Viktor Krieger, Bundesbürger
russlanddeutscher Herkunft. Historische Schlüsselerfahrungen und
kollektives Gedächtnis (Geschichte, Kultur und Lebensweisen
der Russlanddeutschen, Bd. 1), Berlin 2013, LIT Verlag, 264 S., 29.90
€, ISBN 978-3-64312-073-1
Die Publikationssammlung von Viktor Krieger, akademischem Mitarbeiter am Seminar für Osteuropäische Geschichte an der Universität Heidelberg, befasst sich mit der Geschichte der russlanddeutschen Minderheit im 20 Jahrhundert. Diese Bevölkerungsgruppe setzt sich aus Nachkommen der Auswanderer aus deutschen Kleinstaaten zusammen, die im 18. und 19. Jahrhundert nach Russland eingeladen und dort vornehmlich im unteren Wolgaraum und im Schwarzmeergebiet angesiedelt wurden.
Krieger beschäftigt sich seit mehr als zwei Jahrzehnten mit dem Schicksal der russlanddeutschen Bevölkerung. In die Sammlung nahm er Beiträge auf, die vornehmlich in den Jahren 2006 bis 2011 zum ersten Mal erschienen sind. Sie bilden die Unterkapitel, die sich zu insgesamt vier Kapiteln vereinen.
Im ersten Kapitel seines Werkes befasst sich der Autor ausführlich mit Repressionen, denen die Russlanddeutschen unter sowjetischer Herrschaft ausgesetzt waren. Ihre Lage verschlechterte sich enorm im Zusammenhang mit dem Großen Vaterländischen Krieg. Nachdem die anfänglichen Hoffnungen der sowjetischen Regierung auf „proletarische Solidarität“ (S. 21) seitens der reichsdeutschen Arbeiter und Bauern enttäuscht wurden, wurden die Sowjetdeutschen vor allem als Sicherheitsrisiko betrachtet. Der Vorwurf der Illoyalität bot einen Vorwand für die Zwangsumsiedlung der Minderheit. 794.059 Personen mussten allein bis zum Ende des Jahres 1941 nach offiziellen Angaben den europäischen Teil der Sowjetunion verlassen, um sich in Kasachstan und Sibirien niederzulassen. Mit der Deportation ging auch ein verminderter Rechtsstatus einher, der die Ausbeutung der Russlanddeutschen erleichterte. Etwa 350.000 Männer, Frauen und Jugendliche, circa ein Drittel der Bevölkerungsgruppe im sowjetischen Machtbereich, wurden zwangsrekrutiert, um in der Trudarmija (deutsch: Arbeitsarmee) eingesetzt zu werden. In Fragen der Verpflegung, Unterbringung und Bewegungsfreiheit unterschied sich ihre Lage kaum von der Situation der sowjetischen Strafgefangenen. Nach Schätzungen von Krieger forderte der Zwangseinsatz nicht weniger als 70.000 Opfer unter den Russlanddeutschen.
Auf neunzig Seiten finden sowohl die Darstellung der Unterdrückungsmaßnahmen, die die gesamte Gruppe betrafen, wie auch die Schilderung einiger Einzelschicksale Platz.
Im zweiten Kapitel schildert Krieger verschiedene Formen des nonkonformen Verhaltens der Russlanddeutschen in der Sowjetunion. Neben den durch Lebensmittelrequirierung ausgelösten Bauernaufständen, zählt der Autor zu solchem Verhalten auch Auswanderungsbemühungen, Autonomiebestrebungen, Mitgliedschaft in Gebetskreisen, Protestbriefe, sowie Bittschriften um humanitäre Hilfe an ausländische Organisationen, die für Krieger eine Form des passiven Widerstands bilden.
Unter der Überschrift „Politische, geistige und sprachlich-kulturelle Tendenzen“ fasst der Autor fünf Beiträge im dritten Kapitel zusammen. Besonders interessant sind seine Ausführungen zur Wahrnehmung der russisch-deutschen Minderheit durch die Mehrheitsbevölkerung. Kriegers Analyse beginnt bei den antideutschen Ressentiments im zaristischen Russland und deren Zuspitzung während des Ersten Weltkrieges, er schildert das Misstrauen der Bolschewiki gegenüber Diaspora-Nationalitäten, die dadurch dem kommunistischen Terror überproportional zum Opfer fielen, und die Diffamierung der Russlanddeutschen als Folge der staatlichen Propaganda im Deutsch-Sowjetischen Krieg. Auch nach dem Krieg waren die Russlanddeutschen mit anhaltender Diskriminierung konfrontiert, zumal das Vergegenwärtigen des Großen Vaterländischen Krieges zu einem zentralen Element der staatlichen Erinnerungspolitik wurde.
Weniger empfehlenswert ist dagegen das Interview über die Autonomiebewegung der 1980er Jahre, welches Krieger 2004 der Verbandszeitung „Volk auf dem Weg“ gab. Es verdeutlicht die Ansichten des Autors, jedoch ist der wissenschaftliche Ertrag äußerst gering.
Das vierte Kapitel besteht aus einer im Jahre 2011 erstmals veröffentlichten Denkschrift des Autors. Auf über vierzig Seiten wird hier das Schicksal der russisch-deutschen Minderheit thematisiert, angefangen mit der Situation während des Ersten Weltkrieges bis zu Entwicklungen in der jüngsten Vergangenheit. Das Kapitel bietet einen kurzen und prägnanten Überblick und wäre daher als Einstieg in das Thema gut geeignet. An den Schluss gestellt, fällt es leider durch viele Doppelungen zu Inhalten der vorherigen Kapitel auf.
Im vierten Kapitel löst Krieger sein im Buchtitel gegebenes Versprechen ein und berichtet auch über die Situation der Russlanddeutschen in der Bundesrepublik. Leider wird dieses Thema nur kurz auf drei Seiten angerissen. Vor diesem Hintergrund ist der Titel der Publikation irreführend, da er suggeriert, dass die inzwischen in ihre historische Heimat zurückgekehrten Russlanddeutschen im Mittelpunkt der Veröffentlichung stehen.
Auch das „kollektive Gedächtnis“ der russlanddeutschen Minderheit kann nicht als Leitmotiv der Publikation betrachtet werden. Nur im Vorwort geht der Autor ausdrücklich auf dieses Thema ein. Dabei geht er davon aus, dass die Russlanddeutschen über eine „sinn- und konsensstiftende Deutung der Vergangenheit“ (S. 1) verfügen. Als „Basisnarrative“ dieser Vergangenheitsdeutung identifiziert Krieger „Dienst- und Arbeitsethos, Leidens- und Opfererfahrungen [sowie] Freiheitsdrang und Widerstand“ (S. 1). Der potenziell tendenziöse Charakter dieser Vergangenheitsdeutung, die im Dienste einer kollektiven Identitätsbildung steht, wird vom Autor nicht thematisiert. Vielmehr scheinen die Motive, welche Krieger als Basisnarrative identifiziert auch seine eigene Sicht der Vergangenheit zu prägen. So deutet er z. B. die Immigration der Russlanddeutschen in die Bundesrepublik monokausal als ein Zeichen des Protests und der mangelnden Bereitschaft, Diskriminierungen hinzunehmen. Andere Beweggründe, etwa wirtschaftlicher Natur, blendet der Autor aus. Krieger scheint nicht nur das Ausmaß, sondern auch die Wirkung der Auflehnung der Minderheit gegen das Regime zu überschätzen. So urteilt er im Hinblick auf die Bedeutung des Widerstands, der von den Russlanddeutschen ausging: „Überdurchschnittlich viele Russlanddeutsche nahmen ab 1917 an verschiedenen Protestaktionen teil und trugen nicht unwesentlich zur Diskreditierung und letztlich zum Zusammenbruch des Unrechtsstaates UdSSR bei“ (S. 4).
Die These vom bedeutenden Beitrag der Russlanddeutschen zum Scheitern des kommunistischen Regimes in der Sowjetunion müsste, um glaubwürdig zu sein, vom Autor besser untermauert werden. Dies leistet Krieger überzeugend für eine andere These seiner Publikation: „Unter allen Völkern und Minderheiten der einstigen UdSSR waren es die Russlanddeutschen, die mit Abstand am meisten unter der Sowjetherrschaft gelitten haben“ (S. 4). Diese Behauptung belegt er anhand vieler Statistiken, stets mit einem Seitenblick auf die Situation anderer Minoritäten in der ehemaligen Sowjetunion.
Die Bestandteile der Sammlung variieren stark in ihrer Qualität. Auffallend ist, dass sie ursprünglich für unterschiedliche Adressatengruppen konzipiert wurden. Dies wird auch durch die fehlende Einheitlichkeit im wissenschaftlichen Apparat deutlich. Neben Beiträgen mit Belegangaben in den Fußnoten stehen Unterkapitel, die am Schluss auf ausgewählte Literaturtitel und Quellen verweisen. Im vierten Kapitel verzichtet der Autor sogar auf beides.
Aufgrund der Heterogenität der einzelnen Bestandsteile kann man die Veröffentlichung nicht vorbehaltlos empfehlen. Auch ist es dem Autor trotz der Zusammenstellung der einzelnen Beiträge zu Kapiteln nicht gelungen, seinem Werk einen roten Faden zu verleihen. Gut recherchiert und interessant geschildert sind aber die Inhalte der Publikation, die sich mit Verfolgungen und anhaltenden Benachteiligungen der russlanddeutschen Minderheit befassen. Hier ist es Krieger gelungen, ein gemeinhin wenig beachtetes Kapitel der sowjetischen Geschichte spannend zu beleuchten.
Zur Rezensentin:
Maria Glasmann, geb. 1982, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am
Institut für Katholische Theologie der Universität des
Saarlandes.
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