Hans Henning Hahn, Robert Traba (Hg.), unter Mitarbeit von Maciej Górny und Kornelia Kończal. Deutsch-Polnische Erinnerungsorte. Bd. 3: Parallelen, Paderborn/München/Wien/Zürich 2012, Schöningh-Verlag, 490 S., 58 €, ISBN 978-3-506-77341-8
Der vorliegende Band ist der zuerst erschienene einer auf
zunächst fünf Bände angelegten Reihe Deutsch-Polnische Erinnerungsorte —
Polsko-niemieckie miejsca pamięci.
Sie dokumentiert Ergebnisse eines seit dem Herbst 2006 am Zentrum für Historische Forschung
Berlin und der Polnischen
Akademie der Wissenschaften in Kooperation mit dem Institut
für Geschichte an der Carl-von-Ossietzky-Universität
Oldenburg laufenden Forschungsprojektes gleichen Namens, an dem etwa
130 Autorinnen und Autoren aus fünf Ländern beteiligt sind.
Zum vorliegenden Band haben einunddreißig polnische und deutsche
Wissenschaftler(innen) aus den unterschiedlichsten akademischen
Disziplinen beigetragen. Während es Band 5, der der Theorie
und Praxis des sozialen Gedächtnisses gewidmet ist, allein auf
Polnisch gibt, sind die Bände 1- 4 (Geteilt/Gemeinsam, Parallelen, Reflexionen)
sowohl in einer deutschsprachigen, als auch in einer polnischsprachigen
Version erhältlich.
Grundlage des Projekts ist der Begriff der „Erinnerungsorte“, der in
der Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten sowohl qualitative als auch
quantitative Erweiterungen zu einer Metapher, einem „Topos“, erfahren
hat: einerseits von einem ursprünglich auf nationale
Identität ausgerichteten Verständnis hin zu einem zunehmend
grenzüberschreitend gedachten Konzept, andererseits nicht nur
materielle Orte (Gedenkstätten, Denkmäler) umfassend, sondern
auch solche immaterieller Natur (etwa Geschichtsmythen,
künstlerische Werke, nationale Symbole). Methodologisch und
historisch sehen sich die Herausgeber und Autoren in der Tradition der
Arbeiten von Maurice Halbwachs zum kollektiven Gedächtnis sowie
von Pierre Nora und Étienne François zu den lieux de mémoire, sowie der
Ausdifferenzierung und Weiterführung dieser Arbeiten durch Hagen
Schulze, Moritz Csáky und andere im letzten Jahrzehnt.
Unter Zugrundelegung des von Klaus Zernack in die historische Debatte
eingeführten Konzepts der „Beziehungshaftigkeit“ polnischer und
deutscher Geschichte identifiziert das Gesamtprojekt „gemeinsame,
geteilte, sowie parallele“ Erinnerungsorte. Letztere werden —neu
für die bisherige wissenschaftliche Literatur — verstanden als den
jeweiligen Völkern eigene, zeitlich und räumlich prinzipiell
unterschiedliche „Orte“, die jedoch in den jeweiligen Gesellschaften
vergleichbare Funktionen für deren Identitäts- und
Erinnerungshaushalte erfüllen.
Die insgesamt zweiundzwanzig Beiträge des vorliegenden Bandes sind
in sich abgeschlossen und unabhängig voneinander konzipiert. Sie
wurden von jeweils einem oder zwei Autor(inn)en verfasst und sind nach
einem einheitlichen Prinzip aufgebaut. Einem enzyklopädischen
Stichwort folgt eine einführende Beschreibung der beiden Topoi,
die sequentiell oder im Reißverschlussprinzip abläuft.
Danach kommt eine ausführliche Darstellung beider Gegenstände
unter Herausarbeitung der realen oder imaginierten Verbindungslinien
zwischen ihnen. Den Schluss bilden ein knapp gehaltener Hinweis auf
weiterführende Literatur und der Anmerkungsapparat.
Thematisch umspannen die Beiträge ein weites Feld, von
historischen Ereignissen (etwa Schlachten, internationale
Verträge) über nationale Symbole (Hymnen, Dichter, Musiker)
bis zu Gegenständen des Alltags (Autos, Fernsehfiguren). Deren
eingehende Analyse lässt sowohl Ähnlichkeiten als auch
prinzipielle Unterschiede — und damit wiederum viele Momente
deutsch-polnischer Verflechtungen und Transfers — erkennen.
Parallel untersucht werden zum Beispiel die traditionellen Rollenbilder
der Frau (Kinder, Kirche, Küche vs. Matka Polka), Siege in
Fußball-Europameisterschaften, die national als Bestätigung
des „Wir sind wieder wer“ interpretiert wurden (Bern 1954 vs. Wembley
1973), die Rolle von Autos für Jedermann im Zuge der beginnenden
Massenmotorisierung (VW Käfer und Trabi vs. Maluch), oder beliebte Figuren aus
Kindersendungen des Fernsehens (Sandmännchen West und Ost vs. Lolek i Bolek).
Eine andere Gruppe von Beiträgen befasst sich mit nationalen
Symbolen: Rhein vs. Weichsel als völkische Metaphern, hl.
Bonifatius vs. hl. Adalbert/Wojciech als Begründer des
Christentums unter Deutschen oder Polen, Prinz Eugen vs. Jan III
Sobieski als Verteidiger des Christentums gegen den Islam, Johann
Wolfgang von Goethe vs. Adam Mickiewicz als Nationaldichter, Ludwig van
Beethoven vs. Frédéric/Fryderyk Chopin als Ikonen
nationalen Musikschaffens, Gustav Freytag vs. Henryk Sienkiewicz als
nationale Identität stiftende Romanciers, Deutschlandlied vs. Mazurek Dąbrowskiego als Nationalhymnen.
Von besonderem Interesse für historisch Interessierte sind die
Beiträge, die sich Themen aus der Geschichte und ihrer
Parallelisierung im deutsch-polnischen Kontext widmen. Beispielhaft
erwähnt seien der Brief der polnischen Bischöfe von 1965 vs.
der Kniefall Willy Brandts 1970 am Warschauer Ghetto-Mahnmal als
Zeichen der Bereitschaft, eigene nationale Schuld anzuerkennen und um
Vergebung zu bitten, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation
(vom Mittelalter bis 1806) vs. die Rzeczpospolita
Polska (zwischen 1500 und 1795), in der jeweiligen Erinnerung
verklärt als „Goldene Zeitalter“, oder die Schlacht am Teutoburger
Wald (9 n. Chr.) vs. die Schlacht von Cedynia (972 n. Chr.) als
nationale Gründungsmythen, ferner die höchst
unterschiedlichen Rezeptionen von Versailles sowie von Jalta und
Potsdam in beiden Ländern, die ordnungspolitischen Vorstellungen
von einem deutsch beherrschten „Mitteleuropa“ beziehungsweise einem
polnisch dominierten międzymorze von der Ostsee bis zur
Adria und dem Schwarzen Meer, oder die Funktionen, die die jeweiligen
östlichen — seit Jalta und Potsdam verlorenen — Grenzgebiete
(„Deutscher Osten“ beziehungsweise polnische Kresy) für den
historisch-politischen Diskurs der betroffenen Völker hatten und
noch haben.
Gerade in den drei zuletzt genannten Fällen ergeben sich
fruchtbare Denk- und Interpretationsansätze im Sinne einer
deutsch-polnischen histoire
croisée dadurch, dass Versailles die Wiedergeburt eines
polnischen Staates — unter anderem in Konflikt mit dem Deutschen Reich
— brachte, dass die imaginierten Gebilde „Mitteleuropa“ und międzymorze territorial in weiten
Teilen identisch waren, sowie nicht zuletzt dadurch, dass der ehemalige
Deutsche Osten nach 1945 Polens Westen geworden ist.
Zwei Beiträge sind dem Topos des politischen „Verrats“ gewidmet,
einmal festgemacht an den Persönlichkeiten Wallensteins und Radziwiłłs
als „Visionäre und Verräter“ zugleich, zum andern an zwei
„Dolchstoß“-Erzählungen: einer deutschen, die behauptet, die
deutschen Armeen seien im Ersten Weltkrieg „im Felde unbesiegt“
gewesen, die Heimat sei ihnen aber im Herbst 1918 in den Rücken
gefallen und habe dadurch die Niederlage verursacht, sowie einer
polnischen, die die Konföderation pro-russischer Adliger von
Targowica (1792) als Auslöser der Ereignisse sieht, die in den
folgenden Jahren zur Aufteilung des polnischen Staates und zu seinem
Verschwinden von der Landkarte für mehr als ein Jahrhundert
führten. Während die deutsche „Dolchstoßlegende“ seit
1945 nur noch vom verlorenen Haufen der Geschichtsrevisionisten
hochgehalten wird, ist „targowica“
in Polen auch heute noch ein politischer Kampfbegriff. Er wird etwa im
Zusammenhang mit der Flugzeugkatastrophe von Smolensk (10. April
2010) gegen die Regierung gebraucht, der die Opposition vorwirft, bei
der Aufklärung des Unglücks russische statt polnischer
Nationalinteressen zu vertreten.
Targowica ist nicht das
einzige Beispiel für den unterschiedlichen Stellenwert der in dem
vorliegenden Band betrachteten historischen Ereignisse und nationalen
Symbole in den jeweiligen Gesellschaften heute. Es hat sich in
Deutschland eingebürgert, Geschichte vorwiegend unter dem
Blickwinkel der Ereignisse der NS-Zeit zu sehen und daher sowohl die
eigene Geschichte als auch die mit ihr verbundenen Symbole höchst
kritisch zu interpretieren. Der Begriff „national“ wird im politischen
Diskurs als zumindest suspekt, wenn nicht gar als „rechtslastig“ und
damit gesellschaftlich nicht konsensfähig angesehen.
Demgegenüber steht in Polen „patriotische Erziehung“ (wychowanie patriotyczne), die zu
Stolz auf die eigene Nation und deren Geschichte erziehen soll, seit eh
und je als eines der obersten Lehrziele im Curriculum der
allgemeinbildenden Schulen und strukturiert nicht nur den
Geschichtsunterricht, sondern auch den in der Muttersprache.[1]
Auf regionaler und nationaler Ebene finden in Polen Wettbewerbe im
Rezensieren patriotischer Gedichte und Singen patriotischer Lieder
statt, und zu Schuljahresbeginn werden die jeweiligen ersten Klassen
der Sekundarstufe in einem Festakt (ślubowanie)
mit Fahnen und Nationalhymne auf die Nation vereidigt. Während in
Deutschland das Zeigen der Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold durch
Privatpersonen in der Öffentlichkeit außerhalb von
Fußball-Länderspielen gemeinhin als anstößig gilt
— obwohl diese Farben seit 200 Jahren für die besten
freiheitlichen und demokratischen Traditionen der Deutschen stehen —
flaggt ganz Polen an staatlichen und kirchlichen Feiertagen oder bei
Papstbesuchen Weiß-Rot, sieht man — wie in den USA — die
Nationalflagge auch ohne besonderen Anlass an Privathäusern und
Autos. Die Beiträge des vorliegenden Bandes sind vorzüglich
geeignet, den Blick für die Unterschiede im Stellenwert des
Nationalen bei den heutigen Polen und Deutschen zu schärfen. Jenen
kann gerade auf dem Gebiet deutsch-polnischer Begegnungen nicht genug
Aufmerksamkeit geschenkt werden, weil es ohne ihre
Berücksichtigung nur allzu leicht zu gegenseitigem
Unverständnis kommt.
Deutsch-polnische Erinnerungsorte –
Parallelen ist ein Buch, das man am liebsten in einem Zug
durchlesen möchte, gibt es einem doch einen neuartigen,
facettenreichen und faszinierenden Blick auf die Erinnerungs- und
Identitätshaushalte beider durch ihre Geschichte und geographische
Lage auf Gedeih und Verderb miteinander verbundenen Völker. In
wohlwollender Distanz zur jeweiligen nationalen Mythologie, in gutem
Deutsch und verständlich geschrieben — ein großes Lob sei
hier an die Übersetzer(innen) gerichtet —und sorgfältig
ediert (leider heute nicht mehr selbstverständlich), ist es durch
die ausführlichen Personen- und Ortsregister vielfältig
erschließbar. Im Mittel auf zwanzig Seiten Umfang
beschränkt, können alle Beiträge auch einzeln für
die historisch-politische Bildungsarbeit in Schule und
Erwachsenenbildung empfohlen werden. Eine preiswerte Taschenbuchausgabe
sollte baldmöglichst folgen, um dem Band ein breites Lesepublikum
zu erschließen.
Anmerkungen:
[1] „Patriotische
Erziehung“ ist verbindlich ab der vierten
Grundschulklasse. Sie ist jedoch keineswegs als Erziehung zu
nationalistischer Überheblichkeit gedacht. Nach polnischer
Auffassung kann jedoch nur derjenige anderen Völkern Achtung
entgegen bringen, welcher Stolz auf das eigene Volk und dessen
Geschichte zeigt.
Joachim Neander, Kraków/Polen.
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