theologie.geschichte - Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte

Klaus Hödl, Kultur und Gedächtnis, Paderborn 2012, [Perspektiven deutsch-jüdischer Geschichte 1], Ferdinand Schöningh, 161 Seiten, € 16,90, ISBN: 9783506773999


Der Band „Kultur und Gedächtnis“ von Klaus Hödl ist der erste von sieben in der Reihe „Perspektiven deutsch-jüdischer Geschichte“, die vom Leo Baeck Institut herausgegeben wird und sich zum Ziel gesetzt hat „einen umfassenden, thematisch organisierten Überblick über die historische Erfahrung der Juden im deutschen Sprachraum vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ zu vermitteln.

Neben diesem ersten Band, der dem Themenfeld „Kultur und Gedächtnis“ gewidmet ist, sind die Themen „Wirtschaft und Ungleichheit“, „Migration und Transnationalität“, „Religion und Identität“, „Geschlecht und Differenz“, „Politik und Recht“ sowie „Alltag und Gesellschaft“ geplant.

Auf 150 Seiten möchte der Band in sechs Kapiteln einen Überblick geben über die kulturellen Entwicklungen der jüdischen Geschichte im deutschsprachigen Raum von „Der Wende zum 19. Jahrhundert“ (Kap. 1) bis hin zu „Juden in Deutschland nach 1945“ (Kap. 6).

Der Anspruch der Reihe ist die Bereitstellung knapper, allgemein verständlicher und dabei doch möglichst umfassender Einführungen in zentrale Aspekte jüdischer Geschichte in Deutschland für das interessierte Laienpublikum. (Vgl. Selbstbeschreibung der Reihe).

Doch schon die Lektüre der Einleitung des vorliegenden Bandes irritiert. Statt einer allgemeinen Hinführung zum Thema, liest sie sich wie die Einleitung zu einem Werk über jüdische Malerei bzw. jüdische Bildende Kunst.

Die nächste Irritation wird durch die wenigen, recht vagen Ausführungen zum „Gedächtnis-Begriff“ ausgelöst, als deren Fazit der Autor konstatiert, dass dem Thema des Gedächtnisses selbst kein eigenes Kapitel in dem Band zugedacht wird: „Kultur und Gedächtnis sind zwei große Themenbereiche, die bisweilen in unmittelbarer Abhängigkeit zueinander stehen. Ein Gemälde eines spezifisch historischen Aspektes kann für das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft von prägender Wirkung sein, während Maler wiederum aus dem Fundus des kollektiven Gedächtnisses schöpfen. In diesem Zusammenhang ist eine Verbindung der beiden Begriffe von Kultur und Gedächtnis naheliegend. Auf ein eigenes Gedächtnis-Kapitel wird im vorliegenden Text allerdings verzichtet.“ (S. 16). Man fragt sich angesichts dieser wenig aussagekräftigen Ausführungen zu Rolle und Funktion von Gedächtnis, dessen Verbindung zur Kultur vom Autor eher vage als "naheliegend" bezeichnet wird, was es mit dem Begriff im Titel des Buches auf sich hat, wenn er für die nachfolgenden Ausführungen keine größere Rolle mehr zu spielen scheint.

Dabei hätte ein eigenes Kapitel zum Thema Gedächtnis in einer Darstellung der jüdischen Kultur in Deutschland durchaus nahegelegen. Gerade nach der Vertreibung und Ermordung von Millionen deutscher und europäischer Juden im Holocaust, wodurch die reiche und vielseitige jüdische Kultur in Deutschland nahezu vollständig ausgelöscht wurde, stellt sich die Frage nach der Erinnerung immer dringlicher – der Erinnerung der Verbrechen, dem Gedenken der Opfer und dem Wachhalten eines kulturellen Erbes, das die gesamte deutsche Kultur nachhaltig prägte. Entsprechend sind viele Studien zur jüdischen Geschichte in Deutschland nach 1945 von dem Paradigma der Erinnerung bzw. des Gedächtnisses bestimmt.

Immer wieder fragt man sich auch, ob sich der Autor dem Anspruch der Reihe, die sich „an ein breites, historisch interessiertes Lesepublikum“ ohne „Spezialkenntnisse zur jüdischen Geschichte“ richtet, bewusst ist, scheint er sich doch wiederholt im Duktus des Fachartikels zu verlieren, der grundlegendes Wissen bei seinen Lesern voraussetzt. So findet beispielsweise im Kapitel zur jüdischen Aufklärung der vielleicht wichtigste Protagonist der Haskala, Moses Mendelssohn, keinerlei Erwähnung. Und dort, wo der Name einmal fällt, wird er ganz beiläufig erwähnt, in einem Nebensatz, in dem von ihm als Arbeitgeber des Vaters einer gewissen Pessel Bernhard die Rede ist (S. 30). Den Konventionen der Reihe verpflichtet, werden bei der ersten Nennung des Namens Mendelssohns Lebensdaten in Klammern angegeben. Mehr erfährt der Leser nicht über diesen engen Vertrauten Gotthold Ephraim Lessings und wichtigen Vertreter der – deutschen wie jüdischen – Aufklärung.

Diese eigenartige Verschiebung in der Gewichtung von Relevantem und weniger Relevantem finden sich in dem Buch wiederholt.

So zeigt sich auch in dem Kapitel „Juden in der Kultur des 19. Jahrhunderts“, dass die Bildende Kunst ein besonderes Interessengebiet des Autors darzustellen scheint. Das erste Unterkapitel ist der Malerei gewidmet, gefolgt von einem zweiten Unterkapitel zum Thema „Die Suche nach einer jüdisch-nationalen Kunst“, dem sich unter der Überschrift „Literarische Selbstvergewisserungen“ einige Seiten zur deutsch-jüdischen Literatur anschließen. Zwar ist es wichtig und verdienstvoll auch die jüdischen bildenden Künstler in den Blick zu nehmen, denen – im Gegensatz zu einer opulenten Forschung auf literaturwissenschaftlichem Gebiet – bisher wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Dabei darf man jedoch nicht vergessen, dass die jahrzehntelange Fokussierung auf die jüdische Literatur durchaus der Tatsache geschuldet ist, dass es in der Tat ungleich mehr und bedeutendere jüdische Autoren gab als jüdische Maler (Dies räumt der Autor selbst ein, vgl. S. 49). Von einer einführenden Darstellung für den interessierten Leser ohne größere Vorkenntnisse würde man erwarten, dass die Behandlung der Gegenstände ihrer Relevanz gemäß ausfällt.

Es kann als ein entscheidender Vorzug dieser Einführung angesehen werden, dass sie – der Forderung nach einer Abkehr von der reinen Gelehrtengeschichte und Hinwendung zu einer Alltagskulturgeschichtsschreibung verpflichtet – immer wieder auch populärkulturelle und alltagskulturelle Phänomene in den Fokus rückt. So stellt der Autor im dritten Kapitel jiddisches Theater und jüdisches Kabarett ebenso vor wie die Bedeutung jüdischer Autoren in der frühen Filmindustrie.

Das vierte Kapitel ist der jüdischen Geschichtsschreibung und Sozialwissenschaft gewidmet. Hier zeigt Hödl auf, wie sehr diese Disziplinen durch die Entfremdung von Ost- und Westjudentum geprägt waren und sich zugleich um die Überwindung dieser innerjüdischen Spaltung bemühten.

Nach dem fünften Kapitel, das in zwei Unterkapiteln die vielseitige jüdische Kultur der Weimarer Republik sowie die Zeit des Nationalsozialismus behandelt,  werden in einem letzten Kapitel einige wichtige Aspekte jüdischer Kultur in Deutschland nach 1945 besprochen. Der besondere Fokus liegt hierbei auf den Neugründungen jüdischer Museen sowie – und damit schließt das Buch – mit der Vorstellung einiger jüdischer Gegenwartsautoren, deren vordringlichstes Thema, so Hödl, die Shoah sei. Auf etwas mehr als einer Seite versucht er ein Modell von drei Schriftstellergenerationen nach 1945 und deren je eigenen Umgang mit der Shoah zu skizzieren. Dass eine solche Skizze sehr schematisch und zwangsläufig lückenhaft ausfallen muss, ist selbstverständlich. Dennoch zeigt sich, dass durch eine zu starke Fokussierung auf Phänomene des Populärkulturellen die kanonische Kunst eigenartig aus dem Blick zu geraten scheint. Und so erscheint die kritische Anfrage erlaubt, ob es sich mit einem populärkulturellen Interesse rechtfertigen lässt, Autoren wie Jurek Becker oder Esther Dischereit mit Namen zu nennen, während einer der bedeutendsten deutschsprachigen Dichter nach 1945 – Paul Celan – mit keinem Wort Erwähnung findet. Ebensowenig genannt werden die im schwedischen Exil lebende Nelly Sachs oder die seit den 1960er Jahren in Deutschland lebende Rose Ausländer. Dass Celan und Sachs nach 1945 in ihren Exilländern (Frankreich und Schweden) lebten, kann kaum rechtfertigen, sie aus einer Darstellung der „deutsch-jüdischen Kulturgeschichte“ auszuschließen. Mit dem Auslassen dieser Namen (ihnen könnten weitere hinzugefügt werden) geht zugleich eine eklatante Verzerrung in der besagten Skizze einer Entwicklung deutsch-jüdischen Schreibens über die Shoah einher. So behauptet der Autor, die Werke der ersten Autorengeneration bis etwa 1980, geschrieben von Augenzeugen des Holocaust, fungierten eher als „Quellen für die Geschichtswissenschaft denn als Veröffentlichungen von hohem literarischen Wert“ (S. 149) – eine Aussage, die mit Blick auf die Dichtungen Celans, Sachs’ oder Ausländers geradezu aberwitzig erscheint.

Zwar ist es ein eindeutiger Vorzug dieser Einführung, dass sie nicht nur die Hochkultur, sondern auch die – gesellschaftlich vielleicht ungleich wirksamere – Populärkultur in den Blick nimmt und eingehend vorstellt, an vielen Stellen erscheint sie jedoch zu oberflächlich gearbeitet, als dass sie als solide Einführung in die deutsch-jüdische Kultur angesehen werden könnte.


Zur Rezensentin:
Dr. des. Yvonne Al-Taie, wissenschaftliche Mitarbeiterin in Neuerer deutscher Literaturwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

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