Sándor Fazakas
Kann die Kirche schuldig werden?
Überlegungen am Beispiel der Reformierten Kirche Ungarns und ihres Verhältnisses zu ihrem historischen und gesellschaftlichen Kontext
In einem grundlegenden Aufsatz hat es der namhafte reformierte Theologe Ervin Vályi Nagy unternommen, die christliche Lesart der Wende und Wandlung, die sich um das Wendejahr 1989 vollzogen hat, zu beschreiben. Er notiert: „[D]ie Wandlung, die mutatio rei publicae“[1], dieser typisch europäische Gedanke jüdisch-christlicher Tradition, „ist an sich nicht schlecht, bedeutet nicht unbedingt Dekadenz, Auseinanderfallen oder den Verlust des Gleichgewichtes”, denn nur in Märchen werde ein gleichbleibender Zustand als Glück angesehen. Doch auf der anderen Seite gelte auch: „[D]ie Wandlung an sich ist weder heil- noch glückbringend“[2], der Gedanke des panta rhei löst allein noch keine Begeisterung aus, auch wenn der neuzeitliche Fortschrittsoptimismus – allen Katastrophen und geschichtlichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zum Trotz – aufzublühen scheint. Ervin Vályi Nagy fürchtete an der Schwelle der gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen in Mittel-Osteuropa 1989/1990 nicht mehr und nicht weniger als die Wiederbelebung älterer und neuerer „Geschichtstheologien“, die versucht haben, sowohl aus den Wandlungen als auch aus dem Bleibenden etwas Inhaltliches herauszulesen, ja einen nationalen Götzen oder zeitgeistrelevanten Gott zu destillieren. In einem bestimmten Verständnis der Ängste, die die Wandlungen überschattet haben, zugleich warnend vor unberechtigten Nostalgien, schließt er seine Gedankenführung in Anlehnung an Umberto Eco, der auch seinerseits einen chinesischen Fluch zitiert hat: „Ich wünsche dir, dass du in interessanten (d. h. bewegten, wandelnden) Zeiten lebst“.[3]
Mehr als 20 Jahre nach den gesellschaftlichen Umbrüchen in Mittel-Osteuropa lässt sich mindestens für Ungarn feststellen: Die Wünsche und Befürchtungen Ervin Vályi Nagys haben sich auf eine merkwürdige Weise bestätigt. Die beiden hinter uns liegenden Jahrzehnte haben sich nicht nur als interessant und bewegend erwiesen, auch die Ängste und Nostalgien bezüglich des Umgangs mit dieser Geschichte blieben - m. E. - permanent. Gerade diese Tatsache gibt Anlass, das von Ervin Vályi Nagy angesprochene Problem weiterzudenken und dafür aus der Perspektive der Zeitgeschichtsforschung sowie der neueren sozialethischen und ekklesiologischen Fragestellungen weitere Kriterien anzulegen. In den folgenden Überlegungen möchte ich erstens der Frage nachgehen, wie dieser Wandel aus sozialgeschichtlicher Sicht, vor allem mit Blick auf die Aufarbeitung der Vergangenheit und den Demokratisierungsprozess eines Landes aussieht. Zweitens wird darüber nachgedacht, inwieweit die Kirche(n) als solche Institutionen oder Organisationen zu betrachten sind, die in einer bestimmten Situation von Politik und Gesellschaft um der Selbsterhaltung willen mit der jeweiligen Staatsmacht oder ihren Repressionsorganen zusammengearbeitet haben, und ob solche Anliegen als historisch-politische Schuldverstrickung zu deuten sind. Drittens muss gefragt werden, ob die Kirche bzw. die Kirchen als Kollektive zu betrachten oder zu behandeln sind, die als Handlungssubjekte für Fehlverhalten in der Geschichte Verantwortung tragen und inwieweit innerhalb der Kirche auch solche Strukturen entstanden sind (oder: inwieweit entstehen sie grundsätzlich und zu jeder Zeit), die gesellschaftliche Formen abbilden und mit Anpassungsstrategien, Kompromissen oder Systemähnlichkeiten zu weiteren geschichtlichen und sozialen Schuldverstrickungen führen. Abschließend soll ein Ausblick vorgenommen werden, der den eigenen Auftrag, die Gestaltung und eine den eigenen Zukunftsperspektiven entsprechende Beteiligung der Kirche als Kirchen im geschichtlichen und sozialen Prozess reflektiert.
1. Zu den geopolitischen und
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
In der Tat, genau wie die meisten Staaten Osteuropas befand sich auch Ungarn nach 1989 vor einem langwierigen Wandlungsprozess, in dem sich das Land auf ökonomischer, sozialer und politischer Ebene von einem autoritär-totalitären System zu einer freiheitlichen Demokratie transformieren sollte. Dabei sollte man sich aber vor Augen halten, dass neben der Konsolidierung demokratischer Institutionen und der Verfestigung und Weiterentwicklung demokratischer Strukturen stets auch versucht wurde, die Stabilität zu wahren. Der genannte Konsolidierungsprozess verlief nicht gleichmäßig in allen Ländern dieser Region: Erfahrungen mit demokratischen Aufbrüchen der eigenen Geschichte (etwa der Volksaufstand 1956 in Ungarn oder der Prager Frühling 1968), der Grad der Menschenrechtsverletzungen und Repressionen in den früheren Regimen, kulturelle Hinterlassenschaften der sozialistischen Systeme, die Reminiszenz an die alten und die Unzufriedenheit mit den neu erworbenen gesellschaftlich-politischen Strukturen hatten Einfluss auf Geschwindigkeit und Tiefe der Transformationsprozesse in den einzelnen Staaten. Auch der Umgang mit der eigenen Vergangenheit und die durch die Transformation aufgekommenen Zukunftsperspektiven der Bürger haben die Intensität und Geschwindigkeit dieser Wandlungen tief gehend beeinflusst.[4] Durch die Einführung marktwirtschaftlicher Verhältnisse erhofften sich nicht wenige Bürger die Verbesserung ihrer eigenen materiellen Situation, erstrebt wurde ein Wohlstand westlicher Art. Innerhalb weniger Jahre erwiesen sich diese Erwartungen nicht nur als unhaltbar, vielmehr haben die Begleiterscheinungen wirtschaftlicher Umwälzungen (wie Arbeitslosigkeit, Kostenexplosion, Inflation) auch zu bitteren Enttäuschungen, oft auch zu Nostalgie und Sehnsucht nach der alten sozialen Sicherheit aus der Zeit des Sozialismus geführt. Nur ganz wenigen ist es gelungen, in der neuen kapitalistischen Wirtschaftsordnung Fuß zu fassen – vor allem der früheren politischen Nomenklatur, die ihre ideologisch-politische Macht in eine wirtschaftliche Macht umgemünzt hat – eine Tatsache, die bis heute im Lande äußerst irritierend wirkt. Die Art und Weise des Übergangs vom Sozialismus zur freien Marktwirtschaft hat weitreichende Konsequenzen gezeitigt, einerseits bezüglich des Verhältnisses gegenüber der Vergangenheit, andererseits im Bezug auf den Demokratisierungsprozess. Was die Aufarbeitung dieser Vergangenheit anbelangt, wurde die schon angedeutete Vergangenheitsreminiszenz (Ungarn galt sowieso als die „fröhlichste Baracke“ unter den Ostblockländern) durch eine Unwilligkeit bzw. Halbherzigkeit ergänzt. Da der Übergang und der eingeschlagene Weg zur Konsolidierung als ein gemeinsames Unternehmen der alten und der neueren politischen Elite vollzogen wurde, konnte die Forderung nach einer rückhaltlosen Aufklärung von Verbrechen der Vergangenheit nicht befriedigt werden. Die Bewahrung des sozialen Friedens und der nationalen Einheit erwies sich angeblich als ein höherer Wert für die Stabilisierung der neu zu errichtenden gesellschaftlichen Ordnung. Die Suche nach mehr Gerechtigkeit, die Sehnsucht nach juristischer, wissenschaftlicher und geistig-geistlicher Aufarbeitung der Vergangenheit sowie das Bemühen um eine angemessene Erinnerungskultur standen von vornherein unter dem Diktat einer „Verträglichkeit für die weitere Entwicklung des Landes“.[5] Eine zu lange oder zu intensive Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten der sozialistischen Vergangenheit wurde eher als Belastung empfunden. Große Teile der Bevölkerung, die weder direkt noch indirekt von Menschenrechtsverletzungen betroffen waren, erwarteten und erwarten heute für sich persönlich keinen konkreten Gewinn von einer Aufarbeitung. Was übrig blieb, war dann oft eine Vergangenheitspolitik, die als strategisches oder taktisches Instrument für die Legitimierung eigener politischer Ziele oder für die Delegitimierung oder Diskriminierung politischer Gegner eingesetzt wurde.
Die weitreichenden negativen Folgen einer Unterlassung der Vergangenheitsaufarbeitung für den Demokratisierungsprozess des Landes sowie die Folgen der nostalgischen Reminiszenz an frühere Verhältnisse oder der unbegründeten Zukunftserwartungen sind schwierig abzuschätzen. Es scheint aber offensichtlich zu sein, dass der Konsolidierungsprozess des Landes noch lange nicht als abgeschlossen gelten kann; die politischen und ideologischen Debatten in und um Ungarn zeigen, dass
- die Funktion, Freiheit und Stärkung demokratischer
politischer Institutionen weiterhin im Fokus des öffentlichen
Interesses und gesellschaftlicher Auseinandersetzungen stehen
(z. B. Freiheit der Presse und Justiz),
- die Schaffung oder Erhaltung eines Verfassungsstaates zu den
hervorragendsten Zielen politischer Kräfte zählt (die
Regierung meint, dies erst neulich durch die neu verabschiedete
Verfassung erreicht zu haben; die Opposition dagegen befürchtet
gerade in ihr die Aushöhlung des Verfassungsstaates, aber
verschweigt, dass ihrem eigenen Grundgesetzentwurf die für die
Durchsetzung nötige politische Kraft gefehlt hätte),
- die Konsolidierung einer demokratischen Bürgergesellschaft bzw.
Bürgerkultur viel langwieriger ist als die Etablierung
demokratischer Rahmenbedingungen.
Die ungarische Gesellschaft befindet sich also mehr als 20 Jahre nach dem Zusammenbruch totalitärer Systeme in Mittel-Osteuropa in einem Zustand zwischen Kontinuität und Abbruch. Diese Erscheinung wird oft damit erklärt, dass die Wende – wie bereits angedeutet ? weder durch revolutionäre Umwälzungen noch durch radikale Ablösung früherer politischer Führungskräfte vollzogen worden ist, sondern als gemeinsames Unternehmen der alten und der neuen politischen Elite zu betrachten ist. Von dieser Grundthese her, die sich als plausible Deutung durchgesetzt hat, wird immer wieder versucht zu erklären, warum in Ungarn eine rechtliche, politische und kirchliche Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit ausgeblieben ist und warum die Beurteilung der Lage eher in zwei Extremen erfolgt: Entweder wird die Vergangenheit glorifiziert oder sie wird vollständig verdrängt.
Wird die Fragestellung in eine theologische Perspektive gerückt, geraten auch die Gefahren und die Irrwege dieser Vergangenheitsbewältigung in den Blick. Dabei muss nicht nur auf die Komplexität der Aufarbeitung als solcher, sondern auch auf das Problem hingewiesen werden, dass die Unfähigkeit zur Schulderinnerung und selbstkritischen Reflexion sowie die Instrumentalisierung der Schuldeinsicht oder Reue durch aktuelle politische Interessen bzw. die zeitgeschichtliche Geschichtsschreibung nicht nur den Demokratisierungsprozess in einem Land kontinuierlich blockieren, sondern auch die nötige Orientierung in Theologie und Kirche unterlaufen. Eine theologisch und sozialethisch reflektierte Behandlung der Schuldfrage in sozialen Interaktionszusammenhängen sowie die christliche Wirklichkeitswahrnehmung sollten also eine empfindliche Lücke füllen. Erhebliche Probleme müssen hier gedeutet, geklärt und möglichst praktisch angegangen werden: Erstens die drängende Frage der Vergangenheitsbewältigung in der ungarischen Gesellschaft und zweitens die neuen Antworten auf jene Schuldzusammenhänge, die zum einen in politisch-ökonomischen Handlungszwängen wurzeln, sich zum anderen aber auch aus den Generationenkonflikten entwickeln, die auf den unerledigten Umgang mit der Vergangenheit zurückzuführen sind.
2. Kirche in sozialen und
geschichtlichen Schuldzusammenhängen
Zunächst eine Bemerkung dazu, was unter dem Begriff „historische Schuld“ zu verstehen sei: Sehr oft wird diese Frage mit der Kollektivschuld-These beantwortet. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass man hier schon auf den ersten Blick mit Interaktion, Wechselwirkung und politisch-gesellschaftlichen Bedingungen der jeweiligen Entscheidungskräfte und Akteure zu tun hat. Wie aber entsteht historische Schuld? Und gibt es überhaupt kollektive Schuld? Aus der Sicht der Sieger kann die Antwort einfach lauten: Ja! Der Holocaust, die Massenvertreibungen und Deportationen ganzer Volksgruppen während und nach dem Zweiten Weltkrieg zeigen die Folgen dieser verhängnisvollen Überzeugung. Viele meinen aber: Der Begriff ist zu vermeiden. Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes oder einer Gruppe gibt es nicht. Beides, „Schuld wie Unschuld[,] sind nicht kollektiv, sondern persönlich“.[6] In der Tat, das Zusammenleben der Menschen kann nur gelingen, wenn Schuld identifiziert und zugeschrieben wird, wenn der Einzelne dafür verantwortlich gemacht werden kann. Ohne diese Zuschreibung und Identifizierung wird die Schuld zur „undefinierbaren Schuld“, die zur Lähmung und Auflösung menschlicher Gemeinschaften führt. Doch – und das zeigen auch die biblischen Belege – Handlungen von Einzelnen haben jeweils Auswirkungen für das Ganze eines sozialen Systems. Es besteht ein Zusammenhang zwischen Handlungen von Menschen und der Geschichte einer Gemeinschaft. Der Mensch kann die Geschichte nicht nur erleiden, sondern auch verantwortlich mitgestalten, besonders wenn der Einzelne sich an wichtigen Stationen menschlichen Zusammenlebens befindet, an denen er die Folgen seines individuellen Handelns vorhersehen und vermeiden könnte.
In einem theologisch-sozialethischen Beitrag zum „Historikerstreit“[7] gelangt Eilert Herms zu der Feststellung, dass die geschichtliche Schuld „jeweils positionsspezifische Schuld“[8] ist. Gemeint ist damit die Beobachtung, dass leitende Personen an der Spitze eines sozialen Systems in Ausübung ihres Berufes bzw. Amtes ihre spezifische Verantwortung für das ganze System und für die Gerechtigkeit innerhalb der Organisation verfehlen, sie nicht wahrnehmen und mit den Folgen ihres Handelns und Unterlassens nicht rechnen. Versagen im Amt, Fehlverhalten – und hier kann Ahnungslosigkeit und Unwissen keine Entschuldigung bedeuten – oder Verantwortungslosigkeit können Folgen haben, die Auswirkungen auf das ganze soziale System haben. Das Ergebnis, zu dem Eilert Herms sowohl für das NS-Regime als auch für die SED-Diktatur kommt, das aber auch für weitere totalitäre Regime in Mittel-Osteuropa vor der Wende gelten dürfte, lautet: Der Staat wird von einer Gruppe erobert, die nur als eine Verbrecherbande höherer Ordnung bezeichnet werden kann und die den Rechtszustand einer Gesellschaft „durch eine prinzipiell willkürliche, an kein Recht gebundene Ausübung öffentlicher Gewalt“ untergräbt.[9]
Für uns besteht hier die Frage: Inwieweit sind die Kirchen als
solche Institutionen anzusehen, bei denen das Versagen leitender
Personen oder kirchlicher Mitarbeiter im Amt nicht nur zu einer
Glaubwürdigkeitskrise der Kirche in den Augen der darauf folgenden
Generationen oder der Öffentlichkeit geführt hat, sondern als
Mitverantwortung für die Systemschuld oder als schuldhafte
Verstrickung anzusehen ist? Wer ist gemeint, eine Reihe von Einzelnen
oder eine Gemeinschaft, ein Kollektiv, wenn die Kirche sich als
schuldig bekennt, wenn sie schuldhafte Verantwortung übernimmt und
im Namen vieler (etwa eines Volkes) um Vergebung und Versöhnung
bittet?
2.1. Positionsspezifische Schuld kirchlicher Würdenträger
Wer sich ein wenig in der jüngsten Kirchengeschichte mittel-osteuropäischer Kirchen auskennt, weiß, dass die Kompromisse oder Anpassungsstrategien, die kirchenleitende Organe eingingen, um in Verhandlungen oder in die angeblich unausweichliche Zusammenarbeit mit dem totalitären Staat einzutreten, in der Hoffnung auf einen modus vivendi geschahen. Das war auch in den protestantischen Kirchen Ungarns der Fall. Es ist nicht zu bestreiten, dass es oft gelungen ist, einen bestimmten Freiraum für das Gemeindeleben, für kirchliche Aktivitäten und neue Initiativen zu gewährleisten. Trotz allem erscheint die Zusammenarbeit der Kirchen mit den totalitären Staatsorganen deshalb absurd, weil dieser Staat seinem Wesen nach eine Bedrohung für das Sein der Kirche bedeutete. Hält man sich nur die kommunistischen Diktaturen in Mittel-Osteuropa vor der Wende 1989/90 vor Augen, so gilt für alle diese Staaten, dass sie versucht haben, mit ihren Macht- und Repressionsorganen die Kirchen im Griff zu halten, die christliche Gemeindearbeit aufzuheben, das Gemeindeleben auszuspionieren und zu zersetzen. Dazu haben sie nicht nur Mitarbeiter aus den Reihen der Kirchen gewonnen, sondern ein Klima des Misstrauens geschaffen, das über Jahre hinweg – und man kann mit Sicherheit sagen, auch über die Wende hinaus – die Kommunikation und die Solidarität innerhalb und außerhalb der Kirche vergiftet hat. Um es konkret zu fassen: Eine Zusammenarbeit mit diesem Staatswesen erwies sich nicht nur deshalb als schuldhaftes Versagen im Amt, weil man als Christ das eigene Leben in die Verfügung einer fremden Macht stellte und weil man als Pfarrer eventuell gegen das eigene Ordinationsgelübde verstieß oder weil man als Kirchenführer bzw. Theologe – mit Erwin Vályi Nagy gesagt ? für den „Abbau aller Bedenken gegen die jeweilige konkrete“ politische „Ordnung“ bemüht war, und zwar gestützt auf falsche, nicht-theologische Prämissen[10], sondern vielmehr, weil solches Verhalten, wenn es überhaupt entlarvt wurde, nicht als Schuld bekannt, sondern als unvermeidlicher Kompromiss gedeutet, nachträglich „theologisch“ gerechtfertigt, legitimiert oder nach einer stilisierten Selbstdarstellung glorifiziert wurde. Auf der Ebene der offiziellen Repräsentanten und Leitungskräfte der Kirche – bei Bischöfen, Dekanen, Kirchenpräsidenten oder Theologieprofessoren – ist diese Zusammenarbeit allein deshalb als schuldhaftes Versagen zu betrachten, weil sie meist hinter den Kulissen der Öffentlichkeit stattfand und sich einer Rechenschaft vor der beauftragenden Kirche (etwa vor einer Synode) entzog, bzw. weil sie sich mit einer Scheinrechenschaft abfand. Dieses Verhalten ist – wie oben schon angedeutet ? mit dem Wesen der evangelischen Kirche, die sich als Zeugnis- und Dienstgemeinschaft versteht, nicht zu vereinbaren. Kein Wunder, dass István Török, Theologieprofessor in Debrecen, rückblickend sowohl über das Verhalten der kirchenleitenden Personen als auch über die Mitverantwortung kirchlicher Gremien, etwa der Kreis- und Landessynoden, klagt:
„[…] da waren kirchenleitende Persönlichkeiten, die in hohen Ämter aufgezehrt wurden; aber manche haben hemmungslos agiert oder anscheinend Lust gehabt, mit der erworbenen Macht umzugehen, obwohl sie angesichts ihres Rechtsempfindens im Bezug auf den atheistischen Staat hätten vorbildlich sein müssen. […] Seitens der Kirche haben die Presbyterien mit ihren Stimmen zu ihren Berufungen beigetragen, sie haben sie festlich eingeführt, ihre offiziellen Berichte an die Kreis- und Landessynoden angenommen […], wer hat uns Kirchgänger dazu gezwungen?“[11]
Selbst das 20. Jahrhundert hat uns die alte Erfahrung bestätigt, dass kirchliche Organisationen stets von ihrem geschichtlichen Kontext abhängig sind; und in einem totalitären Staat passen sich Verhaltensweisen und Verhaltensformen kirchlicher Organe der politischen Struktur an.[12] Die Zusammenarbeit kirchlicher Leitungsorgane mit der staatlichen Bürokratie zeigt, dass das Zutrauen zur Kirchendiplomatie größer war als das Vertrauen auf die Kraft Gottes. Auch wenn das Ziel dieser kirchenleitenden Tätigkeit im Interesse der Selbsterhaltung der Kirche gelegen haben mag, kann man das nicht mehr als ein nur persönliches Versagen betrachten, weil es zum Verlust der Glaubwürdigkeit der Kirche in der Öffentlichkeit und zu einer tiefen Vertrauenskrise der Kirchenmitglieder gegenüber der Kirchenleitung beigetragen hat und immer noch beiträgt. Das Wahrheitszeugnis der Kirche sei durch die Einflussnahme der Machtorgane auf die Kirchen beschädigt, meint Wolf Krötke[13] bezüglich der Ereignisse in der ehemaligen DDR. Das Gleiche gilt für alle Kirchen in vergleichbaren geschichtlichen Situationen. Wie könnte man aber aus dem Schatten dieser Vergangenheit heraustreten – etwa mit Hilfe eines Schuldbekenntnisses?
2.2. Schuld der Kirche – Schuld
konkret?
Kirchliche Schuldwahrnehmung und demzufolge Schulderklärungen und Schuldbekenntnisse bleiben, auch wenn sie in bestimmten historischen Momenten einen „Schritt ins Freie“[14] für die jeweilige Kirche ermöglichten, immer zwiespältige Aktionen, führen zu ambivalenten Beurteilungen, am meisten indes leiden sie an zwei defizitären Mängeln: an der Konkretheit der Schuld und an der Unbestimmtheit des Subjektes, das die Schuld trägt, sie übernimmt oder bekennt.
In einem Entwurf versucht Dietrich Bonhoeffer im Herbst 1940 (im Verlauf seiner Arbeit an der theologischen Ethik), einem Schuldbekenntnis der Kirche seine Konkretion zu verleihen, indem er am Leitfaden der Zehn Gebote konkrete Felder des persönlichen, kirchlichen und sozialen Lebens anspricht, wo eindeutig Schuld begangen worden ist. Wenn man seine Aufzählung ansieht (z. B. Ausbeutung der Arbeitskraft über den Werktag hinaus, Zerstörung der Familien, Anwendung brutaler Gewalt, Judenverfolgung, Ausbeutung der Armen und Bereicherung durch Korruption),[15] leuchtet es ein, dass die konkrete Benennung objektiver Schuld einer tief greifenden Kenntnis des gemeinschaftlichen Lebens und einer erhellenden Analyse bedarf. So wird Schuld identifiziert und zugeschrieben, weil sie immer eine geschichtliche Gestalt annimmt, die in jeder Zeit eine andere Form haben kann. Eine bestimmte kontextuelle Konkretion der Schuld ist unumgänglich, auch wenn Schuld dadurch zeitgebunden bleibt, weil die undefinierbare Schuld uferlos wird und weitere Ungerechtigkeit hervorrufen würde. Hier geht es nicht einfach um allgemeine Schuldgefühle, seelisch-psychologische Vorgänge oder unbestimmte Gesetzmäßigkeiten im Alltagsleben. In ähnlicher Weise hat auch Friedrich Winter, der sich mit der Verantwortung des Bundes Evangelischer Kirchen in der DDR nach der Wende 1989 beschäftigt hat, versucht, die konkreten Inhalte möglicher Schuldaussagen mithilfe des Dekalogs zu ordnen.[16] In einem solchen Referenzraum (wie z. B. die zwei Tafeln des Gesetzes) fällt es zugleich auf, wie unkonkret und abseits des Gottesbezugs Christen und Kirchen über geschichtliche und gesellschaftliche Schuld reden: Es werden eher die Mängel im Blick auf das allgemeine Zusammenleben der Menschen benannt, aber die Tatsache, dass eventuell auch gegen Gottes Willen gehandelt worden ist, kommt kaum zur Sprache. Ohne diesen Bezug fehlt dem Reden über Schuld und Sünde aber die genuin christlich-theologische Dimension.[17]
Im historisch-gesellschaftlichen Zusammenhang geht es indes um solche Entscheidungen und Untaten, deren Folgen zum größten Teil nicht wieder gutzumachen sind, auch wenn die Einbindung des persönlichen Handelns in ein System und die Abhängigkeit von Machtstrukturen nicht zu bezweifeln sind. Wenn man aber die konkrete schuldhafte Wirklichkeit nicht benennt, wird weder Bekenntnis noch Vergebung bzw. Versöhnung möglich. Aus dieser Perspektive fallen sowohl das „Stuttgarter Schuldbekenntnis“[18] als auch die Deklaration des Synodalrates der RKU vom 9. Mai 1946 mit ihrer Allgemeingültigkeit auf. Ich zitiere die Deklaration: Die Kirche hat in der Vergangenheit „ihr prophetisches Amt nicht treu genug ausgeübt, hat in der weltlichen Weisheit und neueren politischen Lehre den ‚satanischen Sauerteig‘ nicht früh genug entdeckt; sie hat auf die Reinheit der Verkündigung nicht genug geachtet, unter den Funktionsträgern der Kirche keine richtige Disziplin bewahrt; sie wurde träge in der Liebe, ist mit den Machthabern falsche Kompromisse eingegangen und hat in der Kirche den Raum für weltliche Regelungen bereitet.“[19]
Der Mangel an Konkretheit oder, anders gesagt, die „Flucht vor der Konkretion der Schuld“[20] – ein Umstand, der in Deutschland zum „Darmstädter Wort“ geführt hat – ist nur das eine Problem. Das andere ist von einem kybernetischen Standpunkt zu erhellen. Wie konkret darf oder soll eine kirchliche Stellungnahme oder ein kirchliches Schuldbekenntnis sein, das mit dem Anspruch verfasst und veröffentlicht worden ist, stellvertretend für die Kirche oder für das Volk zu gelten? Und überhaupt: Ist ein kirchenleitendes Organ eigentlich befugt, im Namen der Kirche, der Christenheit oder einer Gesellschaft zu sprechen, oder gar ein Schuldbekenntnis abzulegen? Nicht nur das Stuttgarter Schuldbekenntnis sorgte in dieser Hinsicht für Aufregung und heftige Reaktionen. Die ungarisch-reformierte Synodaldeklaration wurde so gut wie nie richtig wahrgenommen, stattdessen wurde die Legitimität und Autorität der Kirchenleitung zu Schuldäußerungen seitens der Opposition bezweifelt, sogar abgelehnt. Dies geschah nicht aus Mangel[21] an Konkretheit, sondern aus anderen Interessen, denn bald sitzt diese Opposition mithilfe und Genehmigung kommunistischer Machthaber in kirchenleitenden Funktionen.
Bevor über die Repräsentanzfrage und die Subjekthaftigkeit von Kollektiven nachgedacht wird, sei hier nur darauf hingewiesen, dass eine kirchliche Äußerung auch dergestalt formuliert sein muss, dass möglichst viele sie übernehmen oder in sie einstimmen können. Das ist ein Merkmal protestantischer Kirchlichkeit: Die Vertretung kirchlicher Interessen oder Meinungen ist nicht ohne eine dahinterstehende communis opinio oder mindestens ohne die Klärung der Zuständigkeit von Amtsträgern und der sie beauftragenden Gemeinschaften vorstellbar. Nach reformatorischem Verständnis trägt nicht der Einzelne die Verantwortung für die rechte Ausübung eines Amtes, sondern die ganze Kirche. Die Kirche bzw. die Gemeinde soll darüber wachen, dass die durch die Wahl öffentlich berufenen und durch die Ordination oder Einsetzung bestätigten Amtsträger ihren Auftrag in richtiger Weise erfüllen. Betrachtet man die Vertretung der Kirche oder die Äußerungen im Namen der Kirche als kirchenleitende Entscheidungen, dann dürfen sie dem Auftrag der Kirche nicht widersprechen und sind auf Kontrolle, Kritik und eventuell Zustimmung seitens der Auftraggeber angewiesen.[22] Entscheidungen mit Leitungscharakter haben nicht nur Auswirkungen für den Repräsentanten, der sie trifft, sondern auf das Ganze des Systems. Aber auch wenn theologisch oder kirchenrechtlich gesehen all das gegeben ist, wird man damit rechnen müssen, dass Menschen, in deren Namen eine solche Äußerung verabschiedet wurde, bei bestimmten historischen Ereignissen und sozialen Prozessen nicht zureichend beteiligt wurden oder werden. Der Beteiligungsgrad und das Beteiligungsfeld sind vertikal und horizontal, zeitlich und sozial äußerst ausgedehnt, deshalb können sie die Konkretion nicht immer nachvollziehen, aber die Möglichkeit, sich mit dem Gesagten identifizieren zu können, muss offen gehalten werden.
Das Reden über Schuld, vor allem über Schuld in der Geschichte und in sozialen Interaktionszusammenhängen, muss weiterhin diese Grundspannung aushalten können: Einerseits ist man auf weitere Analyse bzw. kritisch-wissenschaftliche Forschung angewiesen, um zu konkreten Erkenntnissen über schuldhafte Vergangenheit zu gelangen und zugleich um einen nicht instrumentalisierbaren Prozess der Erinnerung, Versöhnung und Demokratisierung zu ermöglichen. Um eine bestimmte Konkretion der Schuld im historischen und sozialen Kontext zu erlangen, kann die Erkenntnis über die Frage weiterhelfen, ob die Entscheidungen, Stellungnahmen oder kirchenpolitischen Optionen dem Wesen und Auftrag der Kirche in einem bestimmten Interaktionszusammenhang entsprechen oder aber widersprechen. Andererseits gilt: Weil man mit Schuld auch auf überpersonaler Ebene und mit strukturellen Schuldzusammenhängen im sozialen Kontext zu rechnen hat, muss das Reden über Schuld repräsentativ bleiben, um einen Identifikationsrahmen zu eröffnen, in dem unterschiedliche Akteure des kirchlichen, aber auch des politisch-sozialen und wirtschaftlichen Lebens ihre Verantwortung wahrnehmen und nach mehr Gerechtigkeit streben. Dabei ist auch die Gefahr nicht zu übersehen, dass solche Schulderklärungen oder Schuldbekenntnisse immer mehrdeutig und ambivalent bleiben, eine bestimmte oder einseitige Geschichtsdeutung mittragen und sich nicht zuletzt leicht für politische bzw. kirchenpolitische Zwecke instrumentalisieren lassen.[23]
3. „Wer“ handelt und „wer“ spricht hier?
Wer ist gemeint, wenn die Kirche bekennt: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden“[24], oder wenn der ungarische Synodalrat sagt: Die Kirche „wurde träge in der Liebe, ist mit den Machthabern falsche Kompromisse eingegangen“?[25] Wie schon angedeutet: In dem Moment, in dem historische Schuld als ein komplexer Wirklichkeitsbereich erfahren wird, bezieht sich die Frage auf das Problem, dass das Reden über Schuld und Sünde im historischen und sozialen Kontext nicht allein auf die persönliche Dimension reduziert oder auf individuelle Verursachung zurückgeführt werden kann. Auch Unrechtsstrukturen sind menschengemacht und menschenverantwortet, aber gerade in den Situationen von gewollten oder ungewollten Verstrickungen in Schuldkonstellationen muss die transpersonale oder interpersonale Dimension dort mitbedacht werden, wo Sünde – biblisch gesagt – als eine den Menschen knechtende „Macht“ erfahren wird und wo alle von ihren Folgen betroffen sind – unabhängig von einer direkten oder indirekten Beteiligung, von Lebensalter oder Beruf. Und auch die Kirchen gehören zu jenen Institutionen, bei denen das Versagen in Amt und Sendung, zwanghafte oder freiwillige Anpassung, Mitläufertum und Kollaboration auch selbstkritisch in Rechnung gestellt werden müssen. Soziologisch betrachtet sind auch Kirchen Organisationen, die sich selbst fragen müssen: Inwieweit gab oder gibt es bei uns Strukturen, die durch sündhaftes Verhalten, Kompromisse oder Überlebensstrategien entstanden sind und durch deren Eigendynamik solche binnenkirchlichen Zusammenhänge geschaffen worden sind, die zur „Mitverschuldung“ oder „Verstrickung“ weiterer Kirchenmitglieder oder Organe geführt haben – oder auch noch heute führen können? Wie dieses „Grundübel kirchlichen Lebens“[26] sich entwickelt und aussieht – dafür steht paradigmatisch, was István Török bezüglich der reformierten Kirche in Ungarn – schon 16 Jahre vor der Wende (veröffentlicht erst nach 1990) – beklagt hat:
„Und dann – Schritt für Schritt, fast unbemerkt – besetzen unsere eigenen Entscheidungen [gemeint sind die Entscheidungen der Kirchenleitung] den Platz des Wortes Gottes. Auf diese Weise entziehen wir unsere Entscheidungen der ständigen Kontrolle des Wortes Gottes. Wir machen Tabus aus ihnen. Die Kritik dieser Entscheidungen gilt dann als Glaubensungehorsam und Häresie. […] Dann aber bleibt nichts anderes übrig, als mit eiserner Konsequenz die zentralisierte kirchliche Presse, die Pfarrerausbildung und das ganze offizielle kirchliche Leben in den Dienst dieser Entscheidungen zu stellen. […] Es ist wahr, dass für theologisch fundierte Kirchenkritik in der gegenwärtigen Lage fast kein Raum bleibt.“ (1974)[27]
Es ist kein Wunder, dass eine solche „verengte Sicht“ die Urteilskraft und das Verantwortungsbewusstsein in einer Glaubensgemeinschaft dauerhaft lähmt und zu einer generationenübergreifenden Deformation kirchlichen Lebens führen kann.
Bezüglich der Subjekthaftigkeit in der Schuldfrage ist bei der Aufarbeitung der Vergangenheit in unseren Kirchen, genauso wie in der Gesellschaft, nicht nur eine Unwilligkeit festzustellen, sondern eine Verortung der Schuldfrage, und zwar in zweifacher Hinsicht: Einerseits neigt man, wenn es um die Feststellung der Verantwortung für Entscheidungen und kirchenpolitische Optionen der Vergangenheit geht, die in einem bestimmten historischen oder sozialen Zusammenhang zum Glaubwürdigkeitsverlust und/oder zur Beschädigung des Wahrheitszeugnisses der Kirche geführt haben, zu einer Depersonalisierung des Schuldverständnisses. Die Schuld wird nicht erkannt, bekannt oder bereut, vielmehr wird sie ungerechten gesellschaftlichen Verhältnissen und ungünstigen geschichtlich-politischen Konstellationen zugeschrieben. Alle Akteure waren ein Rädchen in der großen Maschinerie, alle Schuldvorwürfe werden gegenstandslos, das Ergebnis ist eine kollektive Verantwortungslosigkeit! Andererseits: Wenn es um die Frage der Entlastung innerhalb einer Gemeinschaft oder eines Kollektivs geht, dann schlägt die Tendenz gerade in die entgegengesetzte Richtung um: Eine Personalisierung der Schuldfrage erweist sich als endgültige Lösung. Dann wird nur noch nach den einzelnen Verantwortungsträgern gesucht, ihre Untaten werden enthüllt, Personen in früheren Schlüsselfunktionen bloßgestellt oder an den Pranger gestellt. Die Bloßstellung menschlichen Versagens bringt aber weder heilsame Erkenntnisse noch Selbstentlastung. Sie ist nichts anderes als Ausdruck eines Interesses an kollektiver Unschuld.
Betrachtet man dagegen die Schuld als soziales Beziehungsgeflecht, aus dem die Kirche nicht herausgenommen werden kann, oder will man das gemeinschaftliche Erkennen, Übernehmen und Bekennen von Schuld genauer erfassen, wird die Frage nach dem dahinterstehenden „Subjekt“ unumgänglich. Mit dem Hinweis auf das doppelte Subjekt versuchte Bonhoeffer seinerzeit zu verdeutlichen, dass es im Bereich der Schuld immer zwei Betroffene gibt: „der Einzelne und die Gemeinschaft und beide existieren gleich verantwortlich“[28]. Aber ihm ging es dabei um keinen quantitativen Vergleich, sondern es geht ihm um die Erkenntnis der Schuld und um die Unmöglichkeit einer Entlastung des einen auf Kosten des anderen. Sein Interesse liegt darin, den sozialen Charakter der Schuld, die durch die Sünde gesetzten sozialen Grundbeziehungen zwischen dem Ich und dem Du, zwischen dem einzelnen Menschen und der Gemeinschaft aufzudecken.[29] Laut Eberhard Bethge hat Bonhoeffer zeit seines Lebens ? nicht nur in „Communio Sanctorum“, sondern ebenso in „Akt und Sein“, dann in „Schöpfung und Fall“ – darüber nachgedacht, „wie denn die kollektive Subjekthaftigkeit und Verantwortlichkeit, die Haftbarkeit einer Gruppe praktisch und theologisch aussehen möchte“[30]. Denn auch wenn er die Gemeinschaft der Heiligen und eine Gemeinschaft der Sünder zusammensehen konnte und das simul iustus et peccator sowohl für die Glieder der Kirche als auch für die empirisch wirkliche Kirche gelten ließ, wehrte er sich gegen die möglichen Fehldeutungen, die bei einer solchen Differenzierung und Zusammenschau auftreten können; weder die Relativierung bzw. Bedeutungslosigkeit der empirischen Kirche aufgrund ihrer Sündhaftigkeit und Abkoppelung von der wirklichen Kirche im Fall einer strikten Trennung noch die Vorstellung einer ecclesia perfecta aufgrund einer undifferenzierten Zusammenschau von sichtbarer und unsichtbarer Kirche waren für ihn akzeptabel.[31] Doch die Behauptung, in Adam sei die ganze Menschheit „eine Kollektivperson“, die durch die Kollektivperson in Christus abgelöst sei, gibt auf unsere Fragestellung keine ausreichende Antwort, auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag. Die hegelianische Auffassung, ein Kollektiv konstituiere sich durch den objektiven Geist, der eine totale Identifikation zwischen dem Bürger des Staates und dem Staat ermöglichen würde und dessen Gedankenfigur sich leicht für religiöse Gemeinschaften wie die Kirche adaptieren ließe, kann hier nicht weiter verfolgt werden. Auch für Bonheoffer wäre dies untragbar, da er die erfahrbare Kirche christologisch konstituiert sah. Ein hegelianisierendes Kollektivperson-Konzept würde – wie Michael Welker mit Recht feststellt ? entweder zu einer Homogenisierung menschlicher Individuen oder zu einer totalen Identifikation von Christus und Gemeinde führen.[32] Aus der Sicht der Sündenvergebung, Schuldübernahme, Stellvertretung und Rechtfertigung ist eine Differenzierung, die die Individualität und Personalität des einzelnen Menschen vor Gott präsent halten will, mit Rekurs auf ein solches Kollektiv auch nicht aufzugeben.
Die Re-Lektüre der Gedankenführung Bonhoeffers über die Sozialität der Kirche weist aber auf die Notwendigkeit hin, dass die real vorfindliche Wirklichkeit der Kirche weiterer empirischer Untersuchungen und theologischer Reflexionen bedarf. Denn auch wenn die geglaubte Kirche in der empirischen Kirche Gestalt gewinnt und auch wenn die Kirche sich als eine komplexe Einheit und geschichtlich-gesellschaftliche Größe erweist, bleibt sie doch in ihrer inneren und äußeren Struktur nicht unberührt, wenn sie mit der objektiven Wirklichkeit der Politik, der Wirtschaft, des Rechts, der Medien in Berührung kommt.[33] Und Entscheidungen, Kommunikation und Handeln kirchlicher Organe oder Amtsinhaber sind auch für die Gefüge christlich-kirchlicher Lebensgestaltung und die ethische und theologische Orientierung der eigenen Mitglieder und der Öffentlichkeit nicht ohne Belang. Gerade aus der Notwendigkeit, diese – früheren oder heutigen ? Entscheidungen, strukturellen Änderungen oder gar Deformationen der Kirche in geschichtlich-gesellschaftlichen Wendezeiten theologisch-sozialethisch zu deuten oder für die Gestaltungsmöglichkeiten der Kirche unter den heutigen sozialen und wirtschaftlichen Prozessen Orientierungshilfe bieten zu können, ist man auf die theologische Deutung empirischer Wahrnehmungen angewiesen. Aus einem bestimmten Grund kann man von einer Differenzierung empirischer und geglaubter Kirche und von der Klärung dieser Zuordnung nicht absehen: Will man dem protestantischen Verständnis von Kirche treu bleiben, kann die Einsicht nicht aufgegeben werden, dass eine bestimmte Gestalt oder geschichtliche Form der Kirche nicht mit der wahren Kirche identifiziert und für den Glauben verpflichtend gemacht werden darf. Stattdessen ist diese Differenzierung sowohl für eine angemessene Deutung der Rolle der Kirche in der Vergangenheit als auch für die Gestaltung der Zukunftsperspektiven (etwa bei Strukturreformen) in der Gegenwart geltend zu machen. Dabei ist nicht zu übersehen – und das ergibt sich aus den oben erwähnten historischen Beispielen und Erwägungen –, dass es bei den Entscheidungen und Handlungen der Kirche nicht einfach um die Entscheidungen und Handlungen kirchlicher Amtsträger geht; indem sie diese in einem Auftrag ausführen, muss die Kirche als Kirche als das handelnde Subjekt angesehen werden.
Es stellt sich die Frage, ob hier nicht die neuerlich in den kirchentheoretischen Entwürfen und Ansätzen[34] geforderte Unterscheidung zwischen Kirche als Institution und Kirche als Organisation weiterhilft. Johannes Fischer gibt zu bedenken, dass „die Institution der Kirche […] durch die genuin kirchlichen Ämter, Verkündigung, Seelsorge, Unterricht, Diakonie und Kirchenleitung [konstituiert wird], durch die sich das vermittelt, was die Kirche in ihrem Wesen ausmacht. Die kirchliche Organisation ist demgegenüber – wie jede Organisation – durch die Ziele definiert, die sie verfolgt und um derentwillen es sie gibt.“[35] Bei diesen Zielen geht es, wie bei allen Organisationen, darum, diejenigen Ressourcen und Voraussetzungen bereitzustellen, die die Tätigkeit der Institution ermöglichen, seien es finanzielle Mittel, Einrichtungen, Kommunikation etc. Als Organisation ist die Kirche auf strategisches Denken und Handeln angewiesen, das auch auf Professionalisierung und Effizienzsteigerung kirchlicher Mitarbeiter zielt sowie eigene Ziele und Interessen entwickelt. Auch wenn dies für die Institution Kirche oft irritierend wirkt, erwies sich dies für die Ausführung des genuinen kirchlichen Auftrags (Verkündigung, Seelsorge, Diakonie) als unentbehrlich. Fischer folgt diesem Gedanken angesichts der Debatte um die Daseinsberechtigung der Marketing- und Strukturreformen in den evangelischen Kirchen in Europa.
Im Zusammenhang des Schuldthemas stellt sich die Frage: Wer erwies sich als schuldiger, die Person (als einfacher Pfarrer oder Amtsinhaber in kirchenleitender Funktion), die als passiver Mitläufer oder tätiger Mitarbeiter sich der Unterstützung der Unrechtsregime nicht entziehen konnte, oder die ganze Kirche? Wen betrifft die historische Schuld: die Institution Kirche oder die Organisation Kirche? (Die Fragestellung ist auch bezüglich der Missbrauchsfälle in der Kirche nicht irrelevant.) Und wenn die Kirche ihre Schuld bekennt – bekennt sie die Schuld ihrer Mitglieder oder die eigene, institutionelle bzw. organisatorische Schuld?
Anhand einer Analogie mit wirtschaftlichen Organisationen und Unternehmen und mit der Einführung des Begriffes „kollektive Verantwortung“ erweist Martin Honecker die Unhaltbarkeit der alten Grundweisheit „Societas delinquere non potest“ (Organisationen können nicht kriminell werden). Gerade die Zeit moderner Wirtschaftsunternehmen, ökologischer Katastrophen und spekulativer (und virtueller) Geschäfte hat gezeigt, dass Kollektive kriminell handeln können und dass die Neugestaltung der juristischen Kultur unentbehrlich ist, um nicht nur natürliche, sondern auch juristische Personen strafrechtlich zur Verantwortung ziehen zu können. In der Tat, in der Rechtspraxis und auch im internationalen Recht werden heute bei systemischem Verschulden oder einem von einer Organisation verursachten Schaden noch alle Mitwirkenden persönlich verantwortlich gemacht.[36] In Bezug auf kollektive Handlungssubjekte ist allerdings ? laut Honecker – klarzustellen, dass die Berufung auf ein Kollektiv die Verantwortung der Einzelnen zwar nicht aufhebt, andererseits aber kollektive Handlungsverantwortung auch nicht einfach eine Summe individueller Entscheidungen ist. Für diese Deutung ist es nicht nötig, eine ontologische Kollektivperson zu postulieren; vielmehr verweist Honecker mit Recht auf die Wechselwirkung zwischen Individuen und Gruppen, auf einen Zusammenhang, in dem man mit anderen zusammen handelt, in dem das Handeln Einzelner auf andere wirkt und wieder zurückwirkt und in dem eventuell ein Geflecht von gegenseitiger Abhängigkeit und Verantwortlichkeit zustande kommt – eine Interaktion, durch die sich schließlich eine Gruppe konstituiert.[37] So können gemeinsam verantwortliche Handlungssubjekte auftreten, aber die Autonomie, und damit die Verantwortlichkeit des Individuums gewahrt bleiben. Dies ist eine wichtige Feststellung, wenn man bedenkt, dass die Forderung, die individuelle Autonomie müsse hinter der Gemeinschaft zurücktreten (sei sie völkisch-ethnisch oder politisch-ideologisch motiviert), ein Wesensmerkmal totalitärer Regime ist.
Versucht man die eben festgestellte Interaktion von individuellen Handlungssubjekten und Gruppen aus organisationssoziologischer bzw. systemtheoretischer Perspektive weiterzuverfolgen, wird erkennbar, dass die Handlungssubjekte in Handlungskreisläufe eingebunden sind, d. h., es besteht ein Interaktionszusammenhang zwischen den Intentionen der handelnden Personen und den Handlungskontexten, zwischen Handlungen der Einzelnen und ihren Folgen, eine Wirkung und Rückwirkung, bei der Schuld eine übersubjektive Macht erlangt. Es geht hier nicht einfach darum, kurzschlüssig von der Sünde der Menschen auf die Sünde sozialer Systeme zu schließen oder die angeblich sündigen Strukturen dieser Welt zu enthüllen. Vielmehr muss dieses Phänomen gesellschaftstheoretisch, soziologisch und theologisch weiter erforscht und reflektiert[38] werden, um zu sehen, dass der Mensch nicht in dem Maße über einen direkten Einfluss auf die Folgen seines Tuns und Lassens in sozialen Systemen verfügt, wie er es sich wünscht oder einbildet. Berücksichtigt man, wie soziale Systeme entstehen und sich selbstständig entwickeln, indem sie sich – wie Niklas Luhmann analysiert hat[39] – als Prozesse von Kommunikationshandlungen ständig reproduzieren, und wie sie auf die Veränderungen der Umwelt ununterbrochen mit Deutungen, Strukturen und Erwartungen reagieren, erkennt man, dass der Mensch diesen Prozess nicht eindeutig zu steuern oder zu beherrschen imstande ist. Je komplexer das soziale System wird, in dem sich der einzelne Mensch an verantwortlichen Positionen befindet, je globaler die Konsequenzen des eigenen Handelns erfahrbar werden, desto schärfer wird man erfahren, dass die Folge dieses persönlichen Verhaltens eine eigene Dynamik in den sozialen Zusammenhängen erlangt, die nicht allein auf die Interessen und Absichten der ursprünglichen Akteure zurückzuführen ist. Stattdessen entstehen durch neue Kommunikationsprozesse, durch Erwartungen von Menschen und Gruppen neue Strukturen, Organisationen und Institutionen in Bereichen wie Politik, Wirtschaft und Moral,[40] aber auch im religiösen Milieu. Hier geht es also um mehr als eine numerische Bilanz des individuellen Versagens. Gerade die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts haben beispielhaft bewiesen, dass es zu kurz greift, die Schuld lediglich einzelnen historischen Akteuren zuzuschreiben oder historisch-politische und gesellschaftliche Verbrechen an einzelnen Personen festzumachen. Damit soll die individuelle Verantwortung Einzelner freilich nicht bestritten werden. Wie Michael Beintker feststellen kann: „Das Böse gewinnt gegenüber den es verursachenden Personen eine unheimliche Eigendynamik, es entwickelt ein beängstigendes Eigenleben, das auf die Individuen wie eine objektive Macht zurückwirkt, neue Schuld erzeugt und einen […] zerstörerischen Regelkreislauf von kleinen Ursachen und verhängnisvollen Wirkungen aufbaut.“[41]
Im Blick auf die verfasste Kirche in ihrer geschichtlichen Gestalt fragt man sich natürlich, inwieweit die Kirchen soziologisch gesehen als solche gesellschaftliche Interaktionssysteme zu betrachten sind, in denen – wie in anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen auch – individuelles Versagen oder gemeinsam getragene Entscheidungen, menschliche Interessen und Gegeninteressen, Erwartungen und Kompromisse, Selbsterhaltungsstrategien und Selbstorganisierungsprozesse kritisch auf ihre Sündhaftigkeit zu prüfen sind. Durch eine Differenzierung von Kirche als Institution und Kirche als Organisation ist die Schuldhaftigkeit der Organisation bzw. des „sozialen Systems Kirche“ objektiver zu analysieren und zu untersuchen sowie in bestimmten Fällen Rechtsverletzungen, Strafbarkeit und mögliche Sanktionen festzustellen. Diese Letzteren sind bei der historischen Schuld – anders als bei Menschrechtsverletzungen oder Rechtsverstößen sozialer oder finanzieller Art in Gegenwart bzw. in der jüngsten Vergangenheit – schwieriger nachvollziehbar und vom Zeitfaktor abhängig. Auf jeden Fall würde diese Differenzierung und Benennung doch die Scheinheiligkeit und Intaktheit einer religiösen Gemeinschaft, die sich mit Berufung auf ihre göttliche Stiftung als Kollektiv jeder Kritik zu entziehen strebt, ins Licht des Realismus rücken. Die Organisation Kirche, die Voraussetzung für die Erfüllung ihres Auftrags in der Welt ist, kann sich den verschiedenen Interaktionssystemen nicht entziehen; sie ist im Gegenteil darauf angewiesen, sich auf die sozialen und geschichtlichen Bedingungen ihrer Zeit einzulassen; höchstens kann und soll sie in der Befriedigung ihrer organisatorischen Bedürfnisse und Ziele nach mehr Gerechtigkeit trachten. Aber sie ist auf das Eigenleben, den Selbstzweck oder die „Zeitgeistanfälligkeit“[42] kirchlicher Strukturentwicklungen, die sich aus ihrer Geschichte ergeben, hin kritisch zu analysieren. Auch die heutige Orientierung an nicht-theologischen Strategien und Modellen, an denen sich Strukturreformen ausrichten, ist einer theologischen Reflexion zu unterziehen.
Aber auch als Institution muss die Kirche ihre „institutionalisierte
Verantwortung“[43]
wahrnehmen, weil Christus den Auftrag seiner
Kirche gegeben hat – und erst dadurch den Einzelnen, den Gliedern und
Amtsträgern der Kirche. Deshalb kann und soll die Kirche auf
diesem Grund die Richtigkeit ihrer Lehre, Verlautbarungen,
Stellungnahmen und kirchenleitenden Entscheidungen nach der
Erfüllung des Verkündigungs- und Sendungsauftrags bemessen.
Dabei kann die Kirche sich nicht als „unfehlbar, sondern als
irrtumsfähig“[44]
betrachten, aufgrund ihrer Lernfähigkeit
muss sie die eigenen Positionen für Korrekturen offen halten, sie
darf zu neuen Erkenntnissen gelangen und sich gegebenenfalls
korrigieren lassen. Geht man aber von der reformatorischen Auffassung
von der Entsprechung und dem inneren Zusammenhang von Lehre und
Gestaltung, Botschaft und Ordnung aus, ist auch nicht zu
übersehen, dass gerade diese theologische Irrtumsfähigkeit zu
falschen organisatorischen Entscheidungen führen kann. Die
„diakonische Theologie“ oder die von Ervin Vályi Nagy mit Recht
kritisierten quasi-theologischen (in der Tat geschichtsphilosophischen)
Prämissen der kirchenleitenden Entscheidungen[45] in Ungarn
während der Zeit des totalitären Systems sind paradigmatische
Belege dafür. Es ging hier nicht nur darum, was Niklas Luhmann –
übrigens mit Recht – feststellt, dass „die geistliche
Kommunikation zurücktritt, die Organisation hingegen
hervor“[46] und dadurch
das Wachstum oder die
Selbstgefälligkeit der Organisation Folgen für die
eigentliche Kirche haben kann. Gerade umgekehrt: Kirchenleitende
Entscheidungen wurden von außen politisch-kirchenpolitisch
motiviert und nachträglich theologisch normiert, dann endlich als
Ertrag einer Glaubenserkenntnis kommuniziert.[47] Die ganze
theologische Beschäftigung der darauf folgenden Jahrzehnte in der
Ungarischen Reformierten Kirche zeigt diese Wechselwirkung:
„theologische Erkenntnisse“ und Entscheidungen – z. B. die
Erwählung der Gemeinde und die Anteilnahme der Kirche am
Versöhnungswerk Christi als einem hermeneutischen Schlüssel
für die dienende Kirche oder die „zeitgemäße
Erklärung des Liebesgebotes Christi“, um die Aufgeschlossenheit
der Menschen für alle Probleme der Welt zu bewirken, oder die
Inanspruchnahme des Versöhnungswerks Christi für die
Entsprechungen zwischen Kirche und Welt, zwischen Christen und
Marxisten[48] ? haben
sowohl für die Organisation als auch
für Institution Kirche verhängnisvolle Konsequenzen gehabt:
Einerseits haben sie der staatlichen Willkür in der Kirche Tor und
Tür geöffnet und eine eigene innerkirchliche
Herrschaftsstruktur ermöglicht, andererseits wurde dadurch eine
nicht unfehlbare, aber kritische theologische Arbeit unmöglich
gemacht.
4. Ausblick
Angesichts der schuldhaften Verstrickungen der verfassten Kirche, die
sich zeitgeschichtlich gesehen wie gegenwartsbezogen durch die
Unmöglichkeit des Entrinnens vor den historischen und sozialen
Interaktionszusammenhängen ergeben oder aus falschen theologischen
Prämissen folgen, besteht noch erheblicher Forschungs- und
Reflexionsbedarf. Aber sowohl bezüglich der Erinnerung
schuldhaften Versagens in der Geschichte als auch auf neuere
Krisenerscheinungen darf die Kirche nicht mit einer „Systemoptimierung“
nach soziologischem oder ökologischem Gestaltungsmuster antworten
(was nicht heißt, dass solche Methoden nicht doch selektiv, nach
einer theologischen Bewertung und Reflexion, angewendet werden
können[49]). Selbst
die systemtheoretischen oder
organisationssoziologischen Annäherungen rechnen im Fall der
Kirche mit etwas anderem, das
die Organisation Kirche nicht nur als Organisation erscheinen
lässt, die bestimmte Ziele verfolgt, sondern das etwas vermittelt,
was sich in Kategorien der „Sinnvermittlung“[50], der
„Nichtänderbarkeit“[51],
des „Religiösen“[52]
ausdrücken lässt. Die evangelische Theologie bezeugt aber die
Untrennbarkeit der empirischen und geglaubten Kirche, die ihr nicht nur
eine bestimmte Freiheit gegenüber der Geschichte und
gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Umwälzungen
gewährt, sondern sie auch anders über das Schuldthema reden
lässt.
Deshalb muss bei der christlich-kirchlichen Antwort auf die Frage nach der Schuld – inklusive der Schuld der Kirche – die befreiende Kraft der theologischen Sicht zu Wort kommen. Das heißt: Schuld wird vor allem als Schuld vor Gott bzw. als Sünde qualifiziert. Gott hat die Menschen in die Verantwortung füreinander berufen, deshalb ist der Mensch vor allem vor Gott schuldig. Sünde als Schuld vor Gott ist bestimmt von einem personalen Gegenüber: gegenüber Gott und gegenüber den Nächsten. Darum kann Schuldwahrnehmung weder als spekulative Geschichtsdeutung noch als depersonalisierende Verortung oder moralisierende Zuweisung der Schuldfrage auftreten, sondern muss als Schuldbekenntnis ausgesprochen werden. Schulderkenntnis und Gotteserkenntnis gehören untrennbar zusammen. Aus kirchen- und theologiegeschichtlicher Perspektive weiß man, dass christliche Schuldbekenntnisse und die Besinnung auf die Universalität der Schuld immer Bestandteil des gottesdienstlichen Lebens der Kirche waren und heute noch sind. Das Korporative Schuldbekenntnis war zugleich Konfession der christlichen Gemeinde. Solange sich im politischen Raum niemand zur Kollektivschuld bekennen will und kann und man auch juristisch noch auf Entwicklungen auf den Gebieten der Rechtsphilosophie und Rechtskultur wird warten müssen,[53] scheint – wie Michael Beintker feststellt[54] – nur ein einziges Kollektiv in der Lage zu sein, darüber zu sprechen: „Wir haben gesündigt!“ Nur die zum Gottesdienst versammelte christliche Gemeinde ist der Ort, an dem die oben erörterten Zusammenhänge von Schuld und Schuldwahrnehmung, Sündhaftigkeit der einzelnen Individuen, aber zugleich der Gemeinschaft, aber auch von Vergebung und Barmherzigkeit erkannt, bezeugt und gelebt werden können. Die Kirche wird sich in der neuzeitlichen Lebenswelt daran messen lassen müssen, wie sie „die Botschaft von der freien Gnade Gottes an alles Volk“ (Barmer Theologische Erklärung, 6. These) ausrichtet. Die Kirche würde ihren Auftrag verfehlen, wenn sie auf die politische Harmlosigkeit der Schuldfrage in der Gesellschaft mit theologischer Harmlosigkeit antworten und den Eindruck einer allgemeinen Verunsicherung vermitteln würde. Deshalb gilt die These: Nur eine Schuldwahrnehmung unter dem Kreuz Christi ermöglicht es, nicht harmlos von der Schuld und nicht billig von der Gnade zu sprechen. Es gibt ja historische und soziale Schuldkonstellationen, die jederzeit, auch unter den heutigen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, aufgrund einer Wechselwirkung zwischen Sünde der Menschen und Schuldhaftigkeit sozialer Strukturen entstehen können. Es gibt historische Schuld, die in der Geschichte begangen wurde – und es gibt historische Schuld, die die heutige Generation auf sich laden kann. Aber die Schuldwahrnehmung vor Gott ist befreiend! Sie befähigt zur Schuldeinsicht und Schulderinnerung, stellt den Zuspruch der Gnade und die Praxis der Vergebung in Aussicht, und weil sie mit Gerechtigkeit und Barmherzigkeit rechnet, führt sie die Kirche nicht nur immer wieder zurück zu ihrem ursprünglichen Auftrag, die Quelle ihrer eigenen Erneuerung zu finden, sondern stellt sie mit dieser spezifischen Aufgabe und Funktion auch in den Fokus der gesellschaftlichen Wahrnehmung.
Notes
[1] Ervin Vályi
Nagy, Wende und Wandlung, in: Á.
Vályi-Nagy (Hg.),
Geschichtserfahrung und die Suche nach Gott. Die Geschichtstheologie
Ervin Vályi Nagys, Stuttgart, 2000, S. 136-143, hier: 140
[2]A.a.O., S. 141.
[3] A.a.O., S. 143.
[4] Vgl.: Péter
Nádas, Der Stand der Dinge. Warum der
Versuch einer dritten Modernisierung Ungarns nicht gelungen ist, in: Lettre International 95 (2011), S.
39-49. - Gert Pickel, Nostalgie oder Problembewusstsein?
Demokratisierungshindernisse aus der Bewältigung der Vergangenheit
in Osteuropa, in: S. Schmidt/G. Pickel/S. Pickel (Hg.), Amnesie, Amnestie oder Aufarbeitung? Zum
Umgang mit autoritären Vergangenheiten und
Menschenrechtsverletzungen, Wiesbaden 2009, S. 129-158.
[5] Pickel, Nostalgie oder
Problembewusstsein?, S. 136ff.
[6] Richard von
Weizsäcker, Der 8. Mai 1945 – 40 Jahre danach,
in: Ders., Von Deutschland aus.
Reden des Bundespräsidenten, Berlin 1985, S. 9–35, hier: 17.
[7] Eilert Herms, Schuld in
der Geschichte. Zum „Historikerstreit”,
in: Ders., Gesellschaft gestalten,
Tübingen 1991, S. 1-24, hier: 15–16.
[8] A.a.O., S. 14.
[9] A.a.O., S. 18.
[10] Ervin Vályi
Nagy, Gott oder Geschichte? in:
Vályi-Nagy (Hg.), Geschichtserfahrung,
S. 25-35.
[11] István
Török, A pusztai vándorlás
után, az ígéret földje előtt,
in: Reformátusok Lapja
1990. június 3, 1.5.
[12] Martin Honecker,
Individuelle Schuld und kollektive
Verantwortung: Können Kollektive sündigen? in: ZThK 90 (1993), S. 213–230, hier:
224.
[13] Wolf Krötke,
Das beschädigte Wahrheitszeugnis der
Kirche. Zu den Folgen der Einflussnahme des MfS auf die Kirchen, in:
Clemens Vollnhals (Hg.), Die
Kirchenpolitik von SED und Staatssicherheit, Berlin 1996, S.
405-414, 414.
[14] Wolfgang Huber,
Gleitwort, in: Martin Greschat (Hg.), Im
Zeichen der Schuld. 40 Jahre
Stuttgarter Schuldbekenntnis. Eine Dokumentation,
Neukirche-Vluyn 1985, S. 7-8, hier: 7.
[15] Dietrich Bonhoeffer,
Ethik, München 6. Aufl. 1992, S.
129-131.
[16] Friedrich Winter,
Öffentlich Schuld bekennen. Schuld und
Vergebung vor und nach der „Wende” in Bund der Evangelischen Kirchen
(in der DDR), in: KZG 4
(1991), S. 422-445, hier: 440-441.
[17] Ebd.
[18] Greschat, Im Zeichen der
Schuld, S. 45-46.
[19] A
magyarországi református egyház zsinati
tanácsa Budapesten, 1946. évi május hó
9-én tartott negyedik ülésének jegyzőkönyve.
Zsinati irományok 47. [Dokumente der Sitzung des Synodalrates
der RKU vom 9. Mai 1946, in: Synodalarchiv der RKU, Synodaldokument Nr.
47] – Vgl.: Sándor Fazakas, "Új
egyház felé?"- a második
világháború utáni református
egyházi megújulás ekkléziológiai
konzekvenciái [„Für
eine neue Kirche?” Ekklesiologische Konsequenzen der kirchlichen
Erneuerungsbewegung nach dem II. Weltkrieg in der Reformierten Kirche
Ungarns], Debrecen 2000, (Dissertationes Theologicae 4) S. 20.
[20] Martin Greschat,
Einleitung, in: Ders., Im Zeichen
der Schuld, S. 37.
[21] Siehe: Országos
Református Szabad Tanács határozatai,
deklarációi és kérelmei.
Nyíregyháza 1946. augusztus 14-17. Budapest 1946.
Szerk. Békefi Benő
[Beschlüsse, Deklarationen und
Anträge des Reformierten Freien Rates von Nyíregyháza,
14-17. August 1946. Hg. von Benő
Békefi], Budapest 1946.
[22] Vgl.: Klaus Tanner,
Organisation und Legitimation. Zum internen
Stellenwert politischer Stellungnahmen der Evangelischen Kirche in
Deutschland, in: H. Abromeit/G. Wewer (Hg.): Die Kirchen und die Politik. Beiträge
zu einem ungeklärten Verhältnis, Opladen 1989, S.
201-220. – Vgl. Die Repräsentation der Kirche bei R. Preul: Reiner
Preul, Kirchentheorie, Wesen,
Gestalt und Funktionen der Evangelischen Kirchen,
Berlin·New York 1997, S. 235-241.
[23] Vgl.: Greschat, Im Zeichen
der Schuld, S. 79-86. - Martin Honecker, Individuelle Schuld und
kollektive Verantwortung: Können Kollektive sündigen? in: ZThK 90 (1993) S. 213–230, 217. –
Fazakas, "Új egyház felé?", S. 29. - Bölcskei
Gusztáv, Az egyházkép változása a
Magyarországi Református Egyház utóbbi
negyvenöt esztendejében [Die Wandlung des Kirchenbildes in
der RKU während der letzten 45 Jahren], in: Confessio 15 (1991/1) S. 22-25.
[24] Martin Greschat
(Hg.), Die
Schuld der Kirche. Dokumente und Reflexionen zur Stuttgarter
Schulderklärung vom 18./19. Oktober 1945. München
1982, S. 102.
[25]
Synodalerklärung der RKU (wie Anm. 19).
[26] Zoltán Balog,
Beobachtungen zur theologischen
Neuorientierung in der Reformierten Kirche Ungarns seit 1989, in: EvTh 55 (1995) S. 217–229, 218.
[27] István
Török, Leszűkített
látókör [Verengte Sicht], in: Ders., Határkérdések
szolgálatunkban [Grenzfragen
in unserem Dienst], Budapest 1990, S. 24–29, 26ff.
[28] Siehe: Eberhard
Bethge, Schuld bei Dietrich Bonhoeffer, in:
Ders., Am gegebenen Ort,
Aufsätze und Reden, München, 1982, S. 83-99, hier: 86.
[29] Dietrich Bonhoeffer,
Sanctorum
Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche,
München 1969, S. 72-73
[30] Bethge, Schuld, S. 87.
[31] Siehe: Joachim von
Soosten, Die
Sozialität der Kirche. Theologie und Theorie der Kirche in
Dietrich Bonhoeffers „Sanctorum Communio“, München 1992, S.
90-93.
[32] Michael Welker, Karl
Barths und Dietrich Bonhoeffers
Beiträge zur Zukünftigen Ekklesiologie, in: ZDTh 22 (2006/2), S. 126-127.
[33] Vgl.: a.a.O., S. 136.
[34] Siehe: Johannes
Fischer,
Sittlichkeit und Rationalität. Zur Kritik der desengagierten
Vernunft, Stuttgart 2010, 370. – Vgl.: Reiner Preul, Die soziale Gestalt des Glaubens.
Aufsätze zur Kirchenleitung, Leipzig 2008, vor allem S.
52-63. – Vgl. Ulrich H. J. Körtner, Die Repräsentanzkrise der
Kirche und das Problem der Schuld, in: Michael Beintker /Sándor
Fazakas (Hg.), Die öffentliche
Relevanz von Schuld und Vergebung in der Perspektive der reformierten
Theologie, Debrecen 2012, (Studia Theologica Debrecinensis.
Sonderheft), S. 115-123.
[35] Fischer, Sittlichkeit,
S. 370.
[36] Die Idee des
Schlußstrichs. Eine Diskussion mit J. Gauck,
R. Schröder, G. Schwan, u.a., in: Universitas 51 (1996), S.
1174-1187, hier S. 1182. – Vgl. Werner Krawietz, Gibt es normative
Kollektivsubjekte? Zum politische-rechtlichen Gemeinschaftsparadigma im
Verhältnis von Religion, Staat und Recht, in: G. Thomas/A.
Schüle (Hg.), Gegenwart des
lebendigen Christus. Michael Welker zum 60. Geburtstag, Leipzig,
2007, S. 497-540.
[37] Honecker, Individuelle Schuld,
S. 227f.
[38] Vgl: Ralf Dziewas,
Von der „Sünde der Welt” und
„Sündhaftigkeit sozialer Systeme”, in: R. Leonhardt (Hg.), Die Aktualität der Sünde. Ein
umstrittenes Thema der Theologie in interkonfessioneller Perspektive,
Frankfurt a. M. 2010, (Beihefte zu ökumenischen Rundschau 86) S.
95–119, hier: 101.
[39] Niklas Luhmann, Soziale
Systeme. Grundriss einer allgemeiner Theorie, Frankfurt a. M.
1984, S. 193.
[40] Vgl. Dziewas, Von der
„Sünde der Welt”, S. 110–111.
[41] Michael Beintker, Die
Eigendynamik der Sünde in sozialen Systemen.
Unveröffentlichte Manuskript, 3.
[42] Traugott
Jähnichen, Die Parallelität von
gesellschafts- und kirchenreformerischen Diskursen im 20. Jahrhundert.
Ein Beispiel der Zeitgeistanfälligkeit des deutschen
Protestantismus?, in: Isolde Karle (Hg.), Kirchenreform. Interdisziplinäre
Perspektiven, Leipzig 2009, S. 81-96, hier: 81.
[43] Vgl.: Das rechte Wort zur
rechten Zeit. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in
Deutschland zum Öffentlichkeitsauftrag der Kirche,
Gütersloh 2008, Par. 2.25., S. 25.
[44] A.a.O. Par. 2.29.,
S. 30.
[45] Vályi Nagy, Gott oder
Geschichte?, S. 25.
[46] Niklas Luhmann, Funktion der
Religion, Frankfurt a.M. 4.Aufl. 1996, S. 288.
[47] Ebd.
[48] Näher
ausgeführt habe ich: Sándor Fazakas,
Links- und Rechtsbarthianer in der reformierten Kirche Ungarns, in: M.
Leiner/M. Trowitzsch (Hg.), Karl
Barths Theologie als europäisches Ereignis, Göttingen
2008, S. 228-235. und Sándor Fazakas, Karl Barth im
Ost-West-Konflikt, in: M. Beintker/Chr. Link/M. Trowitzsch (Hg.), Karl Barth im europäischen
Zeitgeschehen (1935–1950). Widerstand – Bewährung – Orientierung,
Zürich, 2010, S. 267–286. – Siehe dazu noch: Gerhard
Sauter/Zoltán Balog, Mitarbeiter
des Zeitgeistes? Die Auseinandersetzung über die
Zeitgemäßheit als Kriterium kirchlichen Handelns und die
Kriterien theologischer Entscheidungen in der Reformierten Kirche
Ungarns, 1967-1992, Frankfurt a.M. 1997.
[49] Jähnichen, Parallelität,
S. 95.
[50] Fischer, Sittlichkeit,
S. 381.
[51] Isolde Karle, Kirche im
Reformstress, Gütersloh 2010, S. 98. – Vgl.: Eberhard
Hauschild, Hybrid evangelische Großkirche vor einem Schub an
Organisationswerdung…, in: PTh
96 (2007) S. 56-66.
[52] Markus Höfner,
Geglaubte und empirische Kirche. Welche
Funktion haben dogmatische Beschreibungen der „wirklichen” Kirche?, in:
Karle, Kirchenreform, S.
37-56, hier: 54.
[53] Siehe: Krawietz, Gibt es
normative Kollektivsubjekte?, S. 539-540.
[54] Beintker, Eigendynamik,
S. 19.
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