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Wilhelm Damberg / Karl-Joseph Hummel (Hrsg.), Katholizismus in Deutschland. Zeitgeschichte und Gegenwart, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015, 230 S., 29,90 €, ISBN 978-3-506-78078-2


50 Jahre nach der Gründung der „Kommission für Zeitgeschichte“ – damals mit dem Zusatz „bei der Katholischen Akademie in Bayern“ – im September 1962 lud der jetzige Vorstand der Kommission einen großen Kreis von Mitgliedern, Beobachtern und Kritikern der Kommissionsarbeit zu einer Tagung in der Münchener Akademie ein, um „weitere Orientierungen und Standards für die künftige Arbeit“ zu gewinnen (S. 16). Wie hat sich der Gegenstand ihrer Forschungen – die katholische Kirche in Deutschland in ihren gesellschaftlichen und politischen Bezügen – seit der Gründung der Kommission gewandelt? Wie haben sich die Forschungslandschaften der Zeitgeschichte und der Kirchengeschichte verändert? Und was ergibt sich daraus für die künftigen Aufgaben und Schwerpunkte der Kommission? Darauf will der vorliegende Band antworten, der aus dieser Tagung hervorgegangen ist.

Eine Bilanz der bisherigen Forschungen der Kommission für Zeitgeschichte findet sich hier eigentlich nicht. Die Herausgeber weisen nur kurz darauf hin, dass es der Kommission gelungen sei, „auf der Grundlage von Quelleneditionen und kontinuierlicher Einzelforschung einen im internationalen Maßstab wohl einzigartigen Wissensbestand zum Verhältnis der Katholiken zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts aufzubauen“, und dabei eine „wissenschaftliche Pilotfunktion jahrzehntelang behauptet“ worden sei (S. 11, 13). Hans Maier gibt einen sehr knappen Überblick über drei „Phasen der Widerstandsforschung“, in der sich die Kommission in ihren Anfangsjahren stark engagierte, bevor er dann für eine differenzierte Sicht kirchlichen Widerstands plädiert: Widerstand sei nicht denkbar gewesen „ohne den Rückhalt kirchlicher Institutionen, ohne die Integrität von Sphären und Lebensformen, die nicht gleichgeschaltet waren“; er sei aber gleichwohl immer ein Widerstand Einzelner geblieben (S. 45). Olaf Blaschke benennt zweierlei Defizite in der bisherigen Arbeit der Kommission: Erstens nicht nur eine eklatante Vernachlässigung der Genderthematik, sondern auch das Fehlen jeglicher Reflexion über dieses Defizit; und zweitens die Vernachlässigung und Verharmlosung des Zusammenhangs von Religion und „Dehumanisierung“(S. 155) – im Kontrast zur breiten Würdigung religiös motivierten Widerstands.

Statt einer differenzierten Betrachtung von Leistungen und Grenzen der Kommissionsarbeit werden Beiträge zu ihrer Historisierung geboten. Marc Edward Ruff stellt die Gründung der Kommission für Zeitgeschichte in den Kontext der Kämpfe um die Haltung der katholischen Kirche zum Nationalsozialismus, die in der späten Adenauer-Ära ausgetragen wurden. Antonius Liedhegener betont die maßgebliche Rolle der deutschen Katholiken bei der Konsolidierung und Erweiterung der bundesdeutschen Demokratie in dieser Zeit. Dabei unterschätzt er wohl die Stärke der Beharrungskräfte des Milieukatholizismus, die erst im Kontext der 1968er Bewegung stärker in Bedrängnis gerieten. Indirekt wird aus dem Vergleich der beiden Beiträge aber deutlich, dass die Gründung der Kommission im Kontext des Aufbruchs einer katholischen Zivilgesellschaft stand, die sich mit großer Selbstverständlichkeit auf dem Boden des Pluralismus und der demokratischen Ordnung entfaltete. Dass bei ihrer Konstituierung auch noch Traditionen der katholischen „Gegenkultur“ mitschwangen, kommt dabei freilich etwas zu kurz.

Die Betrachtung der Entwicklungslinien des deutschen Katholizismus geht weiter mit Erinnerungen von Franz Xaver Kaufmann an seine Beratertätigkeit für die Gemeinsame Synode der deutschen Bistümer in den frühen 1970er Jahren. Der Aufbruch der frühen 1960er Jahre scheint hier in einen durchaus fruchtbaren Dialog mit den deutschen Bischöfen zu münden, der vom allgemeinen Fortschrittsoptimismus jener Jahre getragen wurde. Dessen Erschütterung infolge der Ölkrise von 1973 und der Erkenntnis der „Grenzen des Wachstums“ und der daraus resultierende Formwandel von Kirche und Glauben ist Gegenstand einer ganzen Reihe von Beiträgen: Thomas Großbölting spricht die fundamentalen „Veränderungen im religiösen Feld“ seit dem Ende der langen wirtschaftlichen Wachstumsphase der Nachkriegszeit an und plädiert dafür, sie in der zukünftigen Katholizismusforschung „vor allem“ in den Blick zu nehmen. Matthias Sellmann beschreibt die katholische Kirche in Deutschland als eine Einrichtung, die nicht mehr selbstverständlich als „hintergrundserfüllende Institution“ (S. 121) wahrgenommen wird, vielmehr als „Organisation“ um Anerkennung und Zustimmung kämpfen muss. Der Weg zur Anerkennung und aktiven Förderung der Pluralität von gelebtem Glauben, die unabweisbar geworden sind, erscheint ihm noch weit und die Zukunft von Kirche und Katholizismus insofern denkbar offen. Frank Bösch skizziert die Rolle der Medien bei den Wandlungsprozessen vornehmlich vor dem Einschnitt von 1973; und Franziska Metzger konstatiert eine „Pluralisierung sakralisierter Sprache und Handlungen“ (S. 110) als Ergebnis des fortdauernden Wandels bis zur Gegenwart.

Was folgt daraus für die Zukunft der Katholizismusforschung? Ferdinand Kramer entfaltet ein breites Panorama künftiger Aufgaben einer „inzwischen pluralisierten zeitgeschichtlichen Katholizismusforschung“ (S. 143). Einerseits betont er die Notwendigkeit der Fortführung etablierter Forschungsfelder: Institutionen, Akteure, Ereignisse als Voraussetzung für weitergehende gesellschafts- oder kulturhistorische Fragestellungen und Beiträge zur öffentlichen Diskussion über die Rolle der Kirchen, die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts mit den beiden Weltkriegen und der totalitären Erfahrung als Erfahrungsraum für das Verhältnis von Religion und Humanität, die Rolle der Kirchen und des Katholizismus in den gesellschaftlichen und politischen Transformationsprozessen der Nachkriegszeit, auch im Systemvergleich über den Eisernen Vorhang hinweg. Andererseits listet er eine Fülle von neuen oder stärker in den Blick zu nehmenden Aufgaben auf: den Wandel von konfessionellen Milieus zu neuen „Beziehungsgefügen“ (S. 147), die Rolle geschlechtsbezogener Leitbilder, die Wirkungsgeschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils und der  katholischen Gesellschafts- und Soziallehren, die Rolle der Kirchen in der zusammenwachsenden Welt, das interreligiöse Zusammenleben, die Beziehungen zwischen Religion, Kirchen und Wirtschaftswelt sowie das Verhältnis der Kirchen zur Wissensgesellschaft. „Kirchen“ werden hierbei jeweils im Plural genannt; und in der Tat ist dies ein konfessionsübergreifendes Programm, das im Anspruch weit über eine Kooperation institutionalisierter katholischer und protestantischer Forschung hinausgeht.

Was nun aber die spezifische Aufgabenstellung der Kommission für Zeitgeschichte in diesem breiten Forschungsfeld sein soll, darüber findet sich in dem Band keine sehr genaue Aussage. Eine erste Diskussion über die Zukunftsaufgaben, die der Kirchenhistoriker Wilhelm Damberg als derzeitiger erster Vorsitzender der Kommission und der Zeithistoriker Michael Kißener als zweiter Vorsitzender zum Abschluss der Münchener Tagung führten und die zum Schluss des Bandes wiedergegeben wird, kommt zu dem Ergebnis, dass im Grunde alles wichtig ist, was Kramer aufführt. Gleichzeitig sind die Ressourcen, über die die Kommission verfügt, sehr beschränkt: zwei hauptamtliche Forscher und eine Sekretariatsstelle, die vom Verband der Diözesen Deutschlands finanziert werden, dazu die Finanzierung der Schriftenreihe und das ehrenamtliche Engagement von etwa 30 Mitgliedern der Kommission. Wie sich die Kommission auf dieser Grundlage „zu einer Art Plattform weiterentwickeln“ soll (Kißener S. 190), bleibt unklar.

Wahrscheinlich kann das auch gar nicht anders sein. Die Fragmentierung und Pluralisierung, von denen in den Beiträgen zur Entwicklung der katholischen Kirche und des Katholizismus in Deutschland so viel die Rede ist, haben offensichtlich auch die Kommission für Zeitgeschichte erfasst. Umso wichtiger wird es sein, dass sich ihre Mitglieder untereinander und mit den deutschen Bischöfen darüber verständigen, was in Zukunft ihr Kerngeschäft ausmachen soll. Ebenso werden sie ihr Verhältnis zu den anderen Einrichtungen zu bedenken haben, die sich mit der Organisation von Forschung auf dem weiten Feld von Religion und Kirchen in der Zeitgeschichte befassen – nicht nur zur Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte, die auf der Münchener Tagung durch ihren Vorsitzenden Harry Oelke vertreten war, sondern auch zu den Initiativen und Verbünden, die kirchlich nicht gebunden sind, von der Schriftenreihe „Konfession und Gesellschaft“ über die universitären Exzellenzcluster und Graduiertenkollegs bis zu dieser Zeitschrift. „Food for thought“ für die künftige Forschungsorganisation bietet der vorliegende Band jedenfalls in reichem Maße.


Zum Rezensenten:

Dr. Dr. h.c. Wilfried Loth, geb. 1948, ist emeritierter Professor für Neuere Geschichte an der Universität Duisburg-Essen und Präsident des deutsch-französischen Historikerkomitees.




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