theologie.geschichte - Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte

Alexander von Plato/Tomáš Vilímek in Verbindung mit Piotr Filipkowski und Joanna Wawrzyniak, Opposition als Lebensform: Dissidenz in der DDR, der CSSR und in Polen (Das andere Osteuropa. Dissens in Politik und Gesellschaft, Alternativen in der Kultur (1960er–1980er Jahre); Beiträge zu einer vergleichenden Zeitgeschichte, Bd. 2), LIT Verlag, Berlin/Münster u.a. 2013, 576 S,  59.90 €, ISBN: 978-3-643-11183-8


Der Band Opposition als Lebensform. Dissidenz in der DDR, der ČSSR und in Polen ist als Ansatz für die Erforschung der gegenseitigen Beeinflussung von Oppositionsbewegungen in den letzten zwei Jahrzehnten der Existenz der realsozialistischen Länder in Osteuropa gedacht. Im Zentrum der Untersuchung stehen die DDR und die Tschechoslowakei. Der Beitrag von Piotr Filipkowski und Joanna Wawrzyniak fällt insofern aus dem Rahmen, als hier nur von einer Posener oppositionellen Gruppe die Rede ist.

An einer Stelle erfahren wir mehr am Rande, daß es bereits in den siebziger Jahren Bestrebungen gab, die Oppositionstätigkeit zu internationalisieren. Es ist der tschechische Historiker Jan Tesař, Mitunterzeichner der Charta 77, der dies 1978 forderte. Hierbei betonte er, daß die "Hauptrichtung unseres (d.h. des tschechoslowakischen - K.S.) Interesses [...] die Polen" sein sollten. Ein Jahr zuvor hatte das berühmte Dissidenten-Treffen an der tschechisch-polnischen Grenze stattgefunden. Leider kommt dies erst auf S. 410 des Bandes zu Sprache.

Es ist ein Buch, das einerseits durch seinen Reichtum an Aussagen von interviewten Oppositionellen aus der DDR, der ČSSR und Posen hervorsticht, aber andererseits durch eine zu geringe Berücksichtigung der enormen polnischen Oppositions-, ja Widerstandsbewegung an Gewichtigkeit verliert. Die Tatsache, daß sich in Polen sechzehn Monate lang eine millionenfache Opposition halten konnte, mußte trotz Einführung des sogenannten Kriegszustandes durch die Jaruzelski-Clique am 13. Dezember 1981 auf die Dissidenten anderer Länder stimulierend gewirkt haben. Erneuerungsbewegungen dauerten bis dahin höchstens einige Wochen an, ehe diese gewaltsam niedergeschlagen wurden, etwa durch Einmarsch "befreundeter Truppen".

Nach der blutigen Niederschlagung der Danziger und Stettiner Arbeiterproteste im Dezember 1970 war die polnische Opposition zu dem Schluß gelangt, daß man keine Parteigebäude anzünden, sondern eigene "Parteigebäude", will heißen eigene Organisationsformen, aufbauen bzw. schaffen sollte. Was Polen für die DDR-Opposition bedeutete, hat u.a. Marion Brandt in ihrer ausführlichen Studie Der Polnische Oktober und die Solidarność-Revolution in der Wahrnehmung von Schriftstellern aus der DDR anhand von Interviews und verschiedenartigsten Recherchen ausgeführt. In dem vorliegenden Band wird diese Arbeit leider an keiner Stelle angeführt.

1987 schrieb ich in der von Jurek Chmielewski, Cezary Jenne und mir im zweiten Umlauf herausgegebenen Zeitschrift Europa, daß der Zeitpunkt gekommen sei, in dem sich eine Kommunikationsgemeinschaft (współnota komunikacyjna) der osteuropäischen Dissidenten sowohl in ihren Heimatländern wie auch im Exil herausbilde. Ich berührte dort auch die Sonderstellung der DDR-Opposition, die kein Exil kenne, was ihr zum Nachteil gereiche. Die Nummer der Zeitschrift war der damals hochaktuellen Mitteleuropadebatte gewidmet.

Die erste Hälfte des Bandes nimmt Alexander von Platos Text "Revolution in einem halben Land. Lebensgeschichten von Oppositionellen in der DDR und ihre Interpretation" ein. Der Autor versucht hier die Interviews bzw. Gespräche auszuwerten, die er mit 31 Vertretern der DDR-Opposition in verschiedenen Zeiträumen durchgeführt hat. Er unterteilt die Gesprächspartner nach Generationen. Die entsprechenden Abschnitte tragen die vielsagenden Titel: "Harte Zeiten. Die Alten", "Die mittleren Jahrgänge" und "Eine neue Jugend". Dem angefügt sind: "Kritiker von innen und außen" und "Parteikritiker".  Es handelt sich um solche Personen, die man nicht eindeutig der Opposition zuordnen kann. Hier muß angemerkt werden, daß von Plato den Begriff des Oppositionellen nicht definiert, was verständlich ist. Es sind diejenigen, die auf irgendeine Weise den DDR-Staat grundlegend kritisierten und auf dafür büßen mußten. Von Plato spricht auch von "unterschiedlichen Gegnerschaften" zum SED-Regime.

Von Plato möchte gewisse Gemeinsamkeiten in den Lebensläufen aufweisen. Da die Zahl der Befragten für den Leser relativ groß ist, läßt er sich gern sagen, daß es gewisse Ähnlichkeiten darin gibt, wie die einzelnen Oppositionellen zu ihrem widerständigen Verhalten und ihrer Bereitschaft, offen zu protestieren, gekommen sind. Eine große Rolle spielen Verbindungen zur protestantischen Kirche. Es war jener Raum, in den die Machthaber infolge von Vereinbarungen nicht eindrangen (die Ausnahmen wurden zu öffentlichen Ereignissen, sie wurden als Rechtsbrüche aufgefaßt), wenngleich sie die Teilnehmer der Treffen zu drangsalieren suchten. Mancher von ihnen wurde nicht nur verhört, sondern auch verhaftet. Von Plato interessiert sich ganz besonders für die persönliche Einstellung des/der jeweiligen Befragten zur Kirche und zum Glauben. Schließlich geht es ihm um das Lebensgeschichtliche. Er möchte auch den Alltag der Oppositionellen einfangen.

Mit Rücksicht auf die nach der Wende erfolgte Wiedervereinigung hat von Plato immer wieder die Frage gestellt, welche Einstellung zur deutschen Frage bestand. Die Jüngeren dachten darüber weniger nach, sie mußten erst Ende 1989 bzw. Anfang 1990 dazu Stellung nehmen. Einige Oppositionelle fanden, unter ihnen Jens Reich, daß mit der sich anbahnenden Wiedervereinigung die Revolution ein Ende genommen habe. Es war nicht das, worum sie aufopferungsvoll gekämpft hatten. Hinzukam, daß die sogenannten Blockflötenparteien sehr schnell den Gedanken eines einheitlichen Deutschlands aufgriffen und damit bei den Wahlen erfolgreich waren. Man hat den Eindruck, daß von Plato nachträglich den Oppositionellen ihre Kurzsichtigkeit klar machen will, obwohl er selber großes Verständnis für die Enttäuschung aufbringt, die diejenigen durchmachten, denen es um mehr Demokratie und nicht um mehr Konsum gegangen war. Von Plato meint, daß ab einem gewissen Zeitpunkt die große Politik über die Zukunft Deutschlands entschied. Das ist richtig. Aber hier wird wiederum nicht berücksichtigt, daß sich zwischen Deutschland und der damaligen Sowjetunion ein relativ großer Staat befand, nämlich Polen. Als ich 1988 zu einer Mitteleuropakonferenz in Westberlin eingeladen war, äußerte ich die Meinung, daß, wenn Polen souverän werden sollte, Deutschland wiedervereinigt werde, denn Rußland könne ein geteiltes, d.h. ein schwaches Drittel-Deutschland im Westen Polens nicht dulden. Polen würde einfach ein zu starker Staat werden. Dieser Aspekt scheint den meisten Historikern fremd zu sein. Nicht einmal der Umstand, daß der Sturz der Mauer gerade an dem Tag erfolgte, an dem Kohl und Genscher in Warschau verweilten, regt zum Nachdenken in diese Richtung an. Von Plato betont zu Recht, daß die Wiedervereinigung für die USA bzw. für Bush senior beschlossene Sache war, aber das Argument, daß Gorbatschow ihr einfach aus Schwäche zugestimmt habe, erscheint mir eine zu einfache Erklärung zu sein. Diese Sicht spielt in dem Buch insofern eine Rolle, als von Plato die unterschiedlichen Reaktionen auf die sich anbahnende Wiedervereinigung, die mehrmals als Anschluß bezeichnet wird, zu beurteilen sucht, zumal die Oppositionellen in der "nationalen Frage" auseinander drifteten. Manche glaubten noch an die Reformierbarkeit des "Sozialismus". Interessant ist hierbei, daß man außerhalb Berlins, in der sogenannten Provinz, anders dachte als in der Hauptstadt und daß die "Angereisten" bei der Abstimmung im Neuen Forum schließlich siegten. Für sie war es zumeist selbstverständlich, daß es schnell zur Einheit Deutschlands kommen müsse.

Wundern muß man sich, daß von Plato die Totalitarismus-These schon deswegen in Frage stellt, weil er auch in der DDR gewisse Freiräume zu beobachten meint. Auf S. 254 lesen wir: "Es ist in Kenntnis der Lebensgeschichten auch ein Erstaunen darüber angebracht, wie vielfältig trotz aller diktatorischen Einschränkungen die Möglichkeit eines Lebens in der DDR der 1980er Jahre waren, wie sehr sich auch weniger radikale Personen als Aktivisten der Opposition den Ansprüchen des SED-Systems entzogen, wie man auf eigenen Wunsch verschiedene Zusatzausbildungen machen oder mit »Jobben« über die Runden kommen konnte, wie es sogar möglich war, Wohnungen zu »besetzen«, wie mannigfaltig die Wege in den Dissens, wie zahlreich die Zentren der anwachsenden Opposition waren. Mit der Vorstellung eines totalitären Staates mit einer totalen Überwachung und einer allgemeinen Zerstörung jedweder anderen Existenzweise und einer totalen Entmündigung der Bürger ist diese Vielfalt zumindest am Ende der DDR schwer zu vereinbaren. Auch für die ČSSR und besonders für Polen kann und muss die Frage nach der Unschärfe des Begriffs »Diktaturen« und »Totalitarismus« gestellt werden". Man hat den Eindruck, daß von Plato nur solche Staaten als totalitär einzuschätzen bereit wäre, in denen das Orwellsche, Huxleysche oder Samjatinsche Modell realisiert worden ist. Gewisse Freiräume mußte das DDR-System auch schon deswegen zulassen, weil es zu sehr vom Westen beobachtet wurde und auch weil es gar nicht genug Gefängnisse gegeben hätte. Sie waren in allen sozialistischen Staaten stets überfüllt. Und je größer der Widerstand, desto schwerer fällt es den entsprechenden Institutionen, über alles Kontrolle auszuüben. Nicht umsonst schob die DDR zahlreiche Oppositionelle nach Westdeutschland ab. Und nicht umsonst erlaubten die Machthaber der ČSSR und Polens, Tausenden von Menschen nach dem Prager Frühling bzw. nach Einführung des Kriegszustands in den Westen zu emigrieren. Die Internierungslager, die Jaruzelski errichten ließen, waren in anderen Ländern insofern undenkbar, weil sich die dortige Nomenklatura nicht frontal angegriffen fühlte.

Selber fühlte ich mich in den achtziger Jahren, als mir keine Auslandsreisen mehr gestattet wurden, ich eine gründliche Hausdurchsuchung erleben mußte und ein Gerichtsverfahren angehängt bekam, wie in einem Gefängnis. Ich nannte es ein großes und geräumiges Gefängnis, aber man war abgesperrt. Was hat man davon, wenn man von einem nur teilweise totalitären System spricht? Es klingt so, als könnte man nur teilweise krank sein.

Der zweite Teil des Buches, den Tomáš Vivlimek verfaßt hat, ist mit "Opposition in der ČSSR und in der DDR. Der »dissidentische Weg« und die gegenseitige Wahrnehmung von Vertretern der tschechoslowakischen und ostdeutschen Opposition" betitelt. Der Autor stellt zu Beginn seines Beitrags die Biographien von achtzehn Männern und sieben Frauen der Opposition vor, mit denen er Interviews geführt hat. Gemessen an den Aktivitäten der Frauen sind diese in den Interviews unterrepräsentiert, schließlich waren es "vor allem die Frauen, die politische Artikel, Übersetzungen, offene Briefe und Bücher, die im Samisdat veröffentlicht wurden, abschrieben und vervielfältigten, und den »Spionen« übermittelten, die die Büchermanuskripte, die dann im Exil publiziert wurden, auslieferten" (Jiřina Šiklová, Feminismus im Postkommunismus: Ein deutsch-tschechischer Vergleich, 2001), aber unter den befragten Männern befinden sich solche führende Personen wie Jiři Dienstbier, Ján Čarnogurský, Petr Pithart und andere, die nach der Wende wichtige politische Ämter innehatten. Ähnlich wie von Plato schaut Vivlimek auf die "lebensgeschichtlichen Aspekte des Wegs in den Dissens". Gefragt wird nach der Rolle der Familie, der Freundeskreise, der sich politisch auswirkenden Geschehnisse auf die Einzelnen und anderes mehr sowie nach den Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen der Opposition in der Tschechoslowakei und der DDR (Vivlimek sprach auch mit mehreren DDR-Oppositionellen). Der Hauptunterschied zwischen beiden Ländern war, daß man als DDR-Oppositioneller zumeist in den Westen abgeschoben wurde, während Tschechen und Slowaken im Gefängnis landeten. Die meisten nahmen ihre oppositionelle Tätigkeit nach ihrer Freilassung wieder auf. Sie können auch auf eine längere Geschichte des Widerstands, für den andere Daten von Bedeutung sind als in Ostdeutschland, zurückblicken. Die DDR kannte keine Schauprozesse und auch die Niederschlagung des Volksaufstands vom 17. Juni 1953 spielt für die dortigen Oppositionellen nicht die Rolle wie der Einmarsch der Warschauer Paktstaaten im August 1968 für die tschechoslowakischen. Für so manchen aus der DDR war dieses Ereignis der Anfang ihres kritischen Verhältnises zum SED-Regime. Hier beginnen gleichsam die Gemeinsamkeiten. In den 1980er Jahren finden schließlich Treffen zwischen den Oppositionellen beider Länder statt.

Der dritte relativ kurze Teil "Polnische Oppositionelle. Biografisches Studium anhand eines Fallbeispiels aus Posen" erscheint wie ein Fremdkörper in dem Band, zumal die Posener Oppositionellen als "ein Rudel" (ich frage mich, welches polnische Wort sich dahinter verbirgt) charakterisiert werden und man den Eindruck davonträgt, daß diese Gruppe ihr widerspenstiges Leben unabhängig von der Solidarność-Bewegung führte. Die Gruppe - nur sieben Personen sind interviewt worden - verlor erst ihren Zusammenhalt, als es zur "Lustration" kam, d.h. zu Beginn dieses Jahrhunderts, als sich eine nicht geringe Zahl von polnischen Bürgern, vor allem Akademiker, zu ihrer eventuellen IM-Tätigkeit bekennen sollten. Diejenigen, die falsche Angaben machten, sollten strafrechtlich belangt werden. Wenn sich jemand zu seiner IM-Tätigkeit bekannte, sollte dies ohne Folgen bleiben und nicht öffentlich bekannt gegeben werden. Zu dieser Lustration kam es am Ende nicht, aber sie bewegte die Gemüter natürlich, zumal man durch die Option für oder gegen die Lustration von der einen oder anderen Seite gebrandmarkt wurde.

Bei allen hier geäußerten Vorbehalten muß man den Herausgebern und Autoren des Bandes für den Reichtum des gebotenen Materials und die z.T. neuen Gesichtspunkte ihrer Analyse dankbar sein. Ihre Recherchen sind sicherlich äußerst zeitaufwendig gewesen. Und es war höchstwahrscheinlich nicht leicht, mit den Oppositionellen ins Gespräch zu kommen, und sie darüber hinaus nicht mit Fragen, die die Privatsphäre oder ihre Weltanschauung betrafen, vor den Kopf zu stoßen.

Zum Rezensenten:
Karol Sauerland ist emeritierter Professor für Germanistik an der Universität Warschau und war Mitglied in der Solidarność.





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