befindet, das Archiv der Kreuzherren in Maaseik (Belgien) und die persönlichen Nachlässe der drei Begründer dieser Bewegung benutzt: der Jüdin Francisca van Leer, des Franziskanerpaters Laetus Himmelreich und des Kreuzherrn Anton van Asseldonk. Die Resultate haben wir in unserer Biografie über Francisca van Leer und in mehreren Artikeln veröffentlicht.[1]

Die philosemitische Bewegung der Amici Israel verfolgte eine radikale Erneuerung der Liturgie, der katholischen Theologie über das Judentum und eine Überwindung des Antisemitismus und Antizionismus innerhalb der katholischen Kirche. Diese Zielsetzung ging dem Heiligen Offizium unter Leitung von Kardinal Merry del Val zu weit. Das Heilige Offizium verbot 1928 diese Bewegung mit Zustimmung Papst Pius XI. und zwang die Gründer, sich zu unterwerfen. Diese Geschichte ist eine einzigartige und exemplarische Quelle dafür, wie sich die höchste kirchliche Leitung in der Zeit zwischen den Weltkriegen gegenüber den Juden als ‚Anderen‘ abgegrenzt hat und welche Rolle dies bei der Konstruktion einer orthodoxen, ultramontanen katholischen Identität spielte. Juden sind keine ‚Anderen‘ im üblichen Sinne. Sie sind – jedenfalls in christlicher Perspektive – die besonderen ‚Anderen‘, weil sie einerseits Verwandte sind (Wurzel des Christentums, der älteste Bruder) und anderseits Jesus nicht als Messias anerkannt haben, nicht Mitglied der Kirche geworden sind und dennoch bis auf den heutigen Tag weiter als kritisches Gegenüber, als analoge Offenbarungsreligion bestehen.

Der Zufall will, dass der deutsche Kirchenhistoriker Hubert Wolf, übrigens auf der Grundlage unserer Veröffentlichungen, ein paar Jahre später die internen Archive des Heiligen Offiziums einsehen durfte. Er hat die Ergebnisse seiner Analyse in der Historischen Zeitschrift 279 (2004), S. 611-659, veröffentlicht. Uns waren die Archive des Heiligen Offiziums im Jahr 2000 noch nicht zugänglich. So ist es jetzt möglich, sowohl die persönlichen, externen Archive als auch die internen Vatikanischen Archive miteinander zu vergleichen. Wolf verschafft uns einen faszinierenden Einblick in die internen Diskussionen im Vatikan. Er macht deutlich, dass es im Vatikan einen heftigen internen Streit gegeben hat. Doch trägt er, wie ich meine, den theologischen Hintergründen, den zionistischen Sympathien der Bewegung und der gender-spezifischen Rolle einer Frau zu wenig Rechnung. Seine Analyse aus dem Jahr 2004 bestätigt im Übrigen unsere, schon aus dem Jahr 2000 stammende Analyse.


Die Tatsachen der Bewegung Amici Israel

Ausgehend von einer kleinen Gruppe niederländischer Katholiken entwickelte sich seit 1926 eine bemerkenswerte Initiative in Rom, im Zentrum der katholischen Kirche. An ihrem Ursprung stand Sophie van Leer (1892-1953), die aus einer jüdischen, in Amsterdam ansässigen Familie stammte und über Nimwegen nach Luzern emigrierte.[2] Als junge Dichterin kam sie ab 1914 mit der deutschen Avantgarde in Berlin in Kontakt, spielte während der Räterepublik in München (1918-1919) als Anarchistin eine Rolle und entkam nur knapp der Hinrichtung. Vor der geplanten Exekution hatte sie gelobt, Christin zu werden, falls sie am Leben bliebe. Nur zwei Monate später wurde sie von dem niederländischen Franziskaner Laetus Himmelreich (1886-1957) in München getauft und nahm den Namen Francisca an. Ende Oktober 1924 reiste sie nach Rom, wo sie durch Vermittlung von Himmelreich, der inzwischen innerhalb seines Ordens in Rom eine Tätigkeit ausübte, Kardinal van Rossum begegnete, der ihr Geld und Referenzen für eine Reise nach Palästina verschaffte. Im Einverständnis mit van Rossum lebte sie vom 28. November 1924 bis zum 25. Februar 1925 im sozialistischen Kibbuz Beth Alfa. Wie sie dem Kardinal berichtete, wollte sie Juden, insbesondere Zionisten, bekehren – darunter auch ihre zionistische Schwester Clara – und gleichzeitig dem Zionismus ein besseres Image in der katholischen Welt verschaffen. Dazu wollte sie den Zionismus von innen heraus untersuchen. Sie selbst sympathisierte mit dem Zionismus. Als die Zionisten entdeckten, dass sie trotz ihres gegenteiligen Versprechens versuchte, Kibbuzbewohner zu bekehren, wurde Francisca van Leer gezwungen abzureisen. Nach ihrer Ankunft in Venedig schrieb sie am 24. März Kardinal van Rossum einen Brief und versuchte ihn für ihren neuen Plan zu gewinnen, der sie bis zu ihrem Tod im Jahre 1953 nicht mehr loslassen sollte: die Gründung eines Kibbuzes für katholische Juden.

Ende 1925 lernte Francisca van Leer durch Vermittlung von Laetus Himmelreich in Rom den Kreuzherrn Anton van Asseldonk (1892-1973) kennen, der sich ebenfalls aktiv am „Werk für Israel“ beteiligen wollte. Van Asseldonk wurde – mit Unterstützung seines Freundes van Rossum – im Dezember 1920 zum Generalprokurator seines Ordens berufen. Bereits bei der ersten Begegnung erkannten van Asseldonk und van Leer eine gemeinsame Berufung und entwickelten in der Folge eine starke, sehr persönliche, intime Verbindung. Zusammen mit Himmelreich bildeten sie einen kleinen aktiven Stoßtrupp, der sich zum Ziel setzte, innerhalb der katholischen Kirche das Verständnis und die Liebe für die Juden und das Judentum zu vergrößern. Am 24. Februar 1926 gründeten sie die Bewegung „Amici Israel“, ein „Werk“ (Opus), das sich als Priestervereinigung (Opus sacerdotale amicorum Israel) auf das Gebet und die Liebe für die Bekehrung Israels ausrichteten sollte.[3]

Diese neue Bewegung war nicht nur eine Bekehrungsoffensive oder lediglich eine Gebetsvereinigung, sondern stellte zugleich eine Initiative dar, die den katholischen Antisemitismus bekämpfen, die Liturgie verändern und eine reale Unterstützung für die Juden und das Judentum – und sogar für den Zionismus – erreichen wollte. Allerdings führte gerade diese „Radikalisierung“ schließlich zum Untergang der Bewegung.

Doch am Ende des ersten Jahres konnten die Amici Israel nicht weniger als 18 Kardinäle, 200 (Erz-)Bischöfe und an die 2000 Priester zu ihren Mitgliedern zählen.[4] Die Rolle Francisca van Leers war nur Eingeweihten bekannt; später bezeichnete sie sich als „Mutter“ der Bewegung. Am 25. März 1928 – einem Karfreitag – hob das Heilige Offizium die Amici Israel überraschend auf.[5] Kardinal Merry del Val und Papst Pius XI. spielten dabei eine wichtige Rolle. Kurz zuvor hatte die Bewegung bereits die Unterstützung van Rossums verloren.


Warum wurden die Amici Israel aufgehoben?

Weil im Aufhebungsdekret des Heiligen Offiziums vor Antisemitismus gewarnt wird, wird dieses Dokument oft als erster öffentlicher Protest der römisch-katholischen Kirche gegen den modernen Antisemitismus interpretiert.[6] Diese Sichtweise muss revidiert werden. Die Verurteilung des Antisemitismus im  Dokument ist nur aus taktischen, opportunistischen Gründe durch Papst Pius XI. hinzugefügt worden, wie die Analyse Hubert Wolfs zeigt. Im Kern ging es nicht um den Kampf gegen den modernen Antisemitismus, sondern um einen internen kirchlichen Streit um die Frage der Unveränderlichkeit der Liturgie, um orthodoxe Identität, um die Autorität von Papst und Heiligem Offizium, um kirchenpolitische Interessen in Palästina – letzten Endes ging es um den Zionismus.


Karfreitag und das Gebet ‚pro perfide judaeis‘

Wolf meint auf Grund seiner Analyse der internen Quellen des Heiligen Offiziums, dass der Streit um das Gebet ‘Pro perfide judaeis’ in der Karfreitagsliturgie entscheidend war. Auf Grund der persönlichen Nachlässe der drei niederländischen Führungspersönlichkeiten der Bewegung haben auch Marcel Poorthuis und ich bereits im Jahre 2000 deutlich gemacht, dass der Konflikt in erster Linie durch die Bitte der Amici verursacht wurde, das Gebet ‚pro perfide judaeis‘ in der Karfreitagsliturgie zu verändern. Damit wurde eine am 2. Februar 1925 geäußerte Bitte Francisca van Leers aktualisiert. Damals hatte sie in einem persönlichen Brief Kardinal van Rossum darum gebeten, diese Änderung beim Vatikan durchzusetzen. Doch hatte diese Bitte 1925 noch nicht gefruchtet. 1928 gelang es Francisca van Leer, diese Bitte erneut vorzubringen. Die Amici Israel, insbesondere Laetus Himmelreich, verfassten ein Promemoria für die Ritenkongregation. Wolf hat gezeigt, wie diese Bitte innerhalb der Kurie beurteilt wurde. Die Ritenkongregation äußerte sich positiv, doch das Heilige Offizium war gegen eine Veränderung. Kardinalstaatssekretär Merry del Val war prinzipiell gegen diese Änderung. Der Papst war der gleichen Meinung wie Merry del Val. Der Vorschlag, die Karfreitagsliturgie und damit das althergebrachte Bild der Juden als ‚perfide‘, d.h. treulos und verblendet, zu ändern, wurde Wolf zufolge als eine Art Modernismus hingestellt. Merry del Val war zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts der Architekt des integralistischen Kampfes gegen den kirchlichen Modernismus und einer der Inspiratoren der Enzyklika Pascendi von 1907 gewesen. Die Amici Israel wurden Wolf zufolge wegen Interkonfessionalismus und religiösem Indifferentismus, zwei Vorwürfe aus der Enzyklika Pascendi, verurteilt. Damit wird die Bewegung Amici Israel zu einer kirchenpolitischen Bewegung mit modernistischen Sympathien stilisiert. Man kann aber auch sagen: sie wird als eine Art Proto-Aggiornamento gesehen. Bekanntlich hat Papst Johannes XXXIII. das Gebet ‚pro perfide judaeis‘ Ende der fünfziger Jahre geändert.


Krise der Theologie

Es ging jedoch nicht nur, wie Wolf feststellt, um eine Veränderung der Liturgie; meines Erachtens ging es auch um eine Krise der traditionellen Theologie, eine Krise der alten orthodoxen Identität der Kirche. Weil die Kirche sich selbst seit dem ersten Jahrhundert als universelle Kirche mit einer dogmatischen exklusiven Wahrheit verstand, entstand im Laufe der Zeit auch eine bestimmte Theologie des Judentums. Die Kirche sah sich selbst als das neue Israel, als Ersatz der Synagoge. Das religiöse Judentum habe, wie diese Theologie meinte,  keine heilsgeschichtliche Bedeutung mehr, es sei seiner Auserwählung verlustig gegangen. Außerdem wurden die Juden verurteilt, weil sie verblendet seien, Jesus nicht als Messias anerkannten und einen Gottesmord begangen hätten. Juden waren dieser Ansicht nach perfide und deshalb verflucht. Später kamen dazu die Mythen über rituelle Morde, über die Unmoral des Talmuds und den Wucher. Hier ging es um ein religiöses Überlegenheitsgefühl der Kirche gegenüber der Religion, aus der sie abstammte. Die Bitte der Amici Israel implizierte einen Paradigmenwechsel im kirchlichen Selbstbild, weil die neue Vision der Amici ein positives Bild des Judentums voraussetzte und eine, wenn auch noch so rudimentäre Anerkennung des heutigen Judentums als analoge Offenbarungsquelle und als positive Heilsgeschichte. Diese theologische Revolution kam 1928 zu früh. Die Abgrenzung gegenüber den Juden als ‚religiösen Anderen‘ schien in dieser ultramontanen Phase noch immer notwendig. Der Vatikan war noch zu sehr in der antimodernen, orthodoxen  Frontmentalität befangen. Die Erfahrung der Shoah und das Aggiornamento der sechziger Jahre waren nötig, um die theologische Sicht des Judentums zu verändern.


Chiliastische Theologie

Hinzu kam noch eine weitere Sache. Die drei Begründer der Bewegung Amici Israel, vor allem Francisca van Leer, entwickelten eine häretische Theologie: eine chiliastische Theologie über die Endzeit und das tausendjährige Reich. Die aktuelle Rückkehr der Juden nach Palästina, die zionistische Einwanderung kurz nach dem Ersten Weltkrieg, wurde als Zeichen der Endzeit gedeutet. Die messianische Zeit würde in Kürze anbrechen. Darum stellten die Amici Israel sogar die Notwendigkeit der individuellen Judenbekehrung in Frage; es gehe vielmehr um eine Rückkehr des ganzen Volkes nach Palästina! Diese Ablehnung der individuellen Bekehrung sowie die chiliastische Sympathie für den Zionismus – vergleichbar mit dem Chiliasmus auf protestantischer Seite – gingen dem Vatikan zu weit.

Die Intervention des Vatikans zeitigte sofortige Wirkung und die Gruppe um Francisca van Leer wurde marginalisiert. Um sich aus seiner eigenen geistlichen Verwirrung nach dem Drama rund um die Amici Israel zu befreien, fing Laetus Himmelreich Ende 1928 in aller Stille mit einer umfangreichen exegetischen Studie zu Chiliasmus und Zionismus an. Die Arbeit, von der auch eine deutsche Version mit dem Titel Das Reich des Christus-König und die Bedeutung der Juden darin existiert, wurde nie veröffentlicht. Sie befindet sich heute im Nachlass Himmelreichs. Während des 2. Weltkrieges – in den Jahren 1941 und 1944 – verurteilte das Heilige Offizium den katholischen Chiliasmus, wenn auch in gemäßigter Form, erneut, nachdem er in diesen Jahren in Südamerika eine Renaissance erlebt hatte.[7]


Sympathie für den Zionismus

Das vatikanische Verbot zielte, wie Laetus Himmelreich in seinem Nachruf „In memoriam Amici Israel“ festhielt,[8] auf eine Abweisung einer allzu positiven theologischen Sicht des Zionismus. Die pro-zionistische Einstellung war nicht nur theologisch, sondern auch kirchenpolitisch problematisch wegen der Interessen der katholischen Kirche in Palästina und der arabischen Welt. Der Historiker Minerbi nennt in seiner Monographie „The Vatican and Zionism“ vier Argumente für den Antizionismus des Vatikans zu Beginn des 20. Jahrhunderts: 1. Die Zionisten sind nicht religiös und haben deshalb keinen Anspruch auf das Gelobte, Heilige Land; 2. Die zionistische Immigration wird die Christen aus Palästina vertreiben und dessen christlichen Charakter zerstören; 3. Die Schaffung eines jüdischen Staates ist undenkbar; 4. Die durch die Zionisten ausgelöste gesellschaftliche Modernisierung bedroht die traditionellen Werte und Normen in Palästina.[9] Dass hier im Inneren der Kirche, und dann auch noch mit Unterstützung einiger Kardinäle und Bischöfe, Sympathie für den Zionismus geäußert wurde, war eine ‚bridge to far‘. Die Sympathie und die Unterstützung, die die Amici Israel dem Zionismus als politischer Bewegung entgegenbrachten, gingen dem Vatikan mit seiner traditionellen antizionistischen Grundhaltung entschieden zu weit.


Angst vor einer Frau

Wie aus den Archivquellen hervorgeht, insbesondere aus den von Marcel Poorthuis und mir untersuchten persönlichen Nachlässen, scheint eine gewisse Angst vor einer Frau im Vatikan und vor einer intimen Beziehung zwischen Francisca van Leer und Anton van Asseldonk eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt zu haben. Hier wird die traditionelle klerikale, vom Zölibat geprägte Identität der Kirche durch eine autonome Frau herausgefordert, die einerseits eine fromme, bisweilen etwas charismatisch und mystisch angehauchte Gläubige war, eine Konvertitin, und anderseits eine Frau, die eine Avantgarde-Künstlerin, eine Anarchistin, eine Jüdin, eine Zionistin war oder gewesen war. Eine Frau, die der Meinung war, eine besondere, persönliche Berufung als ‚Zwillingsschwester von Jesus‘ zu haben. Schon im Jahr 1920 schrieb sie in ihrem Tagebuch:

„Ich bin die Zwillingsschwester von Jesus. Das wusste ich schon, bevor ich getauft wurde. Seit ich Jesus kenne, ist Er mein Bruder. Kein Wunder, dass Gott sich in mich verliebt hat, denn ich gleiche Seinem Sohn“.

Nicht lange nach dem Anfang der Amici im Jahre 1926 liefen bei  Kardinal van Rossum Beschwerden über diese Frau ein. Sie habe eine intime Beziehung zu dem Priester Anton van Asseldonk. Als van Asseldonk sich 1927 auf einer Reise nach Palästina befand,  ließ van Rossum, damals Kardinalprotektor der Kreuzherren, dessen Büro durchsuchen. Das Ergebnis dieser Durchsuchung war derartig, dass van Rossum dem General der Kreuzherren befahl, van Asseldonk den Umgang mit Francsica van Leer zu untersagen.

Nach dem Verbot der Amici 1928 unterwarf van Asseldonk sich nicht, wie gefordert, dem Papst und dem General der Kreuzherren, sondern ging mit Francisca van Leer heimlich nach Tel Aviv, wo sie gemeinsam in einem Haus lebten. Ob sie auch eine sexuelle Beziehung miteinander hatten, ist anhand der Quellen nicht mit Sicherheit feststellbar, aber ihre Beziehung war mit Sicherheit messianisch, mystisch und erotisch zugleich. [10] Francisca war der Ansicht, dass, wenn sie beide gemeinsam, als Priester und als Jüdin im Heiligen Land, die Eucharistie gemeinsam empfingen, dies das Paradies von Adam und Eva wiederherstellen könne und den Beginn einer messianischen Zeit in Palästina bedeute. Nach einigen Monaten entdeckte Kardinal van Rossum die geheime Zufluchtsstätte in Tel Aviv. Auf Druck des Vatikans, des Patriarchen von Jerusalem und des Generals der Kreuzherren unterwarf sich der Priester schließlich und kehrte nach Holland zurück, während die Jüdin Francisca van Leer nach Deutschland zu Kardinal Faulhaber, den sie duzte, ging. 1935 floh sie vor den Nazis und überlebte den Krieg, weil sie mit einem deutschen Arbeiter verheiratet war.

Die Erneuerung der christlichen theologischen Sicht des Judentums, die Veränderung der Karfreitagsliturgie, die Anerkennung des Zionismus und des Staates Israel und die Diskussionen über den Priesterzölibat in der katholischen Kirche erlebte Francisca van Leer nicht mehr. Sie starb 1953. Sie war ihrer Zeit vierzig Jahre voraus. Niemals kehrte sie nach Palästina zurück, niemals war sie nach der Staatsbildung in Israel, die sie so stark befürwortet hatte.


Jüdische Stimmen

Die Aufhebung der Amici Israel im Jahr 1928 wurde von niederländischen Juden im Wochenblatt  „Nieuw Israelitisch Weekblad“ kommentiert.[11] Man stellte fest, dass sich das vatikanische Dokument nicht klar zu den Gründen äußere, die zur Aufhebung geführt hätten. Das „Weekblad“ vermutete drei mögliche Erklärungen. Erstens: „Es scheint uns, dass der Papst offizielle Kontakte zum Judentum vermeiden wollte, da dies ungewünschte Konsequenzen haben könnte. Zweitens: Amici Israel beschäftigte sich in den zwei Jahren seines Bestehens weniger mit der Bekehrung von Israel, sondern vielmehr mit dem Zionismus an sich. Drittens: In einigen Ländern haben sich die Sektionen der Amici Israel vor allem auf die Hilfe für den Aufbau Israels durch die Juden gerichtet.“


Katholische Stimmen

Die Aufhebung der Amici Israel löste bei den Katholiken, die sich in den Niederlanden mit „Israel“ beschäftigten, eine andere Reaktion als in jüdischen Kreisen aus. Da man befürchtete, mit der verbotenen Bewegung in der Öffentlichkeit identifiziert zu werden, distanzierte man sich ausdrücklich von ihr. In dem Tageblatt „De Maasbode“ erschien eine dreiteilige Artikelserie des Redaktors J.H. Boas, um die ernsten Irrtümer der Amici Israel zu verdeutlichen. [12] Die Amici Israel hätten eine sentimentale und einseitige Verehrung des jüdischen Volkes vertreten, schrieb Boas; zudem sprach er von „unausgewogener Propaganda“ und kritisierte, dass sich die bekehrten Juden innerhalb der Amici Israel nicht demütig und bescheiden, sondern überlegen gefühlt hätten. Andere übernahmen diese Verurteilung.

Vielleicht stand Boas unter Einfluss von Enrico Rossa, damals Direktor der „Civiltà Cattolica“ in Rom. Rossa schrieb kurz nach der Aufhebung der Amici Israel, dass es durchaus die Absicht der Intervention gewesen sei, eine allzu positive Haltung den Juden gegenüber zurückzuweisen.[13] Er fand die „Liebe für die Juden“ übertrieben und warnte vor religiösen und gesellschaftlichen Gefahren von jüdischer Seite. Mit seinen Äußerungen geriet er ins Fahrwasser des politischen Antisemitismus.


Zum Schluss

Die Intervention des Heiligen Offiziums im Jahr 1928 gegen die Bewegung Amici Israel war eine dreifache Abgrenzung gegenüber Juden als ‚Anderen‘  und diente kurz nach dem Ersten Weltkrieg der Konstruktion einer dreifachen katholischen Identität der kirchlichen Leitung.

1. Religiöse Identität
Das Heilige Offizium und der Papst wollten keine Änderung der antijüdischen Liturgie am Karfreitag, weil damit auch die althergebrachte Theologie der Kirche in eine Krise gekommen wäre. Die Lehre, dass die Kirche das Judentum ersetzt und das Judentum als Religion keine aktuelle Bedeutung mehr habe, wurde vehement verteidigt. Diese religiöse Abgrenzung gegenüber dem Judentum als ‚andere Religion‘, als ‚perfide‘ Mutterreligion, diente dazu, die eigene religiöse Überlegenheit zu verteidigen. Hier spielte sicher auch die Angst vor Modernismus und Indifferentismus in der Kirche eine Rolle, eine Fortsetzung des Antimodernismusstreites vom Anfang des Jahrhunderts. Wenn das Judentum eine zweite, analoge Heilsgeschichte wäre, wie teilweise durch Amici Israel und ihre Gründer gedacht und gesagt wurde,  so war damit das dogmatische Wahrheitsprojekt des Ersten Vatikanischen Konzils (1870) bedroht. Erst das Zweite Vatikanische Konzil in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts hat hier eine theologische Revolution durchgeführt und so auch die eigene katholische Identität verändert.

2. Kirchenpolitische Identität
Es handelte sich nicht nur um eine religiöse Überlegenheit, sondern auch um eine kirchenpolitische Identität. Die Amici Israel waren pro-zionistisch eingestellt und damit in den Augen des Heiligen Offiziums eine Gefahr für die Interessen der Kirche in Palästina und für den Frieden im Mittleren Osten. Hinzu kam, dass es im Vatikan eine Fraktion gab, die – wie etwa Kardinal Willem van Rossum – ebenfalls Sympathien für den Zionismus hegte. Van Rossum empfing im April 1922 Chaim Weizman, den Vorsitzenden der internationalen zionistischen Bewegung. Es gab innerhalb des Vatikans einen Streit zwischen diesen Fraktionen und die Amici Israel spielten ungewollt eine Rolle darin.
Hinzu kam, dass die pro-zionistische Einstellung der drei niederländischen Führungspersönlichkeiten der Bewegung in der Wahrnehmung des Vatikans eine ketzerische theologische Dimension hatte. Die drei Gründer verbanden die Rückkehr der Zionisten nach Palästina mit einer chiliastischen Theologie über Endzeit und tausendjähriges Reich und der ‚Rückkehr‘ der Juden als Volk zu Christus Messias. Es ist nicht deutlich, inwieweit den vatikanischen Behörden diese chiliastische Theologie bekannt war.
Die pro-zionistische Einstellung der Amici war eine Gefahr für die kirchenpolitische Identität der ultramontanen Kirche und für den Anspruch der Kirche auf die heiligen Orte in Palästina und für das Image der Kirche in der arabischen Welt. Erst 1993 wurden der Zionismus und der Staat Israel als politische Wirklichkeit anerkannt.

3. Genderspezifische Identität
Schließlich gab es noch einen dritten Konfliktpunkt. Dass eine Frau, eine jüdische Konvertitin mit einer linkspolitischen Vergangenheit, diese neue Bewegung gegründet hatte, und – wie sie sagte – ihre „Mutter“ war, und dass diese Frau zudem eine intime, in jedem Fall aber eine ‚besondere‘ Beziehung zu dem Kreuzherrn und Priester Anton van Asseldonk hatte, war ein Angriff auf die klerikale Identität der Kirche und der Leitung der Kirche in dieser ultramontanen Phase.

Summa Summarum:
Für das Heilige Offizium hatte die Abgrenzung gegenüber den 'jüdischen Anderen', gegenüber dem Judentum als Religion und als politischer Bewegung den Zweck, die traditionelle, ultramontane Identität zu erhalten. Die öffentliche Intervention gegen die Bewegung Amici Israel war als ein Warnsignal für die damaligen Katholiken gedacht.


* Mit Dank an Angela Berlis für ihre Unterstützung.
[1] Marcel Poorthuis, Theo Salemink, Op zoek naar de blauwe ruiter. Sophie van Leer, een leven tussen avant-garde, jodendom en christendom 1892-1953, Nijmegen 2000. Siehe auch: Theo Salemink, Strangers in a Strange Country. Catholic Views of Jews in the Netherlands 1918-1945, in: Chaya Brasz, Yosef Kaplan (Hg.), Dutch Jews as Perceived by Themselves and by Others. Proceedings of the Eight International Symposium on the History of the Jews in the Netherlands, Leiden/Boston/Köln 2001, S. 107-125; Marcel Poorthuis,  Theo Salemink, ‘Katholizismus und Zionismus: Das Beispiel der Niederlande’, in: Catherine Bosshart-Pfluger, Joseph Jung, Franziska Metzger (Hg), Nation und Nationalismus in Europa. Kulturelle Konstruktion von Identitäten, Frauenfeld/Stuttgart/Wien 2002, S. 663-697.
[2] Der biographische Abriss beruht auf: Poorthuis/Salemink, Op zoek naar de blauwe ruiter. Eine kurze englische Beschreibung findet sich in: Salemink, Strangers. Die Informationen über Kardinal van Rossum stammen aus dem “Archief van Rossum“, das sich im „Katholiek Documentatie Centrum“ (KDC) in Nijmegen befindet.
[3] E. Neut OSB, Jésus, Fils de Dieu et Israélite. Les ‘Amis d’Israel’, in: Bulletin des Missions 22 (1926) VIII, S. 81-85 ; C. Hall, Friends of Israel, in: SIDIC, Bd. 1, Nr. 3 (1968), S. 6-11.
[4] Archief Generalaat Kruisheren (AGK) in Maaseik (Belgien), Inv. Nr. 098.3.8: Notizen van Asseldonk 21. Januar 1968; AGK, Inv. Nr. 098.3.4; Bericht „Status Operis“ 1927.
[5] Archief Himmelreich, Inv. Nr. 62: Himmelreich Laetus, In memoriam „Amici Israël“ (1928), in: Archief Nederlandse provincie van de minderbroeders franciscanen te Utrecht, Nederland (AMF); Acta Apostolicae Sedis XX (1928) 103f. Siehe auch: J. Levie, Décret de suppression de l’Association des „Amis d’Israel“, in: Nouvelle Revue Théologique 55 (1928), 532-537.
[6] Georges Passelecq, Bernard Suchecky, The Hidden Encyclical of Pius XI, New York 1997, S. 96-100, S. 158.
[7] Nederlandsche Katholieke Stemmen 41 (1945), 310-312.
[8] Archief Himmelreich, Inv. Nr. 62: Himmelreich Laetus, In memoriam „Amici Israël“ (1928), in: AMF.
[9] S.I. Minerbi, The Vatican and Zionism. Conflict in the Holy Land 1895-1925, New York, Oxford 1990.
[10] Diese Information über die Beziehung zwischen van Leer und van Asseldonk basieren auf: AK, inv. nr. 0011.1.265: Bericht des Gerals der Kreuzherren Hollmann an Kardinal W. van Rossum vom 28 Oktober 1926; AK, inv. nr. 0011.1.12 en 26: Brief von van Asseldonk an General van Dinter vom 2. Dezember 1927 und Brief des Generals an van Asseldonk vom 13. April 1928.
[11] Nieuw Israelitisch Weekblad vom 30. Nissan 5688 (20. April 1928). Der „Joodsche Wachter“ enthielt sich eines Kommentars. Insgesamt gesehen haben sich beide Blätter selten mit der Haltung der katholischen Kirche gegenüber Judentum und Zionismus auseinander gesetzt.
[12] De Maasbode vom 17., 19. und 20. Mai 1928.
[13] Enrico Rossa, Il pericolo guidaico e gli „Amici d’Israele“, in: Civiltà cattolica 1928, II, S. 335-344. Zitiert bei David I. Kertzer, The Popes against the Jews. The Vatican’s Role in the Rise of Modern Antisemitism, New York 2001, S. 269-272.

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