Julia Albert, Andrea Behres, Katharina Peetz und Rik Sauer
Theologie und Vergangenheitsbewältigung V. Genderspezifische Aspekte der Aufarbeitung der Vergangenheit
Bericht von der internationalen Fachtagung im Robert-Schuman-Haus, Trier, vom 11.- 13. Januar 2013
Vom 11. bis 13. Januar 2013 fand im Robert-Schuman-Haus in Trier die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte internationale Fachtagung zum Thema Genderspezifische Aspekte der Aufarbeitung der Vergangenheit (Theologie und Vergangenheitsbewältigung V) statt. Veranstalter waren Prof. Dr. Lucia Scherzberg und PD Dr. August H. Leugers-Scherzberg von der Fachrichtung Katholische Theologie der Universität des Saarlandes. Die nunmehr fünfte Tagung zum Thema Theologie und Vergangenheitsbewältigung befasste sich in einem ersten Abschnitt mit Genderkonzepten und Geschlechtersymboliken. Als ein Verbindungsglied zwischen den Vorträgen kann das Konzept der hegemonialen Männlichkeit gelten. In einem zweiten Tagungsschwerpunkt wurden genderspezifische Aspekte der Opfer-Täterproblematik und des Widerstandes im Spiegel von Erinnerung und Aufarbeitung beleuchtet. Dabei wurde immer wieder deutlich, dass in Extremsituationen (Ghetto, KZ, Flucht und Vertreibung) geltende Rollenkonzepte in Frage gestellt und brüchig werden können.
In seinem Vortrag Martin Heidegger und Ernst Jünger: der „gefährliche“ Augenblick arbeitete Richard Wolin (New York) die Beziehungen zwischen diesen beiden Denkern heraus. Mit seinen Frühwerken In Stahlgewittern (1920) und Der Kampf als inneres Erlebnis (1922) habe sich Jünger als das wichtigste literarische Sprachrohr der Kriegsgeneration etabliert. Das Schlachtfeld, so Jünger, sei der Ort, an dem sich die Männlichkeit zu bewähren habe. Wolin konstatiert, dass Heidegger neben diese frühren Schriften vor allem von Jüngers Werk Der Arbeiter (1932) beeindruckt war, was sich beispielsweise an seiner Sicht der zeitgenössischen Politik zeige. So sei Heidegger vor allem von Jüngers Ideal einer Gesellschaft von Arbeiter-Soldaten, d.h. einer Gesellschaft der totalen Mobilmachung beeinflusst gewesen. Wie weit der Einfluss Jüngers auf Heidegger reichte, zeigt sich nach Wolin auch daran, dass dieser 1930 drei Seminare zu den Schriften Jüngers abhielt. In Anlehnung an Jünger habe Heidegger zudem behauptet, dass das nationalsozialistische Konzept der Volksgemeinschaft einen geeigneten Ansatz biete, mit den Herausforderungen der modernen Technologie umzugehen.
Yvonne Al-Taie (Kiel) beschrieb in ihrem Vortrag Marinettis futuristische
Männlichkeitsvisionen im Kontext zeitgenössischer
Kulturtheorien. Marinetti, erklärter Gegner anderer
geistiger Strömungen seiner Zeit (beispielsweise Symbolisten und
Anarchisten), forderte in seinem Futuristischen
Manifest (1909) einen radikalen und gewaltsamen Wandel der
italienischen Gesellschaft. Aus dem Blickwinkel der Genderforschung ist
Marinettis Futurismus dualistisch: Stärke, Gewalt, Jugendlichkeit
und Fortschritt werden mit Männlichkeit assoziiert; Schwäche,
Tradition, Feminismus, Intellekt und Kirche mit Weiblichkeit. Al-Taie
arbeitete heraus, dass Marinetti alles für ihn „Männliche“,
glorifiziert, während er alles Weibliche ablehnt und
bekämpft. Seine Vision des heroisch kämpfenden Mannes gipfelt
in der utopischen Vorstellung eines „mechanischem Menschen“, der ohne
weibliches Zutun geschaffen wird. Al-Taie verwies aber auch auf
Widersprüchlichkeiten in Marinettis futuristischem Konzept: So
lehnt Marinetti beispielsweise Kirche und Klerus als „weiblich“ strikt
ab, bedient sich aber zur Beschreibung des technischen Fortschritts
einer sakralisierten Sprache.
Unter dem Titel ‚Jesus der Mann‘ im
Prozess der Transformation und Differenzierung von
Männlichkeitsidealen zwischen 1863 und 1945 stellte Martin
Leutzsch (Paderborn) unterschiedliche Interpretationen der
Männlichkeit Jesu vor. In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden
die bis dato als besonders männlich geltenden Eigenschaften
Sanftmut, Milde und Ruhe durch eine neue Konzeption abgelöst, die
Männlichkeit mit Aggression und Gewalt verband. Konnte das
Auftreten Jesu durchaus mit dem alten Idealtyp von Männlichkeit in
Einklang gebracht werden, so war das nun wesentlich schwieriger: Sein
Auftreten wurde als zu weich und zu „weiblich“ abqualifiziert.
Interpretationen der Männlichkeit Jesu dieser Phase reichen von
antisemitischen Vorstellungen (Jesus als jüdischer Mann) über
einen „homosexuellen Jesus“ bis hin zu „Jesus dem Charismatiker“. Mit
dem neuen Männlichkeitsideal konforme Jesusbilder des beginnenden
20. Jahrhunderts zeichnen Jesus demgegenüber als „arischen“ oder
sogar als „deutschen“ Kämpfer gegen das Judentum. Auch in der
Weimarer Republik und im Dritten Reich setze sich diese Tendenz fort:
Das Ideal des Kämpfers, der seiner Sache bis in den Tod treu
bleibt, sei zum Männlichkeitsideal für alle geworden. Es
begegnet nach Leutzsch dementsprechend in den Jesusbildern
evangelischer und katholischer Theologen gleichermaßen.
In seinem Vortrag Genderkonzepte in
der reformpädagogischen Bewegung untersuchte Uwe Sandfuchs
(Dresden-Braunschweig) reformpädagogische Entwürfe im 20.
Jahrhundert und deren Ideale auf dem Hintergrund des sexuellen
Missbrauchs an reformpädagogischen Schulen. Die
Reformpädagogik zeichne sich dadurch aus, dass sie sich im
Gegensatz zur ‚alten’ Pädagogik (einer ‚Pädagogik des
Misstrauens’), die Bejahung des Kindes, den Respekt vor und die Liebe
zu dem zu Erziehenden zur Maxime ihres Handelns mache. Die
Odenwaldschule, die mit diesem reformpädagogischen Programm warb
und dadurch nationales und internationales Renommee gewann, habe das
Konzept der ‚Pädagogik der Liebe’ pervertiert. Diese Schule sei im
Gegensatz zu dem nach außen hin propagierten Anschein ein Ort
gewesen, an dem Drogenkonsum, sexueller Missbrauch, sowie physische und
psychische Gewalt nicht nur von der Heimleitung geduldet, sondern auch
selbst praktiziert worden sei. Sandfuchs zeigte auf, dass das Vertrauen
der Lernenden, das sich die Reformpädagogik als maßgeblichen
Faktor für ihre Erziehung auf die Fahnen geschrieben hatte, in
solchen Missbrauchsfällen gravierend zerstört worden sei. Zu
erörtern seien infolgedessen die langfristigen Folgen solch
verratenen Vertrauens.
Katharina Peetz (Saarbrücken) setzte sich in ihrem Vortrag Emanzipationsbewegungen von Frauen und
Männern im Kaiserreich und ihr Verhältnis zum Antisemitismus mit
der These Shulamit Volkovs auseinander, wonach Antisemitismus im
Kaiserreich vor allem ein gesellschaftlicher Code für die
Ablehnung von modernen Emanzipationsbewegungen war. Sie konnte
aufzeigen, dass Volkovs Gegenüberstellung zweier starrer
konzeptioneller Lager brüchig wird, wenn man auf einzelne Akteure
und Akteurinnen der Frauenbewegung und der Homosexuellenbewegung
blickt. Das Spektrum reicht dabei insgesamt von einer engen Verbindung
von emanzipatorischen Anliegen, Feminismus und Gegnerschaft zum
Antisemitismus bis zu einer Verknüpfung von emanzipatorischen
Anliegen mit Antifeminismus oder Antisemitismus. Während z.B.
Magnus Hirschfeld als prominenter Vertreter der Homosexuellenbewegung
den Antisemitismus ablehnte, argumentierte deren maskulinistischer
Flügel im Kontext eines Deutungskampfes um den Wesenskern von
Männlichkeit antifeministisch und antisemitisch. So ging es den
„Maskulinisten“ zunächst um die Aufrechterhaltung der polaren und
hierarchischen Aufspaltung von Menschen in zwei ‚wesenhaft’
konträre Spezies: Männer und Frauen. Später wurde diese
Aufspaltung zunehmend von der Trennung zwischen Juden und Deutschen
überlagert.
In ihrem Vortrag Woman in the
Holocaust. Revisiting conceptual Frameworks stellte Dalia Ofer
(Jerusalem) eine Modifizierung der bislang gültigen
Erklärungen des Verhaltens von jüdischen Frauen im Holocaust
vor. Das erste Erklärungskonzept gehe von der Kontinuität des
Verhaltens von Frauen aus, wonach „pre-war gender skills“ erhalten
blieben. Frauen seien also auch unter Extrembedingungen (Ghetto, KZ)
hauptsächlich Mütter, Ehefrauen oder Hausfrauen gewesen. Das
zweite Konzept behaupte demgegenüber eine Diskontinuität des
weiblichen Verhaltens, die aus dem „Wegfallen“ der Männer
resultiere. Dadurch hätten Frauen neue Verantwortung, z.B. als
Ernährerin der Familie, übernehmen müssen. Die
Extrembedingungen hätten auch dazu geführt, dass einige
Frauen ihre Kinder in Heime gaben oder sie zurückließen.
Ofer konnte am Beispiel jüdischer Frauen im Warschauer Ghetto
aufzeigen, dass die bestehenden Konzepte nicht ausreichen, um das
Verhalten von Frauen in Extremsituationen zu erklären. Vielmehr
zeige die Analyse, dass jüdische Frauen im Verlauf der
Nazi-Herrschaft eine Entwicklung durchliefen. Während viele Frauen
am Anfang noch in einem traditionellen Rollenverhalten verhaftet waren,
übernahmen einige im Zuge der existenzbedrohenden Maßnahmen
und der Gettoisierung nicht-traditionelle Rollen. Mit der Zeit
erreichten diese Frauen einen sog. „tipping point“, an dem sie ihr
verändertes Verhalten und ihre veränderte Identität
erkannten und reflektierten.
Katharina von Kellenbach (St. Mary´s City MD) zeigte in ihrem
Vortrag „La Bête Humaine” Klara Pförtsch: Women,
Violence, and Memory anhand des Schicksals von Klara
Pförtsch die Problematik von Täter-Opfer- und
Genderkategorien im Blick auf die Auseinandersetzung mit der
Vergangenheit auf. Klara Pförtsch war als kommunistische
Widerständlerin von den Nationalsozialisten inhaftiert worden und
misshandelte als Block- und Lagerälterste auf Geheiß
nationalsozialistischer Wachkräfte Gefangene in den Lagern
Ravensbrück, Auschwitz, Geisslingen und Dachau. Ihrer Person werde
die Beschreibung ‚Täter’ aufgrund dessen nicht gerecht, so von
Kellenbach, sie sei gleichzeitig auch Opfer des
NS-Vernichtungsapparates gewesen. Das französische
Militärgericht habe nach dem Krieg nicht mit Pförtschs Status
umzugehen gewusst. Sowohl ihre Doppelstellung als Opfer und als
Täter als auch die Tatsache, dass sie für eine Frau
ungewöhnlich große Grausamkeiten gegenüber
Häftlingen verübt hatte, veranlassten das Gericht,
Pförtsch mit der für ihre Situation ungewöhnlich hohen
Strafe, der Todesstrafe zu belegen. Tatsächlich wurde sie jedoch
nicht getötet. Der Grund lag in der ebenso durch Stereotype
gestützten Begründung, Frauen würden ungern exekutiert.
Pförtsch war bis 1957, insgesamt 21 Jahre inhaftiert, und starb
als Sozialhilfeempfängerin demoralisiert, alleine und vergessen.
An Pförtsch werde deutlich, wie schwierig es ist, solchen
Schicksalen mit den Kategorien Täter, Opfer, und Frau gerecht zu
werden und diese für die Bewertung von Schuld und Vergehen
adäquat heranzuziehen.
In seinem Vortrag Die mutigen Frauen
des Kirchenkampfes und warum die Kirche sie nach 1945 so gründlich
vergessen hat erinnerte Manfred Gailus (Berlin) an Elisabeth
Schmitz, Elisabeth Abegg und Elisabeth Schiemann aus dem
liberalprotestantischen Milieu Berlins, die Widerstand gegen den
Nationalsozialismus leisteten. Die drei Frauen hatten nach Gailus
ähnliche Biographien: Sie bleiben unverheiratet, waren in
widerständige Netzwerke eingebunden und setzten sich für ihre
jüdischen Freundinnen ein. Innerhalb der Bekennenden Kirche (BK)
sei die Lage für solch engagierte Frauen allerdings problematisch
gewesen. Als „Opposition in der Opposition“ hätten sich die
beteiligten Frauen sowohl gegen die anti-egalitären Frauenbilder
innerhalb der BK, die sich z.B. in der Schrift Wir rufen Deutschland zu
Gott von Martin Niemöller und Otto Dibelius zeigten, als auch
gegen den Nationalsozialismus gewendet. So betonte Schiemann
beispielsweise, dass im nationalsozialistischen Staat die Pflicht jedes
Christen zum Obrigkeitsgehorsam durch Unrechtstaten des Staates obsolet
geworden sei. Gailus kritisierte, dass die drei Widerständlerinnen
später „vergessen“ wurden, während die Rolle eines Otto
Diebelius oder Martin Niemöllers im sog. Kirchenkampf überaus
positiv beurteilt worden sei.
Olaf Blaschke (Trier) zeigte in seinem Vortrag Konfessionsgeschlechtliche Zuschreibungen
im Nationalsozialismus, dass der Nationalsozialismus die
Kategorien Konfession und Geschlecht miteinander verband und
unterschiedliche religiöse Gruppen mit männlichen bzw.
weiblichen Eigenschaften belegte. Die NS-Weltanschauung betrachtete
sich selbst als männlich. Das Christentum wurde vom
Nationalsozialismus als feminin eingestuft und damit eindeutig negativ
konnotiert. Das Geschlecht wirkte somit als konstitutiver Faktor dieser
Fremd- und Selbstzuschreibungen und bildete eine „zentrale,
natürliche Zuschreibungskategorie“. Blaschke skizzierte dies am
Fall des Christentums. Der Protestantismus galt als männlich, der
Katholizismus als weiblich. Innerhalb des Protestantismus schrieben
sich die Deutschen Christen
Männlichkeit zu, während sie der Bekennende Kirche das Attribut der
Weiblichkeit zusprachen. Im Katholizismus galten die Altkatholiken als
männlich, die Romkatholiken als weiblich. Blaschke wies zudem
darauf hin, dass das Weibliche stets eine Fremdzuschreibung ist.
Soziale Kategorien wie Religion, Klasse, Nation und Gender stellen
somit keine isolierten Einheiten dar, sondern interagierende
Phänomene, die sich gegenseitig beeinflussen. Trotz dieses
Befundes würden Geschlecht und Konfession in der Regel nicht
genannt, wenn es um die ideengeschichtlichen Traditionen gehe, die zum
Nationalsozialismus geführt haben.
Wie Frauen- und Männerbilder in
der Kunst des Nationalsozialismus zu bewerten sind, stellte
Martin Papenbrock (Karlsruhe) vor. Porträtdarstellungen von
Männern und Frauen in der Kunst des Nationalsozialismus zeigen
Bilder einer vormodernen, nicht industrialisierten Gesellschaft, so die
These Papenbrocks. Papenbrock belegte dies anhand zahlreicher Bilder
aus der NS-Zeit, wie etwa dem Bild eines Zehnkämpfers, der
Skulpturen eines Fackelträgers und eines Schwertmannes, dem Bild
einer Mutter mit Kind oder der Darstellung bäuerlicher Familien.
Die Bilder sollen nach Papenbrock das Antlitz des neuen deutschen
Staates vermitteln. Sowohl der imperiale Machtanspruch sowie die
sportpolitischen Ambitionen sollten in Anlehnung an die Antike
dargestellt werden. Typisch für die NS-Zeit seien militärisch
akzentuierte Zweiergruppen, sportliche Figuren und der Typus der
wehrhaften Frau. Ziel sei die Darstellung starker und resistenter
Naturen, die die Reproduktion der Rasse sichern können. Für
alle Bilder gelte nicht Idealisierung, sondern Inspizierung. Der
unbeobachtete Augenblick solle reproduziert werden. Als weiteres Ideal
gelte das bäuerliche Leben. Die Bilder bäuerlicher Familien
seien frei von Konflikten und Emotionen, spiegeln hierarchische
Strukturen wider und stellten die Familie als Solidargemeinschaft dar.
Diese Bilder verweisen nach Papenbrock auf eine natürliche soziale
Ordnung. Der Mann werde als Arbeiter, Bauer oder Soldat dargestellt,
die Frau als Krankenschwester, Bäuerin und Mutter.
In seinem Vortrag Die Stunde der
Frauen? Graf von Krockow revisited referierte Matthias Beer
(Tübingen) über das 1998 von Christian Graf von Krockow
veröffentlichte Buch „Die Stunde der Frauen. Nach einer
Erzählung von Libussa Fritz-Krockow“, welches laut Beer einen
neuen Blick auf das weite Thema Flucht und Vertreibung eröffnete.
Das Buch sei Vorreiter auf dem Gebiet der Untersuchung
genderspezifischer Aspekte in Bezug auf Flucht und Vertreibung am Ende
des Zweiten Weltkrieges gewesen. Von Krockow, studierter Philosoph und
Staatsrechtler, erzählt die Geschichte seiner Schwester in den
Jahren 1944 bis 1947 anhand niedergeschriebener Erlebnisse sowie
mündlicher Berichten der Schwester, deren Einzelschicksal
Ursachen, Wirkungen und mögliche Folgen einer Zwangsmigration
aufzeigen soll. In der Erzählung erscheint der Vater von Libussa
Fritz-Krockow als Vertreter der männlich-preußischen
Generation, der in der Not mit der gesamten Familie Selbstmord begehen
will. Seine Tochter überredet ihn zum Bleiben, organisiert die
Flucht und befreit den Vater aus seiner Gefangenschaft in einem
traditionalen Normsystem. Das Buch zeigt nach Beer nicht nur das sich
in dieser Ausnahmesituation verändernde innerfamiliäre
Rollenverständnis, wodurch Flucht und Vertreibung zur Stunde der
Frauen werden, sondern spreche auch das Problem der Vergewaltigung als
konstitutives Element der Zwangsmigration an, welches in dieser Zeit
eine Massenerscheinung sei und als biologische Kriegsführung diene.
Petra Preunkert-Skálova (Rottenburg-Tübingen) beleuchtete
in ihrem Vortrag die Priesterweihe von Frauen in der tschechischen
Untergrundkirche. Die Gründe für die Frauenordination
hätten in dem Umstand gelegen, dass in der Untergrundkirche den
Sakramenten große Bedeutung zugemessen wurden und die Frauen
einen bedeutenden Beitrag zum pastoralen Dienst leisteten. Für
Felix M. Davidek, Bischof der tschechischen Untergrundkirche, der
mehreren Frauen die Weihe spendete, habe außerdem die
theologische Vision einer reformierten, tschechischen, katholischen
Kirche eine maßgebliche Rolle gespielt: er habe geglaubt, durch
die Weihe von Frauen einen mehrerer Schritte zu vollziehen, durch den
die Parusie Christi beschleunigt werden könne. In einer Synode des
Netzwerkes um Davidek im Jahr 1970, in der Kleriker, Laien und Frauen
gleichberechtigt teilgenommen hatten, habe sich Davideks Vision jedoch
nicht durchsetzen können. Die Weihe musste im Geheimen
stattfinden, seine Sakramentenspendung blieb singulär. Die
Konsequenzen der Ordination wurden 2001 in einem Buch einer von Davidek
geweihten Frau beschrieben: Sie habe selbst im Untergrund verdeckt
handeln müssen und ihr Amt aufgrund dessen kaum ausüben
können.
Karol Sauerland (Warschau) verdeutlichte in seinem Vortrag Die Rolle der Frauen in der Solidarność-Bewegung und der Sieg der Männer nach der sog. Wende, in welchem Maße Frauen in der Solidarność-Bewegung aktiv waren und warum weiblicher Widerstand nach der sog. Wende in Polen praktisch vergessen wurde. Sauerland zeigte, dass Frauen in Polen schon seit dem 19. Jahrhundert in Widerstandsbewegungen eine große Rolle zugefallen sei. Auch im 20 Jahrhundert seien Frauen am Widerstand gegen die Deutschen und später gegen die Sowjetmacht beteiligt gewesen. Genauso war auch die Solidarnoœæ-Bewegung maßgeblich durch Frauen geprägt. Drei Frauen war es zu verdanken, dass der Streik auf der Danziger Werft 1981 zum politischen Streik wurde. Doch bereits 1988 waren sie bei den Gesprächen am „Runden Tisch“ nicht mehr vertreten. Nach der Wende sei weiblicher Widerstand in Polen weder thematisiert worden, noch sei eine der in der Solidarnoœæ-Bewegung aktiven Frauen in politische Leitungsämter gelangt.
In zwei Generaldebatten wurde
zunächst diskutiert, inwieweit die Theorie der hegemonialen
Männlichkeit ein verknüpfendes Element zwischen den
Vorträgen zu Genderkonzepten und Geschlechtersymobliken sein
könnte. So reichte das Spektrum der Vorträge von Ernst
Jünger, der von männlichen, kampferprobten Arbeiter-Soldaten
sprach und damit Martin Heidegger beeinflusste, über Filippo
Marinettis Bild der perfekten „Mann-Maschine“, der Vorstellung von
Jesus als dem Mann schlechthin und bis hin zur Konstruktion eines
supervirilen Männerhelden im Kontext des maskulinistischen
Flügels der Homosexuellenbewegung. Darüber hinaus wurde
deutlich, dass Menschen in Ausnahmesituationen weniger strategisch
durchkalkulierte Verhaltensmuster zeigen, um ihr Wohlergehen bzw. ihr
Leben zu schützen, sondern dass sie auf bewährte
Alltagsstrategien zurückgreifen. Diskutiert wurde auch, ob
geltende Rollenkonzepte in solchen Ausnahmesituationen gewahrt blieben.
Es zeigt sich, dass dies nicht pauschal zu beantworten ist, sondern vom
spezifischen geschichtlichen Kontext und der biographischen Situation
der Betroffenen abhängt. Zielführender sei daher die Frage
nach Brüchen und Kontinuitäten im Rollenverhalten der
Geschlechter in Ausnahmesituationen der jüdischen Ghettos, des
Krieges und der Nachkriegszeit. Es wurde resümiert, dass viele
Frauen in Extremsituationen aus ihrer passiven Stellung und ihrer
gesellschaftlich zugeschriebenen Position ausgebrochen seien, indem sie
in Zeiten der Not die ‚klassische’ Männerrolle des
Familienoberhauptes, des Ernährers und Beschützers der
Familie übernommen hatten. In Zeiten, in denen Normalität
einkehrte, seien diese jedoch wieder in ihre Schranken verwiesen
worden. Frauen scheinen zudem in Ausnahmesituationen, in denen sie
selbst Opfer von Verbrechen werden, die adäquateren Mittel zu
wählen, um zu überleben. Offen blieb die Frage, warum sich
Frauen nach dem Ende der Ausnahmesituationen wieder in alte
Rollenmuster drängen ließen und inwieweit ihre spezifischen
Erfahrungen zumindest längerfristig Veränderungen der
klassischen Frauenrollen ermöglichten. Abschließend wurde
die Notwendigkeit einer „Aufarbeitung der Aufarbeitung“ festgehalten.
So müsse die Perspektive der über die Vergangenheit
Forschenden hinterfragt und gegebenenfalls korrigiert werden.
Refbacks
- Im Moment gibt es keine Refbacks
Tübingen Open Journals - Datenschutz