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Bernhard H. F. Taureck, Überwachungsdemokratie. Die NSA als Religion, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2014, 103 S.,  EUR 16.90 / CHF 23.90, ISBN: 978-3-7705-5806-3


In dem bei Wilhelm Fink erschienenen dramatischen und visionären Essay „Überwachungsdemokratie. Die NSA als Religion“ analysiert der Philosoph Bernhard Taureck die durch die NSA-Skandale ausgelöste öffentliche Krise. Im Unterschied zu einer Vielzahl bereits vorliegender Untersuchungen beleuchtet er sie indes nicht durch eine Analyse der Hintergründe oder der aktuellen Lage – wie konnte es soweit kommen, wer ist schuld daran, usw. – als vielmehr durch den provokativen Entwurf verschiedener gesamtgesellschaftlicher Entwicklungsmöglichkeiten, mit der Krise umzugehen. Taureck weist darauf hin, dass diese den Status von „Tendenzaussagen“ hätten. Bei der Ansage einer kommenden NSA-Religion handelt es sich also nicht um eine wesenhafte Zuschreibung religiöser Attribute, sondern um eine „politische Optionsanalyse“ (16). Im Gegensatz zu Utopie und Vision sei hier darum auch mit einer gewissen Unschärfe zu rechnen (55).

Nach der einleitenden Darstellung der aktuellen Krise entwirft Taureck vier mögliche Zukunfts-Szenarien, die sich um seine Interpretation der amerikanischen Declaration of Independence gruppieren. In deren einleitenden Sätzen stellt Taureck einen Perspektivwechsel im Verhältnis der religiösen Begründung und der eingeführten Rechte fest. Die von ihm skizzierten Optionen bieten verschiedene Auflösungsmöglichkeiten der darin vorgefundenen Spannung: 1) Abschaffung der NSA (19-24), 2) Vereinbarkeit von NSA-Überwachung und Grundrechten (25-40); 3) Moderne Theokratie statt der NSA (41-44); sowie schließlich die breit ausgeführte und titelgebende Option 4) NSA-Religion statt moderner Theokratie (45-98).

Die erste Option, „Abschaffung der NSA“, beruft sich darauf, dass Maßnahmen staatlicher Fürsorge in der Unabhängigkeitserklärung auf die Glückseligkeit der Bevölkerung verpflichtet sind und darum ein Recht der Bevölkerung auf Abschaffung von Regierungsorganen eingeräumt wird, wenn sie diesem Ziel widersprechen. Diese Option wird in Anbetracht des Machterhalts politischer Eliten als extrem unwahrscheinlich eingeschätzt.

Die zweite von Taureck entworfene Option besteht darin, eine Vereinbarkeit von NSA-Überwachung und bürgerlichen Grundrechten herzustellen, Freiheit und Sicherheit in ein kompatibles Verhältnis zu bringen, wozu allerdings eine Verfassungsänderung notwendig wäre. Problematisch bleibt, dass „die verfassungsmäßig erfassten Rechtsgüter der persönlichen Freiheit einem Staatsziel nachgeordnet [sind], das weder definitorisch erfasst noch staatsrechtlich fixiert ist, das heißt der – kriegerischen – Abwehr von Terrorismus“ (27). Dadurch bewegt sich die Entwicklung geradezu automatisch „in Zonen eines von Gesetzen entbundenen politischen Entscheidens“ (38). Die NSA in ein System von checks und balances einzuordnen, etwa als 4. Gewalt im Staat oder als Bestandteil der Exekutive, erscheint insofern unmöglich, als ihre Gründungsdokumente geheim und ihr Status darum intransparent bleiben. Letzten Endes kann diese zweite Option, Taureck zufolge, nicht stabilisierbar sein, sie kann lediglich „eine Diskussion als gesellschaftlichen Übergangszustand“ kennzeichnen, „allmählich in einen anderen Zustand übergehen … in welchem die Überwachungen im Namen der Sicherheit vorrangig sind“ (40).

Die dritte, nur sehr rudimentär beschriebene Option beinhaltet die Ersetzung der NSA durch eine Theokratie: „Um den USA eine Herrschaft der NSA zu ersparen, wäre dann eine Gottesherrschaft vorzuziehen. Die NSA könnte weiterhin bestehen, doch sie müsste sich vollständig einer theokratischen Ordnung unterwerfen.“ (43) Taureck beruft sich auf kreationistische Überzeugungen in der US-amerikanischen Bevölkerung, die er – ohne überzeugende Herstellung dieses Zusammenhangs – mit politisch rechten, theokratischen Tendenzen zusammenfasst. Diese Vision bleibt vage, auch da Taureck selbst einräumt, dass hier kein „politisches Ersatzkonzept zur Repräsentativdemokratie, … kein theokratisches Regierungskonzept“ (43f) vorliege. Ihre Undurchführbarkeit folgert er denn auch eher daraus, dass die NSA bereits zu potent sei, um sich einer theokratischen Ordnung zu unterwerfen, wahrscheinlicher sei, dass „Bestrebungen zu einem theokratischen Umbau der USA … seitens der NSA als terroristische Aktivitäten eingestuft, überwacht und ausgeschaltet werden“ (44) würden.

Die Option, die die eigentliche Pointe von Taurecks Essay bildet, ist die vierte: NSA-Religion statt moderner Theokratie. Die hier beschriebene, für Taureck realistischste Tendenz ist die Entstehung einer „apokalyptischen Monitorkratie“, einer „politische[n] Architektur, welche das Erbe von westlicher Metaphysik und Theologie antritt und dabei den Schein von Demokratie bewahrt und Theokratie verhindert“ (45). Taureck skizziert eine demokratisch legitimierte, religiös überhöhte Überwachungsherrschaft, in der die NSA (oder N-U-SA oder U-N-SA) in der Handhabung von Bedrohungsszenarien und dem Versprechen von Geborgenheit öffentliche Akzeptanz für ihre Schutzleistungen sucht und sich erfolgreich als Beschützerin der Demokratie inszenieren kann. Entscheidendes Mittel bleibt dabei eine stets partielle Selbstoffenbarungsstruktur, in der die Grundlagen der NSA zwar geheim bleiben, gesammelte Daten aber auf Antrag zugänglich gemacht werden können – mit der Implikation, dass die betreffenden Antragsteller als Vertrauensverweigerer identifiziert und durch verschärfte Überwachung kontrolliert werden (56).

Als Belege dafür, dass diese letzte Option eine gesamtgesellschaftlich realistische Entwicklung darstellen könnte, verweist Taureck auf fünf Anzeichen für einen bereits im Gange befindlichen Umbau. 1) Die in der US-Verfassung zugrunde gelegte Religionsvorstellung ermöglicht nicht nur Theokratie oder die Dekoration politischer Ziele mit religiösen Vorstellungen, sondern eignet sich, um geradezu jegliches politisch-rationales Entscheiden „als gottgewollt propagierbar“ zu machen (87). 2) Die ständig geäußerten Appelle an das Vertrauen der Bevölkerung im Angesicht der Vertrauenskrise seien logisch und psychologisch widersinnig, gerade im Gottesverhältnis aber am Platz. Nur dort bilde Vertrauen tatsächlich Ersatz für erlebte Wechselseitigkeit und ermögliche starke Bindung auch bei fehlender Rationalität. Die NSA könne ein solches Vertrauen fordern gegen das Versprechen „eines sinnerfüllten Lebens in der Geborgenheit eines übermenschlich gesicherten Friedens“ (88). 3) Im Internet zeige sich Freiheit bereits jetzt gerade nicht als Gegensatz zur Überwachung, sondern als deren Bedingung, das „Objekt der Nachfrage von Überwachung“ (74). 4) Das Rechtssystem der USA sei im Gefolge des Patriot Act zunehmend militarisiert und dadurch der demokratischen Kontrolle entzogen worden. Aber schon das Fehlen von Grundrechtsdefinitionen in der Verfassung bei gleichzeitiger ständiger Berufung auf einen offenen Katalog von Grundrechten ermögliche „ein Staatshandeln, das eigene Tatsachen an die Stelle der Rechte setzt“ (85), ohne das Bevölkerungs-Bewusstsein zu trüben. 5) Schließlich stimme die „Bewusstseinslenkungsindustrie“ (58) der medialen Unterhaltung die Bevölkerung seit langem durch thematische Filme und Serien (sog. „spytainment“), die ein Gefühl von Gerechtigkeit der betreffenden Systeme und Maßnahmen erzeugten, auf Überwachung ein.

Schillernd erscheint der von Taureck so zentral wie thetisch verwendete Religionsbegriff, der wechselnd mit Metaphysik, mit Theologie, mit Ideologie, mit Nicht-Rationalität oder mit politischen Legitimierungsfiguren gleichgesetzt werden kann.

Im Laufe des Essays trägt Taureck eine Vielzahl von Einzelbeobachtungen und Thesen zusammen, die auf ein metaphysisches Gottesbild verweisen, insbesondere auf das klassische Attribut der Allwissenheit. So spricht Taureck vom „metaphysische[n] Exzess“, der darin besteht, „mehr über die Zukunft der Menschen zu wissen, als einst Gott möglich war“ (11). Die gottgleiche Position, die die NSA einnimmt, beruht vor allem auf ihrem Wissensvorsprung, ihrer „informationelle[n] Transzendenz“ (11): „Wer erheblich mehr Wissen über die Menschheit besitzt als diese über sich selbst, der befindet sich bereits in einer übermenschlichen Position gegenüber den Bevölkerungen.“ (45) Wie in klassisch-theistischen Konzeptionen gehen Allwissenheit und Allmacht miteinander einher, das Wissen über die Zukunft wird zur Kontrolle über die Zukunft: „Die USA wollen nicht mehr überrascht werden. Die Zukunft soll ihr Privileg werden, sie soll ihnen gehören.“ (12f) Aus diesen Beobachtungen folgen Zweifel, die an traditionelle Formulierungen der Theodizee-Frage erinnern: Habe die NSA in Bezug auf die politischen Entwicklungen in Ukraine und Irak „(a) jeweils nichts zuvor in Erfahrung gebracht, hat sie (b) alles gewusst und haben die USA nichts verhindern können oder hat sie (c) alles gewusst und haben die USA nichts verhindern wollen?“ (8) Während die einzige Entschuldigung Gottes seine Nicht-Existenz sein könne, stehe der NSA diese Entlastungsmöglichkeit nach der Aufdeckung ihrer Existenz und Macht nicht mehr zur Verfügung.

Viele weitere Beobachtungen und Thesen entstammen dem Bereich anthropologischer Religionskonzepte. So verweist Taureck explizit auf Schleiermacher, wenn er formuliert, für die Vollendung ihres religiösen Status müsse die NSA nur noch ein Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit (er nennt es „Gefühl unbedingter Abhängigkeit“) erzeugen und Vergesellschaftungsformen für dessen Artikulation bereitstellen (46) – beides Aspekte, die er als unschwer erreichbar ansieht.

Andere Beobachtungen „religiöser“ Züge beschreiben vor allem in funktionalistischer Tradition die asymmetrische Beziehung zwischen Staatsvolk und NSA als Regierungsorgan, insbesondere in Bezug auf Transparenz und Vertrauen. So heißt es etwa: „Für sie, die Sicherheitsbehörde, sollen alle transparent sein, während sie selbst vollständig intransparent bleibt.“ (15) Ähnlich wird die nicht-rationale Etablierung von Vertrauen durch das Volk in die NSA als „Ersatz, der vielleicht als Erleben von Sinn trotz fehlender Wechselseitigkeit beschrieben werden kann“ (66) gefasst.

Der Religionsbegriff wird also zum einen verwendet, um eine bestimmte übermenschliche Qualifizierung der NSA, eine gottgleiche Position zu beschreiben, zum anderen, um gewisse sozialpsychologische Effekte zu charakterisieren, und schließlich, um auf ideologische Legitimierungsprozesse politischer Macht als quasi-gottgewollt hinzuweisen. Offen bleibt auch, wer letzten Endes Subjekt dieser Prozesse ist: Handelt es sich um eine bewusst eingesetzte politische Strategie der NSA zu ihrem eigenen Machterhalt? Oder handelt es sich um eine implizite Rationalisierungsstrategie der Bevölkerung zum Umgang mit der vorgefundenen Macht?

So gewinnt man teilweise den Eindruck, der Religionsbegriff diene vor allem dazu, die gezeichnete Vision der Überwachungsdemokratie in etwas reißerischer Manier als ideologisch und totalitär zu kennzeichnen. Dieser Eindruck wird durch Taurecks Schlussplädoyer noch einmal verstärkt, in dem der Komplex Überwachung-Religion dem ebenso monolithisch auftretenden Komplex Aufklärung-Demokratie-Säkularität gegenüber gestellt wird. Das gern geäußerte Argument für durch Überwachung erzielte Transparenz, sie schade ja niemandem, der nichts zu verbergen habe, wird hier gegen die NSA gekehrt: Aufklärung im Sinne Kants wäre dann erreicht, wenn „entdeckt würde, dass ein System der Totalüberwachung weder ein System der Stärke, noch der Stabilität, sondern der Schwäche und Zerbrechlichkeit ist. Wer es für nötig hält, die Erdbevölkerung unter Generalverdacht zu stellen, fühlt sich von allen bedroht. Wer sich von allen bedroht fühlt und daher alle bedroht, bedroht sich am Ende selbst. Wer sich nicht mehr überraschen lassen möchte und daher die Zukunft kassiert, der könnte davon überrascht werden, dass die Zukunft kein Privileg der Observierung, sondern ein Freiheitsraum des Unvorhersehbaren ist.“ (98) Diese Vision mündet in einen Appell für säkulare Demokratie – und gegen ihren pseudo-religiösen Umbau. Taureck weist darauf hin, dass gerade die Demokratie die Staatsform ist, „die am meisten Unvorhersehbares zulässt“ und zugleich die einzige, die ursprünglich nicht religiös begründet sei. Ihre religiöse Überformung wird geradezu mit ihrem „Tod“ gleichgesetzt (98).

In diesem luziden und bewegenden Essay malt Taureck unter Analyse insbesondere politischer Reden und medialer Berichterstattung der letzten Jahre ein ebenso spannendes wie erschreckend realistisches Szenario einer kommenden Monitorkratie. Es ist insofern ein guter Vertreter dystopischer Traditionen, als in die Zukunft projizierte Tendenzen eine Linse zur Betrachtung der Gegenwart bieten, in der sie wachrütteln und Kritik wecken können. Dass hierfür noch keine Lösungsstrategien geboten werden und zudem der Geschwindigkeit und den Pointen teilweise genauere Begriffsklärungen und kleinteiligere Analysen zum Opfer fallen, liegt in der Natur des Genres.

Nicht gegen Taureck, aber über ihn hinaus bleibt schließlich auch zu fragen, ob die Zukunft nicht noch beunruhigender aussehen könnte: Resignation statt Religion, Entpolitisierung statt Überbietung der Demokratie. Statt einer religiösen Überhöhung geheimdienstlicher Aktivitäten begegnet gerade im Zusammenhang immer neuer Enthüllungen über das Ausmaß geheimdienstlicher Überwachungsaktivitäten immer öfter ein resignierter Zynismus wie gegenüber einem altbekannten, blinden, unverhandelbarem Fatum. Ob man auch diese Tendenzen religiös – als „Sich-ergeben in Gottes Vorsehung“ o.ä. – qualifizieren möchte, sei dahingestellt.

Zur Rezensentin:

Dr. Hanna Reichel, geb. 1984, ist Wiss. Mitarbeiterin am Seminar für Dogmatik und Religionsphilosophie der Martin-Luther-Universität Halle.


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