theologie.geschichte - Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte

Winfried Eberhard/Christian Lübke (Hg.), Die Vielfalt Europas. Identitäten und Räume, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag  2009, 724 Seiten, EUR: 80,00,  ISBN: 978-3-86583-382-2 (englische Ausgabe: The Plurality of Europe. Identities and Spaces, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2010, 678 Seiten, ISBN: 978-3-86583-486-7)

Eine Tagung des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig im Juni 2007 war der Anlass für die Herausgabe dieses umfangreichen Sammelbandes, der sowohl in deutscher als auch in englischer Sprache erschien. Die Konferenz war vom Bundesministerium für Bildung und Forschung angeregt und stattlich gefördert worden. Den Hintergrund für dieses Engagement bildete die Tatsache, dass Deutschland im ersten Halbjahr 2007 die EU-Ratspräsidentschaft innehatte und in dieser Zeit um die Verabschiedung der europäischen Verfassung gerungen wurde. Als Referenten konnten für die Konferenz nicht nur eine ganze Reihe hervorragender Wissenschaftler aus dem In- und Ausland, sondern auch jüngere, innovative Forscher und Forscherinnen gewonnen werden. Damit waren die besten Voraussetzungen geschaffen, um das Thema der Tagung in seiner ganzen Breite, aber auch mit neuen inspirativen Akzenten abhandeln zu können.

Ziel der Tagung sollte es sein, den "Facettenreichtum europäischer Identität(en)" zu beleuchten und die "aktuellen Europaforschungen verschiedener geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen" zu bilanzieren. Dabei bildeten die europäischen Verfassungsdiskussionen - auch wenn dies in den Reden und Beiträgen während der Tagung kaum thematisiert wurde - unverkennbar die Basis der Tagung. Das Europamotto "In Vielfalt geeint" sollte offenbar in alle Richtungen wissenschaftlich reflektiert (vgl. S. 37) werden. Zudem sollte der Beweis erbracht werden, dass nicht nur Einheitlichkeit, sondern auch die Bewahrung von Vielfalt und Differenzierung ein Ziel europäischer Integration sein müsse und sein werde (vgl. S. 12).

Die Konferenz wurde in zwölf Sektionen durchgeführt, deren thematische Schwerpunkte waren:

- Nationale und regionale Identitäten: Konkurrenz und Integration
- Konstituierung und Relevanz europäischer Kulturlandschaften
- Europas ökonomische Vernetzung und Verräumlichung
- Konfessionelle und religiöse Identitäten im Wandel
- Europa als Erfahrungs- und Kommunikationsraum (eine Sektion, die im Tagungsband nicht dokumentiert wurde)
- Soziale Muster der regionalen und nationalen Identitätsbildung: Konsum und Tourismus
- Europäische Erinnerungskulturen: Dialog und Konflikt
- Transnationalisierung in der europäischen Geschichte und Kultur
- Lesen, Lernen und Forschen im Spannungsfeld von nationalem Bildungskanon und transnationaler Wissensgesellschaft
- Europäisierende Konflikte
- Europa und die Anderen: Der Blick von außen
- Die Künste als universelle Sprachen oder Nationalkultur

Identität und Identitätsbildung angesichts der immer größer werdenden Vielfalt einer wachsenden EU sind - auch das haben die parallel laufenden Verfassungsdiskussionen in den einzelnen europäischen Ländern gezeigt - zentrale Probleme einer europäischen Politik. Dabei spielen die Aufarbeitung der belastenden Vergangenheiten des 20. Jahrhunderts, aber auch religiös-kulturelle Differenzen eine große Rolle.

Wladislaw Bartoszewski hebt in seinem Einleitungsreferat hoffnungsvoll hervor, dass die "Vergangenheitsbewältigung vor allem durch das Näherrücken und das gegenseitige bessere Verständnis von möglichst vielen Menschen erreichbar" sei. Es gehe "keineswegs um die Verdrängung, sondern um das ehrliche Interesse für die Fakten und für die Geschichte, die uns näherbringen muss, wie die totalitären, autoritären Kräfte die demokratischen Systeme, die Menschheit und jeden von uns bedrohen." (S. 46) Diese Hoffnung können die Konferenzteilnehmer als Wissenschaftler jedoch im Allgemeinen nicht bekräftigen.

Mit Blick auf die verschiedenen Erinnerungskulturen der europäischen Staaten und Regionen zeigt Stefan Troebst, dass es keinen gesamteuropäischen lieu de mémoire gibt. Das Holocaustgedenken sei dazu ebenso wenig geeignet wie das Jahr 1945, da es für Westeuropa, aber auch für die Gesellschaften Westmitteleuropas ein Symbol der Befreiung darstellt, für Ostmitteleuropa jedoch ein Symbol der Unterjochung bedeutet, ist es doch das Jahr der Auslieferung ihrer Staaten durch die westlichen Verbündeten an den Stalinismus. Das Holocaustgedenken steht dagegen in Konkurrenz zur ostmitteleuropäischen Erfahrung des Gulag und wird zudem als eine deutsche und nicht als eine gesamteuropäische Angelegenheit wahrgenommen.

Welche "Vergangenheiten" im Einzelnen historisch zu verarbeiten sind, hängt von den Spezifika der nationalen Geschichte ab. Die Vergangenheitsbewältigung führt dabei keineswegs zu einer nationalen oder gar europäischen Identitätsbildung.

In Frankreich, wie Étienne François zeigt, ist seit den 1980er Jahren durch die Aufarbeitung des Vichy-Regimes, des Algerienkriegs und der französischen Kolonialpolitik der nationale Konsens über die historische Größe Frankreichs zerbrochen. Kollektive Identitätsbildung ist dadurch schon nicht einmal mehr im nationalen Rahmen möglich. Sören Brinkmann konstatiert, dass auch in Spanien kein nationaler Konsens über die jüngere Vergangenheit mehr vorhanden ist. Unmittelbar nach dem Ende des Franco-Regimes war das Generalamnestiegesetz von 1977 der Versuch, auf der Grundlage einer Kollektivschuldthese einen nationalen Neuanfang ohne historische Belastung zu beginnen. Die Schlussstrichpolitik scheiterte jedoch spätestens Ende der 1990er Jahre, als sich das Bedürfnis der Enkelgeneration nach Reparation für das erlittene Unrecht der Eltern und Großeltern Gehör verschaffte und den bis heute anhaltenden Streit über die Wertung der franquistischen Vergangenheit entfachte. Wolfgang Höpken zeigt mit Blick auf Südosteuropa, dass die gewaltsamen Sezessionsprozesse im Gebiet des ehemaligen Jugoslawien das Gedächtnis der Menschen neu codiert haben. Die Erinnerung wurde "entjugoslawisiert" und der neu errichtete Nationalstaat jeweils zum Telos der Geschichte stilisiert. Die Konstruktion einer nützlichen Vergangenheit steht, wie Jutta Scherrer zeigt, auch in der russischen Vergangenheitspolitik im Vordergrund. Nach 1991 schien es leichter zu sein, Elemente vorsowjetischer Traditionen aufzugreifen, als die sowjetische Periode aufzuarbeiten (vgl. S. 322). Seit dem Amtsantritt Putins wird nun auch systematisch auf das stalinistische Erbe zurückgegriffen. Eine kritische Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte findet unter staatspolitischen Prärogativen nicht mehr statt.

Europäische Identitätsbildung ist auch angesichts der religiösen Vielfalt Europas ein zentrales Problem. Darauf musste die Sektion, die Konfessionen und Religionen behandelte, einmal mehr hinweisen. In diesem Abschnitt sollten die religiösen Gemeinschaften und ihre Lehren im Sinne Eugen Lembergs als "ideologische Systeme" untersucht werden, die zur Identitätsbildung und Integration großer Gruppen und ganzer Gesellschaften führen. In jüngerer Zeit schwächt sich in einem Teil Europas diese Funktion jedoch offenbar ab, während sie sich in anderen Teilen Europas unter antieuropäischen Vorzeichen verstärkt. So zeigt Carlos Collado Seidel am spanischen Beispiel, dass seit dem Ende der Franco-Diktatur die Kirchlichkeit auf der iberischen Halbinsel in bis dahin kaum vorstellbarer Weise zurückgegangen ist. Die Modernisierung der spanischen Gesellschaft als Teil der europäischen Kommunität führte angesichts einer rigoristischen, der gesellschaftlichen Realität nicht mehr entsprechenden Moral zu einem irreversiblen Autoritätsverlust der Kirche in der spanischen Gesellschaft. Das umgekehrte Phänomen schildert Miklós Tomka für Ost- und Mitteleuropa: Postkommunistische Gesellschaften sind hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Identität beschädigt. Religion und Kirchen kommt in solchen Gesellschaften ein hoher Stellenwert für die gesellschaftliche Rekonstruktion zu. Einerseits betrachten viele Menschen in Ostmitteleuropa im Rückblick die Zeit von 1945 bis 1989 als die glücklichste Zeit ihres Lebens –(eine Anschauung, die insbesondere Rentner und Jugendliche vertreten), andererseits genießt die Religion in Osteuropa ein hohes Prestige, weil sie zum einen im Kommunismus Widerständigkeit bewiesen hat und weil ihr zum anderen auch - dies gilt insbesondere für die katholische Kirche - ein besonders hohes Maß an Orientierungsfähigkeit zugestanden wird. Vasilios N. Makridis weist schließlich darauf hin, dass in westlichen Untersuchungen über das Christentum in Europa in der Regel auch immer nur das westliche Christentum behandelt wird. Mit der Orthodoxie finde keine Auseinandersetzung statt. Wenn von europäischen Werten als Grundlage europäischer Identität geredet wird, finde die orthodoxe Kritik an den Werten des Westens keine Berücksichtigung. Angesichts der Befunde dieser Sektion stellt sich einmal mehr die Frage, ob Konfessionen und Religionen überhaupt dazu in der Lage sind, zur europäischen Identitätsbildung beizutragen oder ob gerade sie eines der größten Hindernisse darstellen.

Es ist bedauerlich, dass die Schlussveranstaltung, in der die Ergebnisse der Konferenz zusammengetragen und kontrovers diskutiert wurden, nicht dokumentiert wurde. Dort wurde einmal mehr deutlich, dass Europa "zuweilen unter all den Unterschieden" verschwindet und Gemeinsamkeiten nur gelegentlich und dann noch im Kontext globaler Tendenzen zur Sprache gebracht werden. Der "Prozess der Weiterentwicklung und Anpassungsfähigkeit oder der Aufweichung und Überwindung nationaler Phänomene" stand bei allen Debatten ebenso im Hintergrund, wie auch die Erkenntnis, dass der "Trend zum Transnationalen", also der Analyse gesellschaftlicher Phänomene in globaler Perspektive, zu Wissenschaftsdiskursen führt, die den europäischen Rahmen sprengen und in denen "von Europa kaum mehr die Rede ist."[1]

Als breit angelegte Bilanz gegenwärtiger Tendenzen der Europaforschung ist der vorliegende Sammelband von unschätzbarem Wert. Zugleich ist er auch ein Zeitdokument, das widerspiegelt, wie im Jahr 2007 von Seiten der Bundesregierung versucht wurde, eine in die Sackgasse geratene europäische Integrationspolitik mit den Mitteln eines geistes- und sozialwissenschaftlichen Diskurses zu fördern.



[1] Tagungsbericht Die Vielfalt Europas: Identitäten und Räume. 06.06.2007-09.06.2007, Leipzig, in: H-Soz-u-Kult 21.08.2007.


Zum Rezensenten:

Dr. August H. Leugers-Scherzberg, geb. 1958, Historiker und katholischer Theologe, Herausgeber von theologie.geschichte, z.Zt. Lehrstuhlvertreter im Fach Kirchen- und Theologiegeschichte an der Universität des Saarlandes.





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