theologie.geschichte - Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte

Jürgen Werbick (Hg.): Sühne, Martyrium und Erlösung. Opfergedanke und Glaubensgewissheit in Judentum, Christentum und Islam, (Beiträge zur Komparativen Theologie 9), Paderborn u.a 2013, Ferdinand Schöningh Verlag, 195 S., kart. 29, 90 €, ISBN: 978-3-506-77417-0


Dieser von Jürgen Werbick herausgegebene Band enthält die Beiträge einer im November 2011 in Münster abgehaltenen Tagung im Rahmen des Münsteraner Exzellenzclusters zu „Politik und Religionen“ zu den, wie der Hg. im Vorwort ausführt, „befremdlichsten Seiten der religiösen Praxis“ (S. 7). Die gewählte Methodik der „komparativen Theologie“ basiert auf dem Versuch, Erfahrungen und Verfahren aus der interkonfessionellen Begegnung auf die interreligiöse Ebene anzuwenden. Im Rahmen einer „mikrologische[n] Vorgehensweise“ (S. 184) werden Vertreter von Judentum, Christentum und Islam, eingeladen aus ihrer jeweiligen Sicht zum komplexen Themen- und Problemzusammenhang des Opfers im weitesten Sinne zu sprechen. Dabei machen sie die Erfahrung, dass die Überzeugungen und kognitiven Operationen der jeweils anderen Seite bezogen auf die zu diskutierende Detailfrage als nachvollziehbar und bereichernd erscheinen können, ja, dass bisweilen in der Argumentation des anderen Lösungen sich andeuten für eigene Denkschwierigkeiten. Das religionspolitische Programm hinter dieser Methodik benennt Klaus von Stosch etwas unglücklich als „Pazifierung religiöser Geltungsansprüche“ (S. 186). Gemeint ist allerdings mit dieser martialischen Formel eine genuin theologische Erfahrung, die von Stosch in drei Maximen der komparativen Theologie zusammenfasst: (1) Traue dem anderen zu, dass er dich verstehen kann! (2) Begegne dem anderen mit Empathie und Liebe! (3) Begegne dem anderen in der Haltung der Gastfreundschaft! (S. 186f.)

Das Programm einer solchen interreligiösen Begegnung ist hoch verdienstvoll. Der Weckung intensiveren wechselseitigen Verstehens wäre möglicherweise ein noch mikrologischerer Zuschnitt der Herangehensweise förderlich. Der breite Zuschnitt, den die Veranstalter der Münsteraner  Tagung gewählt haben, wird durch die Entfaltung der Themen in den einzelnen Referaten noch unübersehbarer. Die ersten beiden Beiträger (Mahmoud Mustafa Ayoub, Rüdiger Braun) weiten das Opferthema aus muslimischer Sicht um die Erlösungsproblematik und stecken damit den opferhermeneutischen Rahmen, dem sich die christlichen Beiträger mit ihren Beiträgen einpassen: Veronika Hoffmann gibt eine allgemeine Draufsicht auf „Opfer in biblisch-christlicher“ Perspektive, wobei sie sich systematisch ausgesprochen selektiv von Adrian Schlenker und Hartmut Gese leiten lässt (S. 51-72). Ihre Hinweise auf Bernd Janowskis Sühnedeutung bleiben vage und sind für ihre Deutung nicht zentral. Klaus von Stosch deutet die christliche Erbsündenlehre als das Hineingestellt-Sein jedes Menschen in die „Objektivationen der Schuld“, die der einzelne da missdeutet, wo er denkt, diesem Netz aus eigener Kraft entrinnen zu können (S. 81-96). Diese Bestimmung bietet den muslimischen Gästen Möglichkeiten der Anknüpfung auf der Basis ihrer Überzeugung von der Bedürftigkeit des Menschen, die Rüdiger Braun als „Ambiguität des Geschöpflichen“ thematisiert (S. 23-50). Jürgen Werbick stellt sich mit der harmlos klingenden Frage, ob das Christentum eine Erlösungsreligion sei (97-116), der Auseinandersetzung mit der muslimischen Kritik am Erlösungskonzept, die er präzise zusammenfasst (S. 98-100) und in der Erlösungsskepsis „bis weit in die Klientelen der christlichen Konfessionen hinein“ (S. 104) wiederfindet. Gegen diese Skepsis soll die Soteriologie plausibel gemacht werden im Sinne des paulinischen „vernünftigen Gottesdienstes“ im Sinne von Röm 12,1-2 (105-107): Das Kreuz des Hingerichteten ist der Ort der Theophanie des erlösend bei seinem Volk gegenwärtigen Gottes und tritt in dieser Funktion an die Stelle der kapporet aus Lev 16.

Der Band ist hoch verdienstvoll als Beitrag zur interreligiösen Verständigung. Beunruhigend ist allerdings, dass die theologische Forschung zum Opfer im christlichen Verständnis unbegreiflich selektiv bleibt. Die breiteste theologische Forschung zum Opferdenken ist seit weit mehr als einem Vierteljahrhundert im Rahmen der Dramatischen Theologie der Innsbrucker Schule geleistet worden. Wie soll man es denn verstehen, wenn 2013 katholische Theologen über das christliche Opferverständnis auf dem Niveau eines Exzellenzclusters Beiträge leisten, ohne dass auch nur die Namen Hans Urs von Balthasars oder Raymund Schwagers eine einzige Erwähnung finden? Jürgen Werbick hat erheblich zu einem theologisch reflektierten und angemessenen Verständnis von Erlösung beigetragen. In interreligiösen und interdisziplinären Zusammenhängen erscheint es mir durchaus hilfreich, den eigenen fachimmanenten Pluralismus nicht zu verdrängen.


Zum Rezensenten:
Dr. Ralf Miggelbrink, geb. 1959, ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Duisburg-Essen.


Refbacks

  • Im Moment gibt es keine Refbacks




Tübingen Open Journals - Datenschutz