Lucia Scherzberg
Gott und das Böse. Impulse aus der feministischen Theologie und der Theologie nach Auschwitz
Was können feministische Theologie und Theologie
nach Auschwitz zum Thema »Gott und das Böse«
beitragen? Gerade die feministische Theologie hat sich erst
sehr spät mit der Frage des Bösen auseinander gesetzt, weil
sie in ihren frühen Äußerungen von einem klaren
Bewusstsein geprägt war, auf welcher Seite Täter und Opfer
jeweils zu finden seien. Die neuere feministische Diskussion hat jedoch
diese dualistische Perspektive in Frage gestellt [1] und zu neuen Erkenntnissen geführt,
die für unsere Frage interessant, jedoch keineswegs einheitlich
sind.
Die Theologien nach Auschwitz in ihren verschiedenen Ausprägungen werden deshalb herangezogen, weil es »Erscheinungen des Bösen gibt, in denen es uns mit einer unverhüllten Evidenz entgegentritt, der wir uns nicht entziehen können. Im 20. Jahrhundert steht der Name Auschwitz für diese dunkle Evidenz.« [2]
Der folgende Beitrag ist so aufgebaut, dass der jeweils folgende Impuls den vorhergehenden aufgreift und ihm widerspricht. Damit ist bereits angedeutet, dass es keine wohlfeile Lösung des Problems des Bösen gibt, nur verschiedene Wege, es zu betrachten:
Die brasilianische katholische Theologin Ivone Gebara
spricht von einer Mischung von Gutem und Bösem in der Welt und im
Menschen selbst, letztlich auch in Gott. Gott könne nicht als
allmächtig betrachtet werden. Die womanist theology
US-amerikanischer schwarzer christlicher Frauen betrachtet im
Rückgriff auf schwarze Traditionen Gott als den Herrn der
Geschichte, der zu Gunsten der Unterdrückten eingreift. Der
jüdische Philosoph Hans Jonas nimmt angesichts von
Auschwitz Abschied vom Gott der Geschichte, insbesondere von seiner
Allmacht. Für Emil Fackenheim, ebenfalls jüdischer
Philosoph, ist die Abwesenheit Gottes in Auschwitz ebenfalls die
zentrale Aussage, doch fragt er an, ob der Nationalsozialismus nicht
einen späten Sieg feiern würde, wenn der jüdische
Gottesglaube zerstört wäre. Christliche Theologie nach
Auschwitz spricht entweder, inspiriert durch die Christologie, vom
ohnmächtigen, leidenden Gott (z.B. Heyward, Sölle)
oder
von der Hoffnung auf die Allmacht Gottes bzw. die Anwesenheit Gottes im
Leiden (z.B. Metz, Küng). Gegen die
Post-Holocaust-Theologien jüdischer Männer setzt die
jüdische Theologin Melissa Raphael die Behauptung der
mütterlichen Gegenwart Gottes in Auschwitz, für die die
Mutter-Kind-Beziehung ein Symbol ist. Im letzten Beispiel, einem
musikalischen, nicht theologischen, das von dem italienischen
Komponisten Luigi Nono stammt, wird die Erinnerung an Auschwitz
gerade in der Zerstörung der Mutter-Kind-Beziehung dargestellt.
Die Mischung von Gut und Böse (Ivone Gebara)
Die Beachtung der Geschlechterdifferenz wird für die
brasilianische Theologin zu einem Werkzeug der politische Analyse und
der Veränderung des gesellschaftlichen Verhältnisses zwischen
Männern und Frauen.[3].
Die Gender-Kategorie dient also wissenschaftlichen Zwecken sowie dem
praktischen Versuch, andere soziale Beziehungen zu schaffen. Daher wird
der Gender-Begriff auch wichtig für die Erkenntnis des Bösen.
Er richtet den Blick auf die "Produktion" des Bösen, d.h. auf die
Art und Weise, wie sich das Böse artikuliert und wie es erkannt
werden kann. In der Gender-Perspektive wird der Alltag der Frauen zu
einem wichtigen Ort der Geschichtsschreibung. Größere
ökonomische und kulturelle Zusammenhänge, schlagen sich auf
der konkreten Alltagsebene nieder. Der Alltag ist der Ort, an dem
verschiedene Formen der Unterdrückung und der Produktion des
Bösen zu finden sind. Er ist Ausdruck einer bestimmten Erfahrung
des Bösen.
Zwei Punkte sind nun für Gebaras theologische Reflexion des
Bösen besonders wichtig: das Opfer und die persönliche bzw.
soziale Schuld von Frauen.
Opfer wird nicht im positiven Sinn verstanden, sondern als
(erzwungener) Verzicht, der von anderen zum eigenen Machtgewinn genutzt
wird. Ob von jemandem Opfer verlangt werden, hängt mit der
jeweiligen gesellschaftlichen Rolle und auch der sozialen
Genderkonstruktion zusammen. Gebara relativiert das Opfer Jesu Christi
und die Rechtfertigung menschlicher Opfer durch dieses – nicht das
Opfer gewinne die zentrale Bedeutung, sondern die Werke der
Gerechtigkeit, die gerechten Beziehungen und der Kampf gegen das
Böse. Die Deutung von Jesu Leiden als Opfer für das ewige
Heil habe weitreichende Folgen für die, die auf der sozialen
Leiter ganz unten stünden: es seien diejenigen, die sich am
meisten mit dem Gekreuzigten identifizierten. Gebara mahnt nicht nur
ökonomische, soziale und kulturelle Veränderungen an, sondern
auch theologische: Es müsse ein Gottesbild überwunden werden,
das das Leid zum Preis des Glücks mache und Freude nicht im
Diesseits entdecken könne.
Das existentielle Schuldgefühl, das Gebara bei
vielen Frauen in
ihrer Umgebung feststellt, rühre daher, dass diese den an sie
gerichteten Erwartungen nicht entsprächen. Dieses
Schuldgefühl beruhe nicht auf einer persönlich verübten
bösen Tat oder falle in die persönliche Verantwortung,
sondern hänge mit dem Geschlecht als biologisch-kulturellem
Konstrukt zusammen. Dies werde von Frauen als Böses erfahren: ich
entspreche nicht dem Ideal und fühle mich dadurch von der
Gemeinschaft verurteilt. Es entstehe ein Teufelskreis: Gehorsam
gegenüber den Erwartungen macht unglücklich, Verweigerung des
Gehorsams schuldig. Diese ideologisierte Schuldhaftigkeit müsse
dekonstruiert werden.
Das Opfersein selbst habe keinen moralischen Wert in
sich. Auch die,
die Böses erlitten, könnten Böses tun. Auch dieses
Böse wird von gender geprägt. Gebara ortet das von Frauen
verübte Böse vor allem im häuslichen, privaten Bereich,
das sich aber dort mit dem öffentlichen Bereich vermischt, z.B.
wenn Frauen zu stillschweigenden Komplizinnen häuslicher Gewalt
werden. Denn diese trage dazu bei, die Gewalt in der Gesellschaft
aufrecht zu erhalten.
In Gebaras Sichtweise ist die Erfahrung des Bösen aber zugleich
mit der Suche nach dem Heil verbunden. Menschen und Wirklichkeit gelten
ihr als eine Mischung aus Gut und Böse, Glück und
Verzweiflung, Freude und Leid. Der Ort des Heils ist ebenfalls der
Alltag, die alltägliche Erfahrung. Wenn inmitten der Verzweiflung
Hilfe und Solidarität erfahren würden, sei dies der Beginn
der Heilserfahrung. Schon das gemeinsame Verlangen nach Heil lasse
dieses anfangen. Im selben Körper vermischten sich Kreuz und
Auferstehung.
Die Kreuze im Plural zeigen zumeist schon einen Weg der
Überwindung an. Das Böse wird dadurch bekämpft, dass
jemand anderes anwesend ist, der Nein zu diesem Bösen sagt.. Nicht
das einsame Kreuz, sondern die Gemeinschaft der Menschen unter dem
Kreuz, die Nein zu diesem Kreuz sagen, wird zum Lebenssymbol. Wer sich
um den toten Körper des Gekreuzigten kümmert, vollzieht eine
symbolische Geste, die zum Leben führt. Das bedeutet, dass die
Heilswege ebenso real und gegenwärtig sind wie die Kreuze, wenn
auch nur von kurzer Dauer.
Diese Heilserfahrungen deutet Gebara als
Auferstehungserfahrungen –
das
Heil verwirklicht sich mitten im Leben. Auferstehung werde innerhalb
der Grenzen unseres Daseins erlebt, nicht als ein Ereignis nach dem
individuellen Tod des Körpers. Den Gedanken an ein Jenseits lehnt
Gebara nicht völlig ab, er dürfe aber nicht auf Kosten der
konkreten Geschichtlichkeit gehen. Die Heilserfahrungen im Alltag seien
zerbrechlich – sie versprächen nicht, die Verzweiflung ein
für alle Mal fern zu halten. Jetzt müsse sich das
Heil ereignen und in vielfältiger Form.
Gebara betrachtet auch die Wirklichkeit als ein Gemisch
von Gutem
und
Bösem. Beide hingen gegenseitig voneinander ab. Das eine sei
jeweils die Voraussetzung, um das Andere zu erkennen. Das Böse
gebe es nicht ohne das bedrohte oder zerstörte Gute, und umgekehrt
gebe es das Gute nicht ohne das überwundene Böse. Alle solche
Situationen trügen also etwas Gutes in sich oder brächten
etwas Gutes hervor und sei es nur die Entlarvung des Bösen. Auch
gute Situationen könnten Böses enthalten, weil das Glück
des einen zum Leid des andern werden könne. Es gebe kein wirksames
Mittel, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Die menschliche
Verfasstheit sei ein Gemisch von Anfang an, gut und böse zugleich.
Das Böse habe keinen Ursprung in einem mythischen Ereignis – es
sei immer da, immer da gewesen und auf geheimnisvolle Weise mit dem
Leben vermischt. Ziel ist nicht eine utopische Welt ohne das Böse,
sondern eine Welt des Gleichgewichts, des Respekts vor der Vielfalt und
Differenz.
Diese Sicht des Bösen bleibt nicht ohne Auswirkung
auf das
Gottesbild. Gebara fordert eine plurale Gottesrede und zugleich das
Schweigen vor dem Geheimnis des Lebens, das in uns lebt und uns
übersteigt. Dieses Geheimnis ist für sie
Beziehungswirklichkeit, aber nicht notwendig Person und nicht
allmächtig und vollkommen.
Der geschichtsmächtige Gott und das Böse (womanist
theology)
Gebara selbst spricht davon, dass dieses Gottesbild nicht demjenigen
der Frauen entspricht, deren Erfahrungen von Kreuz und Heil sie
reflektiert. Für diese Frauen gehört Gott zum Elend ihres
Alltags, als armer und entrechteter Gott, der dennoch als mächtig
gedacht wird. Sie hoffen darauf, dass dieser allmächtige Gott zu
ihren Gunsten eingreift. Es ist die Hoffnung, dass die Mächte der
Welt nicht das letzte Wort haben.
Viele befreiungstheologisch inspirierte Ansätze betonen die
Hoffnung auf die Überwindung des Bösen und den Glauben an
Gottes siegreiche Gerechtigkeit. Gott greift in die Geschichte ein
zugunsten der Unterdrückten. Diese Überzeugung findet sich
auch in der Theologie schwarzer Frauen, der womanist theology in den
USA, die schwarze Traditionen wie die schwarze Predigt und die
Spirituals in ihrer Theologie verarbeitet. [4].
Die afroamerikanischen Spirituals werden als eine Form der
Konfrontation mit dem Bösen, des Exorzismus und der
Versöhnung durch das Lied charakterisiert. In ihnen werde das
Überleben schwarzer Sklaven und die Beziehungen
afrikanisch-amerikanischer Menschen zu Gott sichtbar. Die
Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre machte sich viele Spirituals
zu eigen als psychologische und spirituelle Unterstützung im Kampf
gegen den Rassismus.
Spirituals vereinen eine afrikanische religiös-musikalische
Weltsicht mit einer europäisch-protestantischen Tradition der
Bibelauslegung und Hymnologie.
Leitmotiv der meisten Spirituals ist die Sehnsucht nach Freiheit und
Gerechtigkeit, die das Unterworfensein unter die Sklaverei nicht
akzeptiert. Diese Botschaft wird durch Symbole und Metaphern
verschlüsselt. Ein wichtiges Symbol ist der Schleier. Er steht
für die Gespaltenheit der Realität und das daraus entstehende
doppelte Bewusstsein afrikanisch-amerikanischer Menschen - dem
afrikanischen Milieu der Harmonie wird die zerstörerische
Disharmonie von Sklaverei und Rassismus gegenüber gestellt. Das
gespaltene Bewusstsein zeige sich als "Zweiheit" (two-ness) von Denken
und Fühlen und in den sich widersprechenden Zielen von Flucht und
lebensnotwendiger Anpassung.
Verschleierte Realität und doppeltes Bewusstsein spiegeln sich im
Spiritual sprachlich und musikalisch in bestimmten Formen, z.B. im
Nebeneinander von Glaube und Parodie, Satire oder Ironie. Der Humor hat
therapeutische, ja Überlebensfunktion, weil er in der
schmerzvollen Wirklichkeit das Komische und Lächerliche
aufspürt. Er führt zu einem Glauben, der inmitten von
Absurdität und Enttäuschung bestehen kann und die menschliche
Würde aufrichtet und stärkt.
Gleiches gilt für die musikalischen Mittel, so dass Sprache,
Körpersprache und Musik Gefühle und verschlüsselte
Botschaften der Hoffnung übermitteln.
Ein weiteres Symbol der Spirituals ist der Satan. Er versinnbildlicht
die von Gott entfremdete Kultur, das Bild des gemeinschaftlichen Lebens
einer unerlösten Menschheit und das Wissen, dass das Böse in
der Welt nicht humanisiert oder geheilt werden kann. Sklaverei und
Rassismus gelten als eine Form kollektiver Besessenheit, die durch
einen kollektiven Exorzismus bekämpft werden müsse. Die
Spirituals sind ein rituelles Element in diesem Exorzismus, in dem die
Sklaven das Böse bekämpften.
Die implizite Theologie der Spirituals zeigt den Weg zu einer
Auseinandersetzung mit dem Bösen. Die Spirituals enthalten keine
Vertröstung auf das Jenseits, sondern das Bewusstsein des schon
jetzt beginnenden Reich Gottes. Das Jenseits wird zum Ideal für
das Leben hier und jetzt, gleichzeitig aber wird die Spannung zwischen
"Schon" und "Noch nicht" aufrechterhalten. Die Lieder erzählen von
dem Himmel auf Erden vor dem physischen Tod und dem Himmel als
endgültige Heimstatt nach dem Tod. Dieses christliche
eschatologische Leben als Leben im beginnenden Reich Gottes bedeutete
den Sieg über die Sklaverei.
Der Gott der Spirituals ist ein starker Gott. Sie feiern einen
allmächtigen Gott, kämpfen für Freiheit und halten an
der menschlichen Verantwortlichkeit und Wahlfreiheit für
persönliches und institutionalisiertes Böses fest. Die Opfer
brauchen die Sicherheit eines endgültigen Sieges über das
Böse, aber der Befreiung durch Gott muss die menschliche
Verwirklichung der Gerechtigkeit folgen. Gott und Mensch handeln
gemeinsam. Das Leiden Unschuldiger wird nicht durch eine spekulative
Theodizee rationalisiert. Gott fordert das Gute und Sklaverei und
Rassismus verstoßen dagegen - allerdings fragen die Spirituals
an, ob Gott wirklich für die Leidenden sorgt.
Viele Spirituals erinnern an die heilende,
erlösende Macht Jesu
im
Mahl der Eucharistie. Das gemeinsame Mahl der Versöhnung wird zu
einem messianischen Motiv, das Exodus und Kreuz verbindet und zu vollem
Person-Sein in Christus wandelt. Nicht der Tod besiegt das Leben,
sondern das Leben den Tod.
Afrikanisch-amerikanische Frauen heute werden durch die Spirituals zu
einem Leben des Glaubens und des Humors im oben genannten Sinne
herausgefordert. Wer und wie Gott ist, darüber besteht kein
Zweifel: Gott ist personal, mächtig, mitleidend und befreiend,
vereint männliche und weibliche Eigenschaften und trägt
Fürsorge für jede und jeden einzelnen.
Gott ist nicht mehr Herr der Geschichte (Hans Jonas)
Diesem Bild des allmächtigen Gottes, der in die Geschichte
eingreift, treten jüdische Stimmen über das Gottesbild nach
Auschwitz gegenüber. Es handelt sich um ein Nachdenken über
das Gottesbild nach Auschwitz in zeitlichem Abstand zur Shoah selbst.
Der Philosoph Hans Jonas hielt 1984 einen Vortrag an der
Evangelisch-Theologischen Fakultät in Tübingen
anlässlich der Verleihung des Leopold-Lucas-Preises. Rabbi Leopold
Lucas starb in Theresienstadt, seine Frau wurde nach Auschwitz
verschickt und dort ermordet ebenso wie Jonas' eigene Mutter. Deshalb
wählte Jonas nach seinen eigenen Worten das Thema "mit Furcht und
Zittern", aber er fühlte sich verpflichtet, den Ermordeten eine
Antwort "auf ihren längst verhallten Schrei zu einem stummen Gott"
[5] nicht vorzuenthalten.
Keine der traditionellen jüdischen Erklärung für das
Leiden greife mehr bei dem Geschehen, das den Namen Auschwitz
trägt: nicht Untreue oder Unglaube, nicht Schuld und Strafe, nicht
Prüfung durch Gott, nicht Zeugnis und Erlösungshoffnung.
Nicht um des Glaubens willen wurden die Juden gemordet. Und dennoch
"war es das alte Volk des Bundes, an den fast keiner der Beteiligten,
Töter und selbst Opfer mehr glaubte, aber eben gerade dieses und
kein anderes, das unter der Fiktion der Rasse zu dieser
Gesamtvernichtung ausersehen war: die grässlichste Umkehrung der
Erwählung in den Fluch, der jeder Sinngebung spottete. Also
besteht doch ein Zusammenhang – perversester Art – mit den Gottsuchern
und Propheten von einst, deren Nachfahren so aus der Zerstreuung
ausgelesen und in die Vereinigung des gemeinsamen Todes versammelt
wurden. Und Gott ließ es geschehen. Was für ein Gott konnte
es geschehen lassen?" [6]
Die Juden befänden sich in einer viel schwierigeren theologischen
Lage als die Christen. Denn diese erwarteten das Heil vom Jenseits, und
die Welt sei eher ein Gegenstand des Misstrauens – für jene aber
gelte die Welt als Ort der göttlichen Schöpfung und
Erlösung. Gott ist der Herr der Geschichte – aber dieser Begriff
werde durch Auschwitz gänzlich in Frage gestellt. In diesem Sinne
ist Auschwitz in der jüdischen Geschichtserfahrung etwas, das mit
den alten Kategorien nicht mehr zu bewältigen werden konnte. Der
Herr der Geschichte bleibt dabei auf der Strecke. &Also: Was
für ein Gott konnte es geschehen lassen?" [7]
Jonas entfaltet nun einen "selbsterdachten" Mythos: Gott hat sich
absolut entäußert, er ist in allem anwesend, im Menschen als
Transzendenz. Er hat sich seiner Gottheit entkleidet und sich selbst in
den Entwicklungsgang der Welt gestellt. Dieser bleibt nicht ohne
Einfluss auf seine Gottheit, die dadurch verändert und auch
entstellt werden kann. In diesem Sinne ist Gott ein werdender und ein
leidender Gott, nicht überzeitlich und nicht leidensunfähig.
Dies darf allerdings nicht mit christologischen Deutungen verwechselt
werden. Weiterhin ist er ein sich sorgender Gott, der aber nicht wie
ein Zauberer mühelos das Ziel seiner Sorge erreicht. Dieser Gott
ist nicht allmächtig.
Von den drei Begriffen der Allmacht, der Güte und der
Verstehbarkeit Gottes hält Jonas die beiden letzteren für
unaufgebbar. Da sie nicht mit der Allmacht zusammengedacht werden
könnten, müsse diese aufgegeben werden. Ein allmächtiger
Gott wäre entweder nicht allgütig oder völlig
unverstehbar. Nicht weil Gott nicht wollte, sondern weil er nicht
konnte, griff er nicht ein. Das Böse wird dabei nicht zu einem
göttlichen Prinzip. Gott bleibt einer, und das Böse kommt aus
den Herzen der Menschen. Ebenso kamen die Wunder, die in Auschwitz
geschahen nicht von Gott, sondern von Menschen allein: "die Taten jener
einzelnen, oft unbekannten Gerechten unter den Völkern, die selbst
das letzte Opfer nicht scheuten, um zu retten, zu lindern, ja, wenn es
nicht anders ging, hierbei das Los Israels zu teilen" [8]. Dies sei keine Absage an Gott, sondern
nur an seine Allmacht, und sie geschehe zur Ehre Gottes, wie andern
Orts das Lob der Allmacht. Gott verzichte auf seine Macht zugunsten der
Freiheit der Menschen. Auschwitz sei also gleichermaßen der Ort
des Scheiterns Gottes wie der Erscheinung der Heiligkeit Gottes in der
Gestalt der 36 Gerechten.
Die gebietende Stimme von Auschwitz
Emil Fackenheim benennt wie Jonas die grässliche Umkehrung des
bisher Geglaubten durch Auschwitz. Juden wurden gerade deshalb in
Auschwitz ermordet, weil ihre Vorfahren sich an den Bund mit Gott
gehalten hatten. [9]. Dies
bezieht sich auf den nationalsozialistischen Wahn, jeder sei "rassisch"
als Jude zu betrachten, der mindestens einen jüdischen
Großelternteil aufweise. Diese Menschen seien deshalb ins KZ
gekommen und ermordet worden, weil ihre Großeltern und
Urgroßeltern die Bundestreue zumindest in der minimalen Form
wahrten, jüdische Kinder auf die Welt zu bringen und zu erziehen.
Zusätzlich habe Auschwitz die Unterschiede zwischen
religiösen und säkularen Juden eingeebnet. Ob ein Jude an
Gott glaubte oder nicht, war völlig irrelevant für die
Vernichtungsmaschinerie.
Deshalb versagen die traditionellen Kategorien von Treue und Untreue
und Strafe für den Bruch des Bundes hier fundamental. Es scheint
nicht mehr möglich zu sein, von Gottes Treue und Gegenwart
für sein Volk auszugehen. Für Fackenheim wird die Abwesenheit
Gottes zur zentralen Aussage. Doch stellt sich ihm die entscheidende
Frage, ob dies dann nicht der endgültige Sieg der
Nationalsozialisten sei – militärisch wurden sie bezwungen, doch
würden sie nicht letztlich ihr Ziel, das Judentum zu vernichten,
erreicht haben, wenn der jüdische Gottesglaube zerstört sei?
Dies dürfe nicht geschehen und deshalb weigert sich Fackenheim,
Gott einfach für nicht existent zu erklären. Das Einzige
aber, das von ihm vernommen werde, sei eine gebietende Stimme, die
von Auschwitz her kommt. Sie gebiete den Juden das Überleben, die
Erinnerung, an das, was geschehen ist, und sie verbiete ihnen, an Gott
und den Menschen zu verzweifeln. Fackenheim gibt dieser gebietenden
Stimme denselben Stellenwert wie der Offenbarung am Sinai – Gott ist in
ihr gegenwärtig.
Der Gott der Zukunft und der Anklage (Johann Baptist Metz, Hans
Küng)
Auch christliche Theologen haben danach gefragt, wie nach Auschwitz von
Gott gesprochen werden könne. Im Zentrum stehen dabei ebenfalls
die Fragen, ob Gott die Geschichte lenkt und ob man an einen gerechten
Gott glauben kann. Die Antworten lassen sich grob zwei Modellen
zurechnen – dem vom ohnmächtigen und leidenden Gott und dem vom
(eingeschränkt) mächtigen, mit-leidenden Gott. [10]
Das erste Modell wird beispielsweise von Jürgen Moltmann, Dorothee
Sölle, Berthold Klappert und Carter Heyward vertreten. Es ist von
einem christozentrischen, bei Heyward von einem anthropozentrischen
Standpunkt geprägt. Die Aufmerksamkeit soll aber mehr dem zweiten
Modell gelten, weil dessen Vertreter auf den Begriff der Allmacht
Gottes nicht völlig verzichten wollen.
Beim katholischen Theologen Johann Baptist Metz, der
schon früh
für eine christliche Theologie nach Auschwitz entscheidende
Impulse gegeben hat, wird die Allmacht Gottes
zu einer geglaubten und
erhofften Eigenschaft Gottes. Theologie hat ständig mit dem
Theodizee-Problem zu tun, sie ist unablässige Rückfrage nach
Gott und auch Anklage Gottes. Das Leiden an Gott erscheint Metz
angemessener als die Rede von einem Leiden in Gott, die die
Theodizee-Frage überbeantwortet. [11]
Der Faktor Zeit spielt bei Metz eine entscheidende Rolle – die
Erwartung ist eine zeitlich gespannte; insofern steht Gott selbst unter
dem eschatologischen Vorbehalt. Die Hoffnung besagt für Metz aber
auch, dass es eine "Zeit mit Finale" gibt, dass eine Hoffnung auf
Gerechtigkeit besteht. In diesem Zusammenhang wird wiederum der Gedanke
des Gerichtes wichtig. Die Theologie darf den apokalyptischen Schrei
nach Gott nicht streichen
Hans Küng ist der Auffassung, dass die Frage, warum Gott Auschwitz
nicht verhindert habe, nicht theoretisch beantwortet werden könne,
sondern nur praktisch. Hans Jonas' Rede über den Gottesbegriff
nach Auschwitz nimmt er als Ausgangspunkt für seine
Überlegungen, lehnt dieses Verständnis Gottes jedoch ab.
Weder die Allmacht Gottes noch Gottes Güte und Gerechtigkeit
dürften aufgegeben werden, weil Gott sonst aufhöre, Gott zu
sein. So ringt er um einen Weg zwischen Atheismus und allzu
leichtfertigem Glauben. Die praktische, gelebte Antwort auf die Frage
nach Gott nach Auschwitz bestehe in Protest, Gebet und der
verzweifelten Hoffnung, dass Gott auch im Leiden verborgen anwesend sei
und die Menschen im Leid bewahre. Die Menschen sollen im Leid
solidarisch sein und es, wenn irgend möglich, bekämpfen, vor
allem in den Strukturen, die es verursachen.
Die mütterliche Gegenwart Gottes in Auschwitz (Melissa Raphael)
Der Hoffnung, dass Gott im Leiden anwesend ist und vor allem im
solidarischen Leiden der Menschen hat die jüdische feministische
Theologin Melissa Raphael Ausdruck gegeben. Mütterlichkeit und
mütterliche Fürsorge sind die Grundpfeiler einer von ihr
angestrebten jüdischen feministischen Theologie des Holocaust.
Konfrontiert mit der Notwendigkeit, mit ihrem Kind über den
Holocaust zu sprechen, will sie eine Theologie entwickeln, die nicht
den Antworten der Post-Holocaust-Theologien jüdischer Männer
folgt. Der Gott, der Israel im Holocaust verlassen hat, war in ihren
Augen ein patriarchaler Gott. Im Gegensatz dazu will sie von Gottes
erlösender Gegenwart in Auschwitz sprechen, ohne aber eine
Komplizenschaft zwischen Gott und dem Bösen anzunehmen. [12]
Ihre Theologie der Beziehung oder Fürsorge nimmt Ausgang von
Erfahrungszeugnissen von Frauen in Konzentrations- und
Vernichtungslagern und deren feministischer Erforschung. Ohne das
Opfer-Sein jüdischer Männer in Frage zu stellen, gilt es auch
hier, die Geschlechterdifferenz hinsichtlich der
Unterdrückungsformen wie der Überlebensstrategien
wahrzunehmen. Es gibt zahlreiche Zeugnisse von Frauen über die
Hilfe und Unterstützung, die sie von anderen Frauen in den Lagern
erfuhren. Häufig handelte es sich um die Mütter oder
Schwestern. Zwischen nicht-verwandten Frauen wurden stellvertretende
Mutter-Tochterbeziehungen aufgebaut. Bei Männern kamen diese
quasi-familiären Beziehungen kaum vor, selbst wenn sie sich in
entsprechenden Gruppen zusammengeschlossen hatten. Diese spezielle Form
der Fürsorge von Frauen hatte ihr Vorbild in den jüdischen
Familienstrukturen der Vorkriegszeit und geht auf die
Mütterlichkeits-Ideologie des 19. Jahrhunderts zurück.
Jüdische Frauen hatten, Raphael zufolge, selbst wenn sie gebildet
waren, nicht die gleichen Möglichkeiten wie Männer, ein
Bewusstsein von Gottes Gegenwart mit religiösen Mitteln im engeren
Sinne zu bewahren, d.h. durch Studium der Schriften, mystische
Theologie oder liturgische Praxis. Sie mussten einen anderen Weg finden
– nämlich den der Heiligung des täglichen Lebens und des
ethischen Verständnisses von Jüdisch-Sein. Wenn Fürsorge
und Güte im täglichen Leben Gottes Namen schon im „normalen“
Leben heiligen, um wie viel mehr dann in der grausamen Realität
der Lager! In einer Welt, in der die Ebenbildlichkeit des Juden und der
Jüdin physisch und psychisch zerstört werden sollte, wurde
Gott als Shekhinah in der Fürsorge und Mütterlichkeit
gegenwärtig. Indem Frauen sich gegenseitig halfen, Ebenbild Gottes
zu sein und zu bleiben, wurde auch Gottes Weiblichkeit
wiederhergestellt. Wird Gott so verstanden, ergibt es keinen Sinn, von
Gott das Eingreifen in die Geschichte zu erwarten, das der patriarchale
Gott im Holocaust nicht geleistet hat.
Sich Mutter-Gott in Auschwitz vorzustellen, bedeutet, einen anderen
Bund von göttlich-menschlicher Liebe in den Blick zu nehmen. Die
Liebe Gottes zu Israel wird dann nicht länger, wie in der
prophetischen Tradition mit der patriarchalen Ehe verglichen, in der
die physische und soziale Stärke des Ehemannes ihn je nach Laune
oder Umständen zu einem gewalttätigen oder liebenden Herrn
macht. Dieser Gott ist nicht der Herr der Heerscharen. Gottes
mütterliche Liebe für Israel kann besser dargestellt werden
von Frauen als Widerruf von mutwilliger Zerstörung. Dies
rührt daher, dass sie das zunehmende Gewicht ihrer Schöpfung
in ihren eigenen Körpern tragen, leidend, um es sicher aus der
engen Dunkelheit in Licht und Luft zu bringen, wissend, dass es
vollkommen von ihrer beschützenden Anwesenheit abhängig ist.
Die
Beziehung von Angesicht zu Angesicht zwischen einer Mutter und ihrem
neugeborenen Kind ist die erste Form und der erste Augenblick von
Anwesenheit. Und mehr als das: feministische Spiritualität und
mütterliche Epistemologie bestehen darauf, dass die Mutterschaft
Gottes eine Gemeinsamkeit von göttlicher und weiblicher
Personalität/Persönlichkeit anzeigt. Es ist diese
mütterliche Gemeinsamkeit, dass unser Vertrauen in die liebende
Gegenwart, die Gott traditionell zugeschrieben wird, neu definiert.
Dieses Vertrauen ist in der Post-Holocaust-Theologie durch den Verrat
des desertierten Vater-Gottes substantiell verloren gegangen. Irving
Greenberg z.B. argumentiert, dass Gott keinen moralischen Anspruch mehr
auf die Bundestreue der Juden hat, nachdem er den Holocaust zugelassen
und den Juden seinen Schutz vorenthalten hat. Bundestreue kann von nun
an nur freiwillig geleistet werden. Der Bund kann nicht länger
gefordert oder durch Tadel und Strafe erzwungen werden.
Israel ist das Kind, für das Mutter-Gott sich verpflichtet hat,
Verantwortung zu tragen und seinen Schmerz zu teilen oder ihn
wegzunehmen. Aber Israel ist, wie alle anderen Kinder, ebenfalls dazu
verpflichtet, in der Gegenseitigkeit der Liebe zunehmend Verantwortung
für die Welt zu übernehmen. Der Holocaust bürdete den
Menschen eine Fülle mütterlicher Verantwortlichkeiten auf.
Wir sahen bereits, dass mütterliche Pflichten gegenseitig von
Kindern erfüllt wurden, die durch Gefahr und Not zu früh
gereift waren.
Das Empfinden des Kindes, dass alles gut ist, so lange es mit seiner
Mutter zusammen ist, und selbst wenn es nicht so ist, es weiter auf sie
zählen kann und sie es nicht aus ihrer Hand gibt, wurde
symbolisiert in den Massengräbern von Auschwitz. Ferderber-Salz
und andere Frauen mussten Leichen aus den Gräbern entfernen und
verbrennen, bevor die befreiende Armee das Lager erreichte. Dabei
fanden sie manchmal zwei Körper: eine Mutter und ein Kind in
ewiger Umarmung zusammengeschlossen, weil die Mutter versucht hatte,
das Kind mit ihrem Körper zu schützen. Die Kugeln der
Mörder trafen das Kind durch den Körper der Mutter und
töteten beide zusammen.
Die zeitgenössische jüdische feministische Liturgie betont
den Glauben an Gottes Wärme und schützende
Mütterlichkeit. Zwischen diesen zeitgenössischen Worten, den
Worten der Schrift und den Worten von Frauen über Auschwitz, wo
der Sinn und das Ziel jüdischer Mutterschaft zerstört werden
sollte und wo eine Schwangerschaft, d.h. die Mutterschaft zu einem
ungeborenen Kind, nicht bekannt werden durfte, gibt es einen engen
Zusammenhang. Die Mutterschaft Gottes ist eine nicht bekannt gemachte,
nicht erzählte Geschichte, die vom Körper Israels noch nicht
geboren ist.
Die Zerstörung der Beziehung (Luigi Nono)
Zum Abschluss soll ein Beispiel aus der Musik
vorgestellt werden, das sich mit der Frage der Erinnerung
beschäftigt und
in dessen Deutung die Mutter-Kind-Beziehung eine wichtige Rolle spielt.
Es handelt sich um das Stück "Erinnere Dich, was sie Dir in
Auschwitz angetan" haben" von Luigi Nono. Zunächst einige
Informationen über den Komponisten.
Luigi Nono wurde am 29. Jan. 1924 in Venedig geboren. Er studierte
in Padua Jura und schloss dieses Studium 1946 mit dem Dr. jur. ab. 1941
begann er seine musikalische Ausbildung in Venedig. Nach der
umstrittenen Uraufführung seines Werkes „Variazioni“ im Rahmen der
Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt wurden
seine Werke zunehmend aufgeführt, zuerst in Deutschland,
später auch in Frankreich, Italien, England und den USA. Zwischen
1957 und 1960 wirkte Nono in Darmstadt mit Vorträgen und
Kompositionskursen.
In seiner Kompositionstechnik knüpft er an das Spätwerk Anton
von Weberns an, es sind darüber hinaus auch Verbindungen zu
Schönberg zu erkennen. Nono verfolgt in seinen seriellen
Kompositionen nicht nur formal-ästhetische Zwecke, sondern sie
dienen ihm stets zum Ausdruck menschlicher Gefühle und Ideale.
Seine Werke sind häufig Anklage gegen Krieg, Terror und Diktatur
und Bekenntnis zu Menschlichkeit, Menschenwürde, Freiheit und
Hoffnung.
Zu seinen wichtigsten ästhetischen und kompositorischen Positionen
gehört die Auffassung, dass es falsch ist anzunehmen mit dem Krieg
habe die Musik völlig mit der Tradition gebrochen. Nonos
Weltanschauung basiert auf einer marxistisch geprägten
Geschichtsphilosophie, welche ihn veranlasst eine kritische
Kontinuität mit der Geschichtstradition zu fordern. Ihm geht es
darum Verantwortung gegenüber der Geschichte zu übernehmen,
was für die Musik bedeutet, ideologisches Engagement mit ihr zu
verbinden.
1966 bearbeitet er die von ihm komponierte Bühnenmusik zu Peter
Weiss` “Die Ermittlung“ Aus dieser Bearbeitung entsteht „Ricorda cosa
ti hanno fatto in Auschwitz“ (Erinnere dich, was sie dir in Auschwitz
angetan haben) für Tonband. In diesem Stück vermischt Nono
elektronische Klänge mit Orchester- und Chormaterialien aus
eigenen früheren Kompositionen, Fabrikgeräuschen und
Kinderstimmen. Mittels der Schreivokale arbeitet Nono mit einer
Lautgestik, die unmittelbares menschliches Leid zum Ausdruck bringt.
Nono bedient sich dieser unmusikalischen Sprechlaute um durch das
Einarbeiten solches vokalen Klangmaterials ein Symbol für den
Menschen in das Stück zu bringen. Der Beginn des Stückes ist
durch ein von einem Kind gesungenes Decrescendo geprägt, dieser
Schreivokal kann als verzerrter Ruf einer Klage gelesen werden, der
jenseits von Sprache verständlich bleibt und eine unmittelbare
Vergegenwärtigung des Kindes bewirkt. Das zweite musikalische
Zentrum des Werkes neben den Kinderstimmen ist ein Solosopran. In der
Sopranstimme vergegenwärtigt sich das Leiden eines Ichs, wodurch
die Anonymität der Opfer aufgehoben wird. In dieser stark
individualisierten Konkretion wird das Opfer zum musikalischen Subjekt,
zum repräsentativen Ich. Diese in Nonos Werk vorliegende
Konstellation von musikalischen Gebilden kann als Mutter-Kind-Beziehung
gedeutet werden. Dieses innigste zwischenmenschliche Verhältnis
wird durch die Zusammenführung von Schreivokal und musikalischem
Subjekt, verkörpert in der Sopranstimme, dargestellt. Eine
vernichtende Klangexplosion markiert die Zerstörung des Subjekts,
danach hört man eine nur noch schwache Kinderstimme, die
schließlich ganz verklingt. Die Verzweiflung des Kindes nach dem
Zerreißen der Mutter-Kind-Beziehung bringt Nono hier musikalisch
eindringlich zum Ausdruck.
Nono hat dieses Werk für Tonband komponiert, dadurch schafft er
Distanz und entzieht sich der Gefahr, dass das Gefühl entstehen
könnte, Auschwitz würde dargeboten, wie es bei einer
Aufführung im Konzert geschehen könnte. Nono geht es um das
Schaffen von menschlichen Gefühlswelten, er versucht Auschwitz auf
seine wirkliche Dimension zu reduzieren, in der jeder einzelne der
Mordmaschinerie ausgeliefert wird. Nono selbst erklärt, dass das
Leiden nach einer eigenen Kunst verlange, die nichts glättet.
Dennoch bleibt sein Werk Nachbild von Auschwitz, die Kluft zwischen
Kunst und Realität kann nicht aufgehoben werden.
Schluss
Wir haben nun die verschiedensten Aussagen, wie man das Böse mit
dem Dasein und Wirken Gottes in Einklang bringen kann oder eben nicht.
Dieser Vielfalt kann nun nicht quasi von oben eine einheitliche
Lösung aufgesetzt werden. Es sollen lediglich zwei Perspektiven
angedeutet werden.
Eliezer Berkovits, ein moderner Vertreter der jüdischen
Orthodoxie, spricht vom »göttlichen Dilemma«:
Respektiert Gott die menschliche Freiheit, muss er sich aus dem
Geschehen der Welt heraushalten; soll der Mensch nicht daran zu Grunde
gehen, muss Gott in der Welt bleiben. Gott wäre dann zugleich
abwesend und gegenwärtig - ein verborgen anwesender Gott mit
beschränkter Macht? Hinter diesem Bild steht die Hoffnung, dass
zuletzt nicht das Böse triumphiert.
Ist das die Lösung? Vielleicht müssen wir uns mit noch
»weniger« begnügen. Auffallend ist die Bedeutung des
Akustischen in vielen der aufgeführten Beispiele: der Gesang, der
längst verhallte Schrei zu einem stummen Gott, die gebietende
Stimme, der apokalyptische Schrei nach Gott, die Verbindung der
Sopranstimme mit dem Kinderschrei - Offenbarung im Medium des
Akustischen, Gott als Verstummter und als Stimme, als Hören, die
Menschen als Hörende und Schreiende.
[1] Vgl.
Christine
Globik, Die Sünde, das Böse: neue Aspekte feministischer
Forschung, in: Evangelische Theologie 63 (2003), S. 340-345
[2] Christian Link, Das
Rätsel des Bösen. Die Frage von Auschwitz, in: Evangelische
Theologie 63 (2003), S. 325-339, hier: S. 325
[3] Vgl. zum ganzen
Abschnitt Ivone Gebara, Die dunkle Seite Gottes. Wie Frauen das
Böse erfahren, Freiburg 2000
[4] Zum folgenden vgl.
Emilie M.Townes (Hg.), A Troubling in My Soul. Womanist Perspectives
on Evil and Suffering, New York 1993, darin bes. Cheryl
Kirk-Duggan, African-American Spirituals. Confronting and Exorcising
Evil through Song, S. 150-171
[5] Hans Jonas, Der
Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt/M
1987, S. 7
[6] Ebd., S. 13.
[7] Ebd., S. 14
[8] Ebd., S. 41
[9] Vgl. Emil L.
Fackenheim, Die gebietende Stimme von Auschwitz, in: Wolkensäule
und Feuerschein. Jüdische Theologie des Holocaust, hg. v.
Michael Brocke u. Herbert Jochum, München 1982, S. 73-110
[10] Einen guten
Überblick bietet Birte Petersen, Theologie nach Auschwitz?
Jüdische und christliche Versuche einer Antwort, Berlin 1996,
S. 62-133, bes. S. 93-111
[11] Vgl. Johann Baptist
Metz (Hg.), "Landschaft aus Schreien". Zur Dramatik der
Theodizeefrage, Mainz 1995; ders., Theologie als Theodizee, in:
Werner Oelmüller (Hg.), Theodizee – Gott vor Gericht?,
München 1990, S. 103-118; ders., Christen und Juden nach
Auschwitz, in: ders., Jenseits bürgerlicher Religion. Reden
über die Zukunft des Christentums, München-Mainz 1980, S.
29-50
[12] Vgl. Melissa
Raphael, The Female Face of God in Auschwitz. A Jewish Feminist
Theology
of the Holocaust, London u.a. 2003, dies., When God Beheld God. Notes
Towards a Jewish Feminist Theology of the Holocaust', in: Feminist
Theology 21 (1999), S. 53-78.
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