Klaus E. Müller, Schuld und Sühne. Die Vorgeschichte des Erlösungsglauben (Wissenschaftliche Paperbacks : Ethnologie ; 32), Berlin: Lit 2012, 195 S., 29.90 EUR, ISBN 978-3-643-11753-3
Der emeritierte Frankfurter Professor für Ethnologie Klaus E. Müller wendet sich in seinem neuen Buch einer kulturhistorischen Untersuchung des christlichen Erlösungsglaubens zu. Müller betont in der Einleitung, dass seine wissenschaftliche Zugangsweise „nicht nach jedermanns Geschmack“ sei und bei „gläubigen Christen auf Vorbehalte stoßen“ werde (V). Allerdings wird beim genauen Lesen deutlich, dass Müllers Zugangsweise aus wissenschaftlicher und nicht aus weltanschaulicher Perspektive problematisch ist.
Das Ziel Müllers besteht darin, die Passion Jesu, ihre christliche Deutung und Feier im Ritus der katholischen Messe vor ihrem kulturgeschichtlichen Hintergrund, der den Gläubigen nicht bewusst sei, zu lesen. Für den Autor liegt dieser kulturgeschichtliche Hintergrund nun nicht primär in der frühjüdischen Theologie und rituellen Praxis, sondern er spannt den Bogen weiter aus. Sein Anspruch besteht darin, Vorstellungen von Schuld und Sühne durch die gesamte Kulturgeschichte bis in die Altsteinzeit hinein zu verfolgen. Hierzu bedient er sich klassischer kulturhistorischer Methodik, wie sie bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts unter Ethnologen verbreitet war, dann aber aus den Reihen der Fachvertreter unter dem Stichwort „Essentialisierung“ der Kritik unterzogen wurde. Müller rekonstruiert allgemeingültige Weltbilder unterschiedlicher Kulturstufen, welche definiert über ihre Wirtschaftsweise und Sozialorganisation werden. Dabei setzt er mit dem Weltbild altsteinzeitlicher Wildbeuter ein, schreitet weiter zur agrarischen Vorstellungswelt neolithischer Dorfgemeinschaften, die vom Feldbau lebten, und endet mit dem Weltbild, das dem sakralen Königtum zugrunde liegt. Auf diese Weise arbeitet er sich bis in die Antike und damit die Zeit Jesu vor.
Im Fokus seiner jeweiligen Rekonstruktion stehen Vorstellungen von Schuld, Sühne und Opfer, sodass nicht diesen Vorstellungskomplex primär betreffende Phänomene, wie Schamanismus weitgehend ausgeklammert werden. Dies erscheint problematisch, da gerade Schamanismus im zweiten Teil der Studie, der Deutung der Person Jesu, wieder als Bezugspunkt dient. Die Rekonstruktion der betreffenden Weltbilder geschieht, indem Müller Mythen, archäologische Befunde, ethnohistorische Quellen und rezente ethnografische und volkskundliche Befunde interpretiert und additiv aufeinander bezieht. Aus seiner harmonisierenden Darstellung leitet er dann wieder neue Interpretationen ab. So sieht er in der Stierverehrung und in Stierspielen einen gemeinsamen Zug neolithischer Religion. Die heute noch ausgeübte Stierhatz durch spanische und südfranzösische Städte erscheint ihm als eine weitgehend säkularisierte Form dieser jungsteinzeitlichen religiösen Praxis. Davon ausgehend interpretiert er wiederum die sog. Henges in England und Steinsetzungen in der Bretagne als Begrenzungen für jungsteinzeitliche Stierhatzen. Dieses Verfahren führt soweit, dass er heutige Flurnamen in der Nähe solcher Steingruppen, die eine Bezeichnung für Stier beinhalten, als Stütze für diese These bemüht (105).
Nachdem er auf diese Weise die entsprechenden Weltbilder rekonstruiert und ihren Kern letztlich im steinzeitlichen Bärenfest festgemacht hat, wendet er sich der Passion Jesu und der katholischen Messfeier zu. Im Blick auf das Leben und die Passion Jesu setzt er, wie schon bei seinen kulturhistorischen Rekonstruktionen, auf ein additiv harmonisierendes Verfahren. Er legt seiner Analyse eine Evangelienharmonie zu Grunde, die um für seine Aussageabsicht passende Stellen aus apokryphen Evangelien erweitert wird. Sämtliche erzählerischen und damit auch theologischen Differenzen zwischen den Evangelien werden durch dieses Verfahren nivelliert. Die Grenzen zwischen einem durch historisch-kritische Rückfrage an die Texte gewonnenen Bild von der Passion und theologisch bedingten Aussagen verschwimmen, auch wenn er hier und da Bezug auf John D. Crossans Jesus-Buch nimmt. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Müller die Passion als eine Aktualisierung des Bärenrituals im antiken Kontext, angereichert durch schamanistische Elemente, deutet. Dass nun auch die Messe aus der Perspektive des Bärenfestes und der von ihm abgeleiteten jungsteinzeitlichen agrarischen Riten gedeutet wird, ist damit zu erklären, dass Müller sämtliche religiösen und profanen Praktiken mehr oder weniger auf das von ihm in Anschluss an Hans-Joachim Paproth und andere rekonstruierte altsteinzeitliche Bärenfest zurückführt.
Provoziert werden von diesem Buch wohl eher Fachvertreterinnen und Fachvertreter der Ethnologie und der Theologie als gläubige Christen. Die ersteren werden sich fragen, wie nun dieses Phänomen der longue durée traditionellster kulturhistorischer Forschung zu erklären ist. Die zweite Gruppe steht vor dem Rätsel, warum der Autor der Studie umfangreiche jüngere theologische Literatur zum Thema unbeachtet ließ und so das Bild entstehen lässt, als ob Theologinnen und Theologen wenig über die kulturgeschichtlichen Hintergründe der Passion und der damit verbunden Theologumena reflektieren würden. Ebenso negativ fällt ins Auge, dass Müller in seiner Abhandlung weder auf René Girard noch auf die von seiner Theorie abgeleiteten theologischen Diskussionen Bezug nimmt. Auch im Blick auf die Messe wurden kulturgeschichtliche Hintergründe von theologischer Seite in jüngerer Zeit beleuchtet, wobei Müller auch dann über neuere Ergebnisse hinweggeht, wenn sie sich von ihm gut verwerten ließen. Der Befund, dass der Wortgottesdienst in Analogie zum Einzug eines hellenistischen Herrschers gestaltet ist, könnte ein solcher Anknüpfungspunkt sein, der noch näher läge als sein Verweis auf das byzantinische Hofritual (172). Warum er für die Kontextualisierung nicht auf Bertram Schmitz’ Studie „Vom Tempelkult zur Eucharistiefeier“ aus dem Jahr 2006 zurückgreift, erscheint ebenfalls verwunderlich. Letztlich verdeutlicht Müllers unkritische Verwendung des Begriffs „spätjüdisch“ exemplarisch eine Grundproblematik der Studie (175). Der Begriff, der eine Schöpfung der religionsgeschichtlichen Schule darstellt, wurde schon vor etwa vierzig Jahren von der Forschung aufgrund seiner antijüdischen Implikationen kritisiert, in der Folgezeit ad acta gelegt und durch den Begriff „frühjüdisch“ ersetzt. Müller scheint dies nicht rezipiert zu haben, wie andere für seine Studie durchaus bedeutungsvolle Diskurse in der theologischen, exegetischen und religionsgeschichtlichen Forschung, worüber auch selektive Hinweise und Bezugnahmen auf jüngere Literatur nicht hinweg täuschen können.
Es besteht also wenig Anlass, künftig die Bärenfeste und das Hainuwele Mythologem als primären Hintergrund zum Verstehen des Neuen Testaments und der Messfeiern zu betrachten.
Zum Rezensenten:
Dipl. theol. Harald Grauer, geb. 1977, ist Bibliothekar am
Anthropos-Institut, St. Augustin.
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