theologie.geschichte - Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte

Fabian Burgard

Ende der Ideologien?

Vortrag am 07.01.2013 im Haus der Stiftung Demokratie Saarland


Auf Initiative der Stiftung Demokratie Saarland hielt Dr. Torben Lütjen, Politikwissenschaftler am Institut für Deutsches und Europäisches Parteienrecht und Parteienforschung an der Universität Düsseldorf, einen Vortrag, bei dem er der Frage nachging, ob man heutzutage von einem Ende der Ideologien sprechen kann und inwieweit vorhandene – bzw. nicht mehr vorhandene – Ideologien die Gegenwart prägen.

Zum Einstieg verglich Lütjen Ideologien bildlich mit „schlechtem Atem“: Ideologie ist das, was man selbst nicht hat, aber die anderen. Wie weit er selbst von einer negativen Konnotation des Wortes entfernt ist, wurde im Laufe des Vortrages deutlich. Doch zuvor lenkte er den Blick auf politische Realitäten: Die Nebeneinanderstellung der Aussage von Bundeskanzlerin Angela Merkel, „mal bin ich liberal, mal bin ich konservativ, mal bin ich christlich-sozial“ und der Beschreibung der fiktiven und satirischen Horst-Schlämmer-Partei (HSP), die konservativ, links und liberal zugleich ist, sollte zeigen, wie sehr die Realität bereits der satirischen Überspitzung entspricht.

Im Hinblick auf die Rede vom Ende der Ideologien verwies Lütjen auf verschiedene Interpretationen bzw. Konnotationen. So verbänden einige dieses Ende mit der Hoffnung auf eine bessere und harmonischere Welt. Des Weiteren gebe es kritische Gegenstimmen, die ein solches Ende für unmöglich hielten: am Ende stehe lediglich eine Ideologie, die alle anderen verschluckt (Neoliberalismus). Der Anspruch, unideologisch zu sein, werde darüber hinaus als Waffe in der Politik genutzt, da dieser Terminus emotional aufgeladen sei. Als Beispiel diente Lütjen hierzu der Marxismus, der Andersdenkende als Ideologen abwertete und sich selbst den Anspruch der Wissenschaftlichkeit attestierte. Seinen Ausdruck findet dies u.a. in der Selbstbezeichnung als „wissenschaftlicher Sozialismus“ und in der Kritik der „Deutschen Ideologie“, die eine Absage an die ideologische „Bewusstseinsform“ darstellte.[1]

Diese Beispiele zeigen, wie sich der gewählte interpretative Zugang zu dem Begriff Ideologie auf die Antwort nach einem Ende der Ideologien auswirkt. Lütjen stellt fest, dass man den Begriff so definieren kann, dass die passende Antwort herauskommt. Er wies auf enge Ideologieverständnisse hin, nach denen die Ideologie u.a. extrem ausgeprägt sein muss, und auf zu weit gefasste Definitionen, die dem Begriff ebenfalls nicht gerecht werden.

Lütjen wandte sich an dieser Stelle in einem kurzen Exkurs der heute noch aktuellen Theorie zu, nach der die Sachpolitik, die Sachlichkeit, der Sachverstand und die Unparteilichkeit den Ideologien entgegengestellt werden. Ausdruck finde diese Vorstellung in von Politikern einberufenen Expertenkommissionen sowie im Erscheinungsbild zweier, noch relativ junger Parteien: Den Freien Wählern und der Piraten-Partei. Die Erstgenannten stellten sich selbst gerne als Bürger aus der Mitte dar, die sachbezogen seien und ohne Ideologien auskämen. Die Piraten haben kein wirkliches Parteiprogramm, sondern vertrauen auf die Intelligenz der Masse.

Wenn man die Politiker durch Wissenschaftler und Fachleute ersetzen würde, stünde nach Lütjen am Ende dieses Prozesses eine technokratische Herrschaft. Solche Denkansätze, die hierzulande bereits in den 60iger Jahren aufkamen, sieht Lütjen als gescheitert an. Die Wissenschaft spreche in den seltensten Fällen mit einer Stimme und gebe der Politik ebenso wenig einstimmige, klare Anweisungen. Für jede Expertenmeinung finde man auch eine gegensätzliche Expertenmeinung. Und selbst, wenn die Wissenschaft mit einer Stimme spräche, sieht Lütjen darin noch lange keine Garantie des Gelingens oder der harmonischen Umsetzung. Denn die Ziele seien sich nur ähnlich, solange sich das Problem noch nicht in seinem vollen Umfang offenbare. Dies lässt sich am Beispiel der „sozialen Gerechtigkeit“ zeigen, denn mehrere Parteien werben mit dieser Forderung. Wenn es jedoch an die Konkretisierung des dahinter stehenden Gedankens geht wird deutlich, wie sehr die Meinungen auseinanderdriften.

Lütjen plädiert angesichts dieser Problemlage dafür, den abwertenden Charakter des Wortes Ideologie zu vergessen und ihn funktionaler zu betrachten. So seien politische Entscheidungen ohne Ideologien nicht möglich, weil Menschen Richtlinien bräuchten, um bei Entscheidungen abzuwägen und deren Komplexität verringern zu können. 

Ideologische Bewegungen haben nach Lütjen vor allem drei Elemente gemeinsam:

1. Ideologien enthalten keine Beobachtungen, sondern eine genaue Instruktion, die darauf abzielt, die Welt zu verändern. Diese muss so formuliert sein, dass sie zur Massenkommunikation taugt.
2. Die Handlungsanleitung muss nun so in eine Erzählung eingebettet werden, dass die besondere historische Mission der Anhänger aufgezeigt wird. Die Erzählstruktur hierzu hat man bei den großen monotheistischen Religionen entliehen: Fast immer traf man auf die perfekte Gesellschaft im Urzustand, dann kam der Sündenfall und am Ende schließlich das Versprechen für eine bessere Gesellschaft in der Zukunft. Hierbei nimmt die hoffnungsvolle Zukunftsverheißung einen besonderen Stellenwert ein: denn derjenige, der ein Warum kennt, erträgt auch das Wie.
3.  Das dritte Element besteht aus der Verwurzelung der jeweiligen Ideologie in klar identifizierbaren sozialen Lebenswelten, wodurch sich Anleitungen zur richtigen Lebensweise ergeben, die über die Politik weit hinausgehen (z.B. Freizeitgestaltung).


Die Ursprungsform der Ideologie lässt es also zu, Menschen anderer Kulturen direkt zu erkennen; so wie man noch heute in den USA die Anhänger der Republikaner und Demokraten anhand habitueller Unterschiede erkennen kann. In der europäischen Gesellschaft seien diese Unterschiede jedoch verschwunden. Es gibt immer noch unterschiedliche Parteien, die Lütjen allerdings als „programmatisch erschlafft“ bezeichnet. Mit nachlassender Polarisierung erreichten die Parteien mehr Wechselwähler und zeigten sich deutlich beweglicher innerhalb der Parteienlandschaft. Nach Lütjen erscheinen so neue Akteure auf der Bildfläche, die er als „Wutbürger“ bezeichnet. Wutbürger ergriffen in der Regel für ein bestimmtes Anliegen die Initiative. Im Hinblick auf die Proteste in Athen und Spanien vor dem Hintergrund der Euro-Schuldenkrise attestiert er den Akteuren die Unfähigkeit, eine gemeinsame Ideologie zu entwerfen.

Der Glaube, dass die Welt besser werden kann, erodiere, denn es gebe zu viele Projekte, denen man beim Scheitern zusehen könne. Darüber hinaus stellt Lütjen fest, dass sich das Verhältnis zur Zeit geändert hat. Bei Liberalismus und Sozialismus sei es klar gewesen, dass sie sich in ihrem vollen Umfang erst in der Zukunft verwirklicht hätten. In eine so schnelllebige Zeit wie die unsere passe keine Utopie, denn die Verhältnisse der Zukunft seien nicht mehr kalkulierbar.

Die Rede vom Ende der Ideologien ist nach Lütjen eine durchaus treffende Beschreibung des gegenwärtigen Zustandes der Politik in den europäischen Demokratien. Allerdings dürfe man das Ende der Ideologien nicht mit dem Ende der Politik verwechseln.

Im Rahmen der anschließenden Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass mit dem von Lütjen herausgestellten Ideologieverlust als Parteienkrise eine Krise des Staates einhergehen müsse, da der demokratische Staat auf eben diesen Parteien aufbaue. Lütjen stimmte der Umschreibung als Staats- oder Systemkrise zu, deren Lösung er als offen charakterisierte; er betonte an dieser Stelle aber, dass man in diesem Zusammenhang keine apokalyptischen Vorstellungen entwerfen dürfe.

Mit dieser Frage wurde allerdings auch explizit auf die Bewertung und Einordnung der Rede vom Ende der Ideologien abgezielt, die während des Vortrages nicht deutlich wurde. Die folgende Passage aus einem Artikel der FAZ vom 2. Februar 2012, den Lütjen unter dem gleichen Titel wie diesen Vortrag verfasste, hilft, das Ausmaß des Ideologieverlustes historisch einzuordnen.

„Eines darf bei alledem allerdings nicht vergessen werden: Im Vergleich mit den Katastrophen des ideologischen Zeitalters, als der Wettstreit zwischen absoluten, apodiktischen Weltanschauungen die politischen Lager nach dem Freund/Feind-Schema einteilte, mag die Flüchtigkeit des Politischen im postideologischen Zeitalter noch immer harmlos erscheinen. Doch seinen Charakter als Heilsverheißung hat das Ende der Ideologien ebenfalls längst verloren. An deren Ende steht nämlich nicht etwa mehr, sondern weniger Wahrheit.“[2]


[1] Fleischer, Helmut: [Art.] Marx/Marxismus II, in: Theologische Realenzyklopädie, hrsg. v. Horst Robert Balz u.a., Bd. 22, Berlin, New York 1992, S. 229-245, hier: S. 241.
[2] Https://www.uni-duesseldorf.de/redaktion/fileadmin/redaktion/Oeffentliche_Medien/PRuF/Lebenslaeufe/Luetjen-Dateien/Luetjen_Ende_der_Ideologien.pdf (05.02.2013).


Zum Autor:
Fabian Burgard, geb. 1987, studiert Geschichte, Mathematik und Katholische Theologie an der Universität des Saarlandes. Er verfasste diese Miszelle im Rahmen eines Stipendiums der Studienstiftung Saar.


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