theologie.geschichte - Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte

Hansjörg  Buss, „Entjudete“ Kirche. Die Lübecker Landeskirche zwischen christlichem Antijudaismus und völkischem Antisemitismus (1918-1950), Paderborn 2011, Schöningh Verlag, 559 S., 64,99 EUR, ISBN: 978-3-506-77014-1


Auf einer unglaublich breiten Quellenbasis – hier sprechen allein die 1918 Fußnoten für sich, hinzu kommen rund 60 Seiten zu benutzter Literatur und weiteren Quellen – setzt sich Hansjörg Buss mit der Geschichte der Lübecker Landeskirche in der ersten Hälfte des vergangenen 20. Jahrhunderts auseinander. Hansjörg Buss, geboren 1971, studierte Geschichte, Politische Wissenschaften und Jura. Heute arbeitet er als freiberuflicher Historiker. Ausführlich beschreibt er in dem 559 Seiten umfassenden Band das kirchliche Agieren während der Weimarer Republik, zu der die Kirche kein gutes Verhältnis fand, sowie die Hoffnungen und Desillusionierungen in der Zeit zwischen dem NS-Staat und dem mühsamen Neubeginn der Nachkriegszeit nach 1945.

Der Untersuchungszeitraum liegt zwischen 1918 und 1950 und orientiert sich an der Luther-Gemeinde der Hansestadt Lübeck und ihrer Kirche St. Marien. Der vorliegende Band – unterstützt durch die Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche, den evangelisch-lutherischen Kirchenkreis Lübeck-Lauenburg sowie die Stiftung Calwer Verlag – ist die überarbeitete und gekürzte Fassung von Buss‘ Dissertation „Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus im ‚Dritten Reich‘. Studien zur evangelisch-lutherischen Landeskirche und zum protestantischen Sozialmilieu der Hansestadt Lübeck 1918-1950“, angenommen im Jahr 2009 am FB Neuere Geschichte der TU Berlin (Geisteswissenschaftliche Fakultät).

Der Antisemitismus des NS-Kirchenregimes, das in seiner Radikalität die Kirche mit ihren jüdischen Wurzeln und Traditionen schließlich grundsätzlich in Frage stellte, nimmt einen bedeutenden Platz ein. Die Lübecker Kirche gehörte während der durch verschiedene Abspaltungen auf Reichsebene geschwächten „Deutschen Christen“ (DC) 1934/35  zu der radikalsten deutschchristlichen Spaltprodukt, der Nationalkirchlichen Bewegung Deutsche Christen (NDC) (S. 14), die eine konfessionsübergreifende Nationalkirche unter allen Deutschen anstrebte sowie die „Überwindung und Beseitigung alles jüdischen und fremdvölkischen Geistes in den kirchlichen Lehr- und Lebensformeln“.

 Der Autor zeigt, dass derartige Vorstellungen im protestantischen Sozialmilieu der Hansestadt nicht geteilt wurden, andererseits aber antijüdische Ressentiments breit verankert waren. Erste Ansätze einer grundlegenden Neubestimmung des Verhältnisses von Christentum und Judentum setzen erst Anfang der 1950er Jahre ein. Buss reiht im Forschungsbericht seinen wissenschaftlichen Beitrag in die jüngere Forschung ein, welche die Verknüpfung zwischen Kirchengeschichte, politischer Geschichte und wechselseitiger sozialer Entwicklung in den Blick nimmt (S. 19). Als regionalwissenschaftliche Ansätze nennt er Studien zu Berlin und dem Kirchenkreis Lübbecke (S.21). Als wesentlich wird auch die Historiografie zum „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“, gegründet 1939, welche schwerpunktmäßig in den 1990er Jahren erfolgt, betrachtet (S. 25). Die Situation der Lübecker Landeskirche erlaube mit ihren rund 136000 Einwohnern und 15 protestantischen Kirchengemeinden (Stand 1933) eine überschaubare Untersuchung.

Der Aufbau der von Buss vorgelegten Arbeit ist chronologisch: Der Weimarer Republik folgt die Schilderung der nationalsozialistischen Zeit von 1933 bis 1945 und ihrer Radikalisierungstendenzen in den 1930er Jahren. Buss beschreibt die Veränderungsprozesse anhand des Zugriffs auf soziales Leben, staatsrechtliche Entwicklungen, kirchliches Handeln wie auch publizistisches Agieren der Pastorenschaft in ihren Gemeinden und aus ihnen heraus.

Ein Prolog stellt jedoch zunächst die drei Begriffsfelder Kirche, Bürgertum und Nationalismus vor. Hier beschreibt Buss die Hansestadt Lübeck mit ihrem sozialen und kirchlichen Gefüge  als eine „Hochburg des Luthertums“ mit entsprechender protestantischer Prägung, geprägt von bürgerlich-konservativem Handeln (S.35ff.). Handel und Wohlstand in Lübeck und seinen Vorortgemeinden, hierzu zählt auch das Seebad Travemünde, waren bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein von Kaufmanns- und Schonerfahrerordnungen geprägt, die aus den Anfängen des 17. Jahrhunderts stammen  (S. 51 ff.). Buss belegt an Ausschnitten von Predigttexten und überlieferten Reden anlässlich der Kriegsheldenverehrung wilhelminischer Zeit wachsende nationalistische Tendenzen in der stolzen Hansestadt, gipfelnd in der nachhaltigen Etablierung der NSDAP ab 1925. Kirchlich bestand in Lübeck seit Jahrhunderten eine Vormachtstellung des Protestantismus unter Duldung des praktizierten Katholizismus, etwa auch des Lesens von Messen im Privaten. Juden wurden bis ins ausgehende 19. Jahrhundert als religiöse Gemeinschaft ausgegrenzt, eine Ansiedlung und merkantiles Treiben innerhalb der Stadtmauern verhindert (S. 71). Maßgeblich erscheint hier der Hinweis auf die Fassade des Lübecker Rathauses und eine plastische Darstellung eines „habgierigen und nur auf Eigennutz bedachten ’Juden‘“(S. 73).

Prägend ist nach Auffassung des Rezensenten für das Werk unter anderem ein vergleichsweise kleiner Teil der Arbeit – etwa 20 Seiten: der Exkurs über Pastor Karl Friedrich Stellbrink (1894-1943)  (S. 329-343; 422-427). An seiner Biografie lassen sich die unterschiedlichen Facetten der Etablierung deutsch-nationaler Dogmatik verfolgen und veranschaulichen, begleitet auf der anderen Seite durch eine Reihe von persönlichen Erfahrungen und Motiven, die schließlich zum Bruch mit dem zunächst hoch gelobten und oft und exponiert unterstützten NS-Regime führen. Stellbrink wurde im Juni 1943 hingerichtet, zuvor erging ein Urteil des Volksgerichtshofs wegen „Zersetzung der Wehrkraft in Verbindung mit landesverräterischer Feindbegünstigung und Rundfunkverbrechen“. Als junger Mann war Stellbrink mit einer bleibenden Kriegsverletzung an der linken Hand 1917 vom Feld des Ersten Weltkriegs heimgekehrt, eine nachhaltig kritische Haltung zum Krieg an sich resultierte hieraus. Nationalistisches und politisch-antipluralistisches Interesse prägten sich in der Folgezeit aus, Stellbrink gehörte in der Weimarer Republik mehreren völkischen Organisationen an, wie dem „Alldeutschen Verband“ oder dem „Verein für das Deutschtum im Ausland“.

Er trat bereits 1913 in den Kirchendienst ein und ließ sich für den Dienst in Übersee ausbilden. Stationen waren hier Soest (Landeskirchliches Diasporaseminar), Berlin oder Barkhausen. Nach der Ordination für den Überseedienst 1921 in Witten ging Stellbrink nach  Brasilien (1921-1929/30). Eine zweijährige Festanstellung als Pastor in Thüringen folgte, bevor Stellbrink schließlich 1934 die Luther-Gemeinde in Lübeck übernahm. Er trat nach 1932  wiederholt öffentlich auf, 1933 in die NSDAP ein, warb auf Partei- und Organisationsveranstaltungen etwa der „Deutschen Christen“ für das NS-Regime und die gemeinschaftlichen Tendenzen der sich am Regime ausrichtenden Kirche. Auch in Predigten und Gemeindeblättern in Thüringen wie später in Lübeck warb Stellbrink für das Deutschtum (bes. S. 332f.).

Dennoch kam es später wiederholt zu Konflikten mit der staatspolitisch-nationalsozialistischen Linie  – nicht zuletzt bezüglich des Umgangs mit behinderten Menschen im Rahmen der Euthanasieprogramme, von denen Stellbrink spätestens 1941 Kenntnis hatte. Eine Schwester lebte von 1929 bis 1941 in einer Heilanstalt im westfälischen Lengerich. Anfang der 1940er Jahre begann Stellbrink einen regelmäßigen Austausch mit dem katholischen Kaplan der Herz-Jesu-Gemeinde in Lübeck, Johannes Prassek. Von ihm erhielt er auch die Predigt des Münsteraner Bischofs von Galen, die er an Dritte weitergab. Dieses Faktum war entscheidend, dass er schließlich der Gestapo auffiel  und sein Schicksal besiegelt war.

 In der Nachkriegszeit gestaltete sich der Neubeginn protestantischen und jüdischen Lebens schleppend. Die britische Besatzungsobrigkeit stufte Juden in drei Kategorien ein – entsprechend einer Nationalitätszugehörigkeit als „displaced persons“, als Juden mit ehemals deutscher Staatsangehörigkeit sowie als Juden mit Migrationsmotiven, vornehmlich aus Osteuropa vertrieben. Der Wiederaufbau der jüdischen Gemeinde und ihres Friedhofs in Moisling vor der Stadt zog sich bis in die 1960er Jahre hin.  Man fusionierte aus Überalterungsgründen und geringer Mitgliederzahl zunächst mit den Kieler Juden, 1986 dann mit der jüdischen Gemeinde zu Hamburg; eine eigenständige jüdische Gemeinde in Lübeck konstituierte sich schließlich wieder 2001, seit 2005 gehört diese dem Landesverband Jüdischer Gemeinschaften in Schleswig-Holstein an (S. 364).   

In der evangelisch-lutherischen Landeskirche gingen die Prozesse der Selbstreinigung und Neuordnung respektive –fassung der Kirchenordnung mit dem Vorläufigen Kirchentag 1946 und der neuen Kirchenverfassung 1948 voran. Der Diskurs über Rehabilitierung und Wiedereinsetzung von Pastoren, die während der NS-Zeit ihres Amtes enthoben worden waren, wurde in so genannten Spruchkammerverfahren geführt (S. 380 ff.). Die Neuausrichtung, die sich nicht zuletzt mit der  bundesrepublikanischen Verfassung der Trennung von Staat und Kirche sowie der Religionsfreiheit auseinanderzusetzen hatte, verlief langsam, aber stetig. Hatte man zu jüdischen Friedhofsschändungen im Jahr 1947 noch geschwiegen, so verurteilte die Kirchenleitung einen ähnlichen Vorfall 1966 öffentlich und bot mit der evangelischen Jugend aus der nahen Gemeinde tatkräftige Mithilfe an, die Gräber wiederherzustellen (S.467f.).

Bis in die Gegenwart wird in der Nordelbischen Kirche die Diskussion über das Verhältnis von Christen und Juden geführt, Buss weist hier auf einen „vorläufigen Abschluss“ durch eine Synodenerklärung vom September 2001 hin (S.468).  Er hält bilanzierend fest, dass die Selbstreinigung der Landeskirche eher als „eine notwendige Reaktion auf die Einbrüche der NS-Zeit anerkannt und nicht als eine von den alliierten Besatzungsmächten oktroyierte Zwangsmaßnahme verstanden“ (S. 470) worden sei.

Als Schluss soll diese Anmerkung am Rande stehen: Der 1943 hingerichtete Pastor Stellbrink wurde von der Landeskirche erst im Jahr 1993 anlässlich seines 50. Todestages rehabilitiert (S. 422).


Zum Rezensenten:
Hans-Christian Roestel, M.A., Jahrgang 1980, Journalist in Saarbrücken.


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