theologie.geschichte - Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte

Ulf Bohmann, Benjamin Bunk, Johanna Koehn, Sascha Wegner, Paula Wojcik (Hrsg.), Das Versprechen der Rationalität. Visionen und Revisionen der Aufklärung, München 2012, Wilhelm Fink Verlag, 344 S., 39.90 EUR, ISBN: 978-3-7705-5321-1


Spätestens seit der bahnbrechenden und nicht unumstrittenen „Dialektik der Aufklärung“ von Adorno und Horkheimer versteht man unter Aufklärung nicht nur eine Epoche im 18. und 19. Jahrhundert, sondern darüber hinaus eine Bewegungsstruktur menschlichen Denkens durch welche die Ratio die Natur entzaubern soll, um auf diese Weise eine bessere Kontrolle über sie zu gewinnen. Der Preis, der für diese Rationalisierung zu entrichten ist, besteht im Verzicht auf mythische Wertauslegung. An ihre Stelle tritt das falsche Ideal einer formalisierten, szientifisch verkürzten Systemvernunft, die zum instrumentellen Herrschaftsmittel erhoben wird. So eine stark auf Gesellschaftskritik fokussierte Analyse der Rationalität hat sich der 2012 erschiene Sammelband „Das Versprechen der Rationalität. Visionen und Revisionen der Aufklärung“ nicht vorgenommen. Seine Beiträge konzentrieren sich vielmehr auf eine epochen- und themenübergreifende Kontextualisierung und Problematisierung der mit dem Rationalitätsbegriff verbundenen Inhalte, ohne eine festgelegte Begriffsverwendung von Rationalität zugrunde zu legen.

Ein derart umfassender Begriffsdiskurs ermöglicht den fünf Herausgeber/innen, den Geltungsanspruch von Rationalität im Spannungsverhältnis von Formulierung im 18. und Überprüfung im 21. Jahrhundert auszuloten und ihren „interdisziplinär“ und „induktiv“ (S. 13. und 15) aufgefassten Ansatz zu begründen. Das besondere Augenmerk gilt dabei dem „Versprechenscharakter von Rationalität“ (S.12) sowie dem „auf Geltung drängenden Absolutheitsanspruch“ (S. 14), der sich aus diesem Versprechen ergibt und alle lebensweltlichen Bereiche durchzieht. In Anlehnung an Charles Taylors Mentalitätsgeschichte wird nach der Wirkmächtigkeit des Rationalitätsideals gefragt und danach, inwiefern dieses Versprechen der Rationalität eine „prinzipielle Gestaltbarkeit“ und damit letztendlich auch eine „Beherrschung“ von individueller und gesellschaftlicher Lebenswelt voraussetzt (S.15).  

15 verschiedene Beiträge bieten zu dieser Fragestellung reiches Analyse- und Anschauungsmaterial. Ihre Autor/innen kommen vom ersten Jahrgang der Doktorandenschule „Laboratorium der Aufklärung“ (DSLA) am gleichnamigen Forschungszentrum der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Das inhaltliche Spektrum ihrer Beiträge reicht von der Rechtswissenschaft, Geschichte, Philosophie, Literaturwissenschaft, Musikwissenschaft, Kommunikationswissenschaft, Pädagogik, Soziologie bis hin zur Wissenschaftsgeschichte und Physik. Trotz dieser Vielfalt der Befunde ist eine Reihe von Generalisierungen möglich. Durch die programmatische Schwerpunktsetzung auf die Visionen und Revisionen des Rationalitätsversprechens gelingt es den Herausgeber/innen, die Beiträge in zwei Punkten zu bündeln.

Der den „Visionen“ gewidmete Teil des Bandes konzentriert sich vorwiegend auf die Wandlungen und Brüche innerhalb der angenommenen, erlernten oder kulturell bedingten Vorstellungen von Rationalität. Christian Thomasius‘ Zweifel an seinem eigenen Rationalitätsversprechen werden hier ebenso skizziert (André Knote) wie die Bemühungen der Volksaufklärer des 18. Jahrhunderts, ihre rationalen Erklärungsmuster in der Praxis umzusetzen (Alexander Krünes) oder die Auseinandersetzung mit den traditionellen Geschlechterrollen in aufklärerischen Erziehungskonzepten (Fleur Peukert). Die Dynamik der versprochenen und versprechenden Rationalität wird auch anhand der Märchensammlungen der Aufklärung und Romantik (Mariam Mtchedlidze), der Entwicklung des Höflichkeitsprinzips (Iva Findancheva) und der Darstellungen jüdisch-christlicher Liebesbeziehungen in der Gegenwartsliteratur (Paula Wojcik) analysiert. Abschließend stellen zwei Beiträge über das Scheitern Fichtes, sein Publikum mit der Wissenschaftslehre vertraut zu machen (Daniela Schmidt) und über die Auslegung des Rationalitätsversprechens im Strafrecht (Anja Nöckel) unter Beweis, wie umfassend sich dieser Band der komplexen Thematik annimmt. 

Die historische und gegenwärtige Rationalitätskritik ist das Thema des zweiten Teils des Bandes. Die theoretischen „Revisionen“ des aufgeklärten Vernunftprinzips werden am Beispiel von Derridas dekonstruktiver Affinität zur Aufklärung (Johannes-Georg Schülein), der literarischen Aphoristik seit La Rochefoucauld bis zu den Frühromantikern (Johannes Weiß) oder der Musiktheorie von Joseph Maria Kraus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Sascha Wegner) aufgezeigt und reflektiert. Wie sehr das Verhältnis vom spekulativen und bereits in der Zeit der Aufklärung umstrittenen Konzept des Mesmerismus zu Rationalität und Autonomie die deutschen Gegenwartsromane beschäftigt, analysiert der Beitrag über Peter Sloterdijks „Zauberbaum“ und Alissa Walsers „Am Anfang war die Nacht Musik“ (Elisabeth Johanna Koehn). Diesen literarischen Blick auf das Rationalitätsversprechen ergänzt die Untersuchung zur Aufklärungskritik bei Charles Taylor und Michael Foucault (Ulf Bohmann). Dem pädagogischen Anspruch der Rationalität, mit dem sich auch Foucault intensiv auseinandersetzte (Benjamin Bunk), widmet sich der letzte Beitrag des Sammelbandes und kritisiert dabei den Autoritätsehrgeiz der heutigen Pädagogik der Naturwissenschaft (Stephan Geiß).

Allen Beitragenden ist gemeinsam, dass sie den Fokus auf die Möglichkeiten, Grenzen und Gefahren der Rationalität legen, die in anderen Veröffentlichungen bisher vernachlässigt wurden. Doch gerade aus diesem Grund würde man sich wünschen, dass vor allem die Autor/innen, die sich mit dem zeitgenössischen Rationalitätsanspruch beschäftigen, ihre Fragestellungen noch strikter an den gegenwärtig aufbrechenden Problemlagen der fehlenden oder geforderten Rationalität orientieren und weniger die rationalitätsbasierte Denktradition von der Aufklärung bis heute nur pauschal herausstellen, um sich dann auf ihre sehr speziellen Einzelstudien zu konzentrieren. Sicherlich bezieht sich dieser Einwand nicht auf alle Beiträge. Positiv hervorzuheben sind hier die aufschlussreichen und von einer bestechenden Kongruenz gekennzeichneten Analysen von Paula Wojcik, Anja Nöckel oder Stephan Geiß.

Die Unzulänglichkeit der Beiträge, die sich mit dem Rationalitätsanspruch aus der Perspektive des 18. oder frühen 19. Jahrhunderts auseinandersetzten, und damit aber auch des ganzen Bandes, resultiert zumeist aus der durchgehenden Auslassung einer zeitspezifischen Begriffsverwendung von Rationalität. Dass ein Begriff eine Rezeptionsgeschichte hat und durch Jahrhunderte eine erhebliche Schubkraft entfalten kann, zeigte einschlägig Reinhart Koselleck. Begriffe stehen für die sprachliche Eigenleistung beim Zum-Begriff-Bringen von Sachverhalten. Sie bilden sich im Horizont von Erfahrungen und Erwartungen. So gesehen, ist Begriffsgeschichte keine vom sozial-historischen Kontext losgelöste Geistesgeschichte. Ihre zeitliche Binnenstruktur entsteht nicht aus der Selbstbewegung der Begriffe, sondern sie geht aus der sprachlich gefassten, jedoch vorgegebenen historischen Zeit in ihren Strukturen und Ereignissen hervor. Gleichzeitig zeichnet sich ein Grundbegriff durch seine Unersetzbarkeit aus; und eben weil er nicht austauschbar ist, wird er zum Kampfbegriff. Wenn sich die Begriffe „Rationalität“ und „Vernunft“ erst einmal von ihrem philosophisch-aufklärerischen Kontext abgekoppelt haben, beginnt der Kampf darum, welches Rationalitäts- und Vernunftverständnis als die beste Lösung zu gelten hat. Folge dieses Kampfes ist eine ständige Neuverortung des Grundbegriffes sowie seine individuelle und gruppenspezifische Monopolisierung. Obschon der Begriff der „Rationalität“ eine generelle Botschaft enthält, wurde und wird er doch niemals isoliert und kontextfrei benutzt. Bei der Analyse der tradierten Rationalitätsvorstellungen muss daher gefragt werden, welche historischen und mentalen Vorgänge bzw. Wertesysteme der jeweiligen Gesellschaft bzw. Sprachgemeinschaft zur Etablierung und Funktionalisierung bestimmter Rationalitätsbegrifflichkeit führten und welchen Einfluss dieses Versprechen der Rationalität seinerseits auf diese Vorgänge und Wertesysteme ausübte. Ohne eine Begriffs-Präzisierung und ihre historische Verankerung können weder die Reproduktionsbedingungen noch die Relevanz der Rationalitätsvorstellung aufschlussreich erklärt werden.

Trotz dieser methodischen Schwäche des Bandes überwiegen die Stärken jedoch bei Weitem. Nicht nur mit Blick auf die stets aktuellen Auseinandersetzungen über den Rationalitätsanspruch verdient er besondere Aufmerksamkeit. Die hier versammelten Texte leisten einen dreifachen Beitrag: Sie belegen, dass von der Zeit der Aufklärung bis hin in die Gegenwart ein Mit-, Neben- und Gegeneinander unterschiedlicher Positionierungen zu Rationalität als normativem Anspruch gewinnbringend rekonstruiert werden kann, weiten dabei die disziplinäre Reichweite des Rationalitätsdiskurses aus und führen gleichzeitig verschiedene Rationalitätskonzepte an ihre Grenze, um sie von hier aus kritisch auf Anwendbarkeit und Erkenntnisgewinn zu hinterfragen. Konsequenterweise beruhen auch alle Beiträge auf einzelnen empirischen Studien, die größtenteils das Potential für Längsschnittstudien aufweisen. Wenn man bedenkt, dass sie von Promovenden verfasst wurden, dann kann man sich auf ihre inhaltliche Ausarbeitung und methodologische Vertiefung in den kommenden Doktorarbeiten nur freuen. Bedauerlich nur, dass die lehrreiche Untersuchung zu Christian Thomasius von André Knote keine Fortsetzung mehr findet. Die Lücke, die sein früher Tod in der Forschung hinterließ, kann kein Versprechen der Rationalität füllen.

Zur Rezensentin:
Dr. Agnieszka Pufelska, geb. 1973, ist Wiss. Mitarbeiterin am Historischen Institut der Universität Potsdam.


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