theologie.geschichte - Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte

Michael Ebertz; Monika Eberhard, Anna Lang, Kirchenaustritt als Prozess: Gehen oder bleiben? Eine empirisch gewonnene Typologie, Münster 2012 (KirchenZukunft konkret. 7), Lit-Verlag, 224 S., 19,90 EUR, ISBN 3643118368


Warum treten junge Menschen aus der Kirche aus? Auf diese Frage will die empirische Studie, die am ZEKIS (Zentrum für kirchliche Sozialforschung) in Freiburg entstanden ist und durch die Akademie der „Versicherer im Raum der Kirchen“ unterstützt wurde, eine Antwort geben. Dabei konzentriert sie sich nicht nur auf die jeweils aktuellen Beweggründe, die den Gang zum „Amt“ auslösen, sondern definiert den Kirchenaustritt als Endpunkt eines langfristigen biographischen Prozesses. Die Neuartigkeit dieses prozessbezogenen Ansatzes wird mehrmals hervorgehoben und unter anderem durch eine kurze Darstellung des Forschungsstandes dokumentiert (S. 6-11): Allerdings fällt bei näherem Lesen auf, dass eine dort referierte Studie von Stefan Bonath[1] mindestens zwei Austrittstypen aufweist, die dann später in der eigenen Typologie wieder auftauchen (nämlich „die Enttäuschte“ und „die Befreite“, und auch die Nähe zwischen dem „Distanzierten“ und den „Kirchenfernen“ ist zumindest begrifflich recht offensichtlich). Eventuell handelt es sich nur um begriffliche Parallelen, aber es wäre interessant gewesen, die eigenen Ergebnisse mit dem referierten Forschungsstand in Beziehung zu setzen oder genauere Abgrenzungen vorzunehmen.

Eine Fokussierung auf die Zielgruppe der „jungen Erwachsenen“ bietet sich für dieses Thema an, weil gerade in dieser Altersgruppe eine hohe Austrittsneigung vermutet wird (so die Autoren mit Verweis auf eine Allensbach-Studie aus dem Jahr 2008, die im Literaturverzeichnis allerdings nicht erscheint).

Um der Komplexität des Forschungsgegenstandes zu entsprechen, haben die Verfasser einen qualitativen Zugang gewählt: Interviewt wurden insgesamt 50 Personen im Alter zwischen 18 und 35 Jahren, die eine Hälfte bestand aus Ausgetretenen, die Vergleichsgruppe aus Kirchenmitgliedern: Der Großteil der Befragten (40) gehört der römisch-katholischen, nur ein kleinerer Part (10) der evangelischen Kirche an; auf eine ungefähr gleiche Verteilung der Geschlechter und Altersdurchschnitte wurde geachtet. Alle interviewten Personen haben eine höhere Schulbildung, zum Teil Universitätsabschlüsse. Diese Verengung auf das akademische Milieu wird in der Studie selbst problematisiert, sie ist aber mit Blick auf forschungspragmatische Gründe (Vorarbeiten entstanden im Rahmen zweier studentischer Abschlussarbeiten) zu entschuldigen.

Methodologisch verorten sich die Autoren im Rahmen der Dokumentarischen Methode (Ralf Bohnsack), einem Verfahren, das vor dem Hintergrund der Wissenssoziologie insbesondere das implizit handlungsleitende Wissen von Subjekten rekonstruieren will. Es wird jedoch nicht deutlich, inwiefern diese Zielsetzung auch Teil der Studie ist. Stattdessen erfolgt der Hinweis auf die Dokumentarische Methode im Zusammenhang mit der Offenheit des Forschungsansatzes (die allerdings für viele qualitative Ansätze gilt) sowie einigen Teilschritten der Auswertung, die sich im Übrigen aber gerade im entscheidenden Schritt der Habitusrekonstruktion von der Dokumentarischen Methode entfernt. Das stellt den letztendlich gewählten methodischen Zugang und die Ergebnisse keineswegs in Frage – beides wurde induktiv am Material entwickelt und ist schlüssig dargelegt –, weckt aber Erwartungen, die im weiteren Verlauf keine Resonanz finden.

Im Ergebnis konstruieren die Autoren durch induktive Kategorienbildung eine in sich plausible Typologie der Kirchenaustreter: „die engagierten Umdenker“, „die Herausgezogenen“, „die Kirchenfernen“, „die Befreiten“, „die Enttäuschten“ und „der Kurzeinsteiger“ werden durch einen Sequenzvergleich der katholischen „Austreter-Interviews“ bestimmt, „die Abgeschreckten“ finden sich nur unter den evangelischen Befragten. Auf diese Weise können die Verfasser sehr anschaulich zeigen, wie unterschiedlich sich Kirchenaustritte in Motivation und Gestalt darstellen: So erfolgt beispielsweise die starke Distanzierung der „engagierten Umdenker“ während (und trotz) ihres kirchlichen Engagements, sozusagen „von innen heraus“, während „die Kirchenfernen“ von vornherein keinen Zugang zur Kirche finden, was dann verständlicherweise die Austrittsneigung erhöht. Bemerkenswert ist auch, dass die Art und Weise, wie über den Austritt reflektiert wird, differiert: Je stärker die Austreter in emotionalem Kontakt mit der Kirche stehen, desto mehr überwiegen auch inhaltlich-emotionale Motive beim Austritt; dagegen machen die von vornherein Distanzierten eher Kosten-Nutzen-Motive geltend. Gerade bei ihnen wird dann die (erstmalige) Zahlung der Kirchensteuer zum endgültigen Austrittsmotiv: Warum für etwas zahlen, das man gar nicht nutzt? Die Darstellung dieser Varianten der „Austrittslogik“ macht den eigentlichen Wert der Arbeit aus.

Nennenswerte konfessionelle Unterschiede im Austrittsverhalten werden bei den 50 Probanden nicht ausgemacht. Eine auffallende Differenz besteht allerdings in der Begründung der Austritte: Das Moment der Kirchenkritik tritt bei den katholischen Befragten stärker hervor.

Die „Austreter-Typologie“ bildet die Basis für den Vergleich mit den „Bleiberbiographien“, die dann im Blick auf ihre Gemeinsamkeiten und Differenzen analysiert werden. Dabei kommen dann „bleiberspezifische Momente“ zum Vorschein: Nicht überraschend, zählen dazu positive (auch: punktuelle) Erfahrungen mit der Kirche (z.B. Gemeinschaft, Gottesdienst, Spiritualität), kirchennahe Bezugspersonen sowie ein kontinuierlicher Kontakt mit der Möglichkeit zur aktiven Mitgestaltung. Interessant sind auch einige Motive, die die Befragten selbst für ihren Verbleib in der Kirche nennen: So möchten manche trotz einer starken inneren Distanzierung weiterhin „dazugehören“ und nicht „aus einer Gemeinschaft ausgeschlossen“ sein.

Ein Vergleich der Austreter- und Bleibersequenzen zeigt außerdem, dass sich die Biographien gar nicht bezüglich ihrer Phaseninhalte unterscheiden, wohl aber im zeitlichen Auftreten der Sequenzen: Bei den Austretern finden die zentralen Umbrüche im Welt- und Kirchenbild in der Pubertät statt, bei den „Bleibern“ oft erst im jungen Erwachsenenalter – ein Befund, der zum weiteren Interpretieren einlädt.

An einigen Stellen werden Schlussfolgerungen gezogen, die im Rahmen einer qualitativen Studie dieses Designs etwas zu gewagt erscheinen: Die Autoren nehmen zum Beispiel an, dass „eine wiederholte und persönlich verletzende Enttäuschung … langfristig immer [Hervorhebung S.L.] in einen Austritt“ münde (S. 184), weil dies bei nur punktuellen Enttäuschungserlebnissen in der Vergleichsgruppe der „Bleiber“ eben nicht geschehe. Dasselbe wird auch vom Motiv des „Zwangs“ vermutet (ebd.). Abgesehen von der Tatsache, dass solche Kausalzusammenhänge recht einleuchtend wirken, besteht für derartige Aussagen meines Erachtens keine ausreichende empirische Basis: Die Möglichkeit, dass sich häufiger Personen finden, die trotz Zwangserfahrungen oder wiederkehrenden Enttäuschungen nicht aus der Kirche austreten, kann bei dem beschriebenen Forschungsdesign nicht ausgeschlossen werden. Da aber eine quantitative Folgestudie geplant ist (für die die vorliegende Studie als Vorarbeit dient), könnten die aufgestellten Hypothesen in diesem Rahmen einer Überprüfung unterzogen werden.

Zwei wichtige „Aufgaben“ geben die Verfasser den beiden Kirchen mit auf den Weg: Zum einen gilt es, die Phase der Firmung und Konfirmation ernst zu nehmen und den Jugendlichen hier wirklich als Ansprechpartner für ihre Fragen zur Verfügung zu stehen. Zum anderen sollte stärker als bisher versucht werden, auch die jungen Erwachsenen durch spezielle Angebote anzusprechen.

Die lesenswerte Studie sensibilisiert dafür, das Phänomen „Kirchenaustritt“ als einen langfristigen Prozess wahrzunehmen, der unterschiedlichen Verlaufsmustern folgt. Damit leistet sie einen wichtigen Beitrag, auf den sich weitere Forschungen beziehen können.


[1] Kirchlichkeit zwischen Ambivalenz und Eindeutigkeit – Wiedereintritt und Übertritt in die römisch-katholische Kirche. Anlässe und Motive in der biographischen Darstellung von Betroffenen. Hamburg 2005.


Zur Rezensentin:
Dr. Stefanie Lorenzen, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Religionspädagogik des Instituts für Evangelische Theologie an der Universität des Saarlandes.

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