Diskussionspapier
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Josef Bordat
Regulativ der Konventionen. Antikes und Modernes Naturrecht im Vergleich
In der vorliegenden Abhandlung geht es mir darum, das Naturrecht als
notwendiges Regulativ menschlicher Konventionen zu begreifen und damit
Grundlagen unseres Rechtsverständnisses überhaupt zu
klären. Ich möchte mich
dabei auf die Versuche, das Naturrecht auch und gerade in Abgrenzung
zum
„althergebrachten“ Götter- oder Gottesrecht zu bestimmen,
konzentrieren und komme daher von der Antike gleich zur Neuzeit, ohne
auf die reiche Naturrechtstradition in der Hochscholastik (Thomas von
Aquin) bzw. der Spanischen Spätscholastik einzugehen, deren
Kenntnis gleichwohl vorausgesetzt wird.
Zweck der Darstellung ist es, uns, die wir täglichen Umgang mit
dem positiven Recht pflegen, zu veranlassen, dessen überpositive
Fundierung in philosophischen Begriffen wie dem der Gerechtigkeit zur
Grundlage dieses Umgangs zu machen. Denn ein aus Wachsamkeit und – wo
nötig – auch aus Zweifeln am Gegenstand des Rechts erwachsenes
systematisches Misstrauen ist die Basis des Vertrauens in die Politik
eines Rechtsstaats, der sich nicht verabsolutiert, sondern sich immer
wieder den Spiegel vorhält, um regelmäßig zu
prüfen, ob sein Recht wirklich das ist, was es sein sollte: die
gesellschaftliche Operationalisierung des tief in der menschlichen
Natur verankerten Gerechtigkeitssinns.
Naturrecht in
der Antike
Ursprung und Begriff
Der Begriff des Naturrechts ist unmittelbar mit dem der Natur
verbunden.[1] Anders
gesagt: Solange keine Reflexion über die Natur stattfindet,
solange die Natur unentdeckt ist, kann es kein Naturrecht geben. Diese
Reflexion wird von der Philosophie geleistet, die sich von der
kritiklosen Übernahme tradierter Mythen emanzipiert und den
Zweifel an göttlichen Autoritäten ins Zentrum ihrer
Betrachtung stellt.[2]
Die vorphilosophische Etablierung von Recht und Gerechtigkeit ist mit
dem Glauben an Götter verbunden, die eben jenes Recht als Akt der
Offenbarung stiften. Diese Vergöttlichung von Recht und
Gerechtigkeit ist allen archaischen
Kulturen gemein. Sowohl in Ägypten und Israel, als auch in den
Hochkulturen
Mesopotamiens und Griechenlands ergibt sich die vorstaatliche Ordnung,
welche
die Blüte der Kulturen erst möglich machte, aus
göttlichen
Vorgaben.
Sowohl der ägyptische Sonnengott Re, als auch der Gott Jahwe des
Alten Testaments schenken dem Menschen Recht und Gerechtigkeit und
bilden damit Rechtsquelle und Appellationsinstanz in einem, wie dies in
Psalm 7, dem Klagelied Davids, deutlich wird: „Herr, steh auf in deinem
Zorn, / erheb dich gegen meine wütenden Feinde! – Wach auf, du
mein Gott! / Du hast zum Gericht gerufen. / Der Herr richtet die
Völker.“[3] Gott
erscheint gleichsam als Rechtsstifter und
Rechtsprecher, im positiven Sinne der Belohnung – „Herr, weil ich
gerecht bin, verschaff mir Recht, / und tu an mir Gutes, weil ich
schuldlos bin!“[4]– und im
negativen Sinn der Sanktion
von Gebotsmissachtung: „Gott ist ein gerechter Richter, / ein Gott der
täglich
strafen kann.“[5] In der
hebräischen
Bibel kommt das Wort „Natur“ nicht vor; die Begriffe „Himmel“ und
„Erde“
beschreiben das Verhältnis zwischen Gott und Menschen, das von
göttlichen
Geboten und dem Befolgen dieser Gebote bestimmt ist. Die Frage nach dem
Ursprung von Moral und Recht, gleichsam nach den ersten Dingen, wird
mit
der rechtsetzenden Autorität selbst beantwortet, die sich wiederum
aus
sich selbst heraus rechtfertigt, als Singularität sui generis, als
causa
sui, als nicht zu hinterfragende Entität, wie es aus der
Offenbarungsbotschaft
Jahwes („JHWH“) erkennbar wird: „Ich bin der Ich bin da.“[6]
Eine bemerkenswerte Ausnahme zur Vorstellung theokratischer
Jurisdiktion bildet der im 17. Jh. v. Chr. in Mesopotamien unter
König Hammurabi entstandene
Kodex, der schon tausend Jahre vor dem Beginn philosophisch-skeptischen
Reflektierens
über Gott und die Natur in den Werken der Vorsokratiker
Ansätze
eines naturrechtlichen Prinzips beinhaltet: die Billigkeitserwägung. Nach dem Kodex Hammurabi steht es im
Ermessen des
Königs, die Durchsetzung an und für sich gültiger
Rechtsnormen an überpositive Bedingungen zu knüpfen, was das
Recht einschließt, erlassene und prinzipiell für gerecht
erkannte Gesetze unter bestimmten Umständen außer Kraft zu
setzen.[7] Freilich bleibt
der König auch für den Gebrauch dieses
Gerechtigkeitskorrektivs den Göttern verantwortlich, doch mit
dieser Ermächtigung setzt sich naturrechtliches Gedankengut gegen
die Allgewalt des göttlichen Rechtes durch. Es handelt sich beim Kodex Hammurabi also um eine
Rechtsordnung, die zwar einen göttlichen Ursprung hat, aber
dennoch als säkularisiert gelten kann.
In Griechenland zeugt die Theogonie des Hesiod aus dem 7. Jh. v. Chr.
von einer göttlichen Rechtsgenese, wobei hier auffällt, dass
die Göttin des Rechts und der Gerechtigkeit, Themis, als Tochter
der Gaia („Erde“) und des Uranos („Himmel“) der Urgeneration
angehört und damit älter ist als der „Götterkönig“
Zeus. Damit wird das göttliche Recht auch den olympischen
Göttern vorangestellt, auch die Götter haben sich ihm
infolgedessen zu unterwerfen. Es hat eine zeitlose, irreversible
Gültigkeit, die auch die Antigone beansprucht, als sie sich
über das (positiv-rechtliche) Gebot des Kreon hinwegsetzt und
ihren Bruder Polyneikes bestattet: „Auch hielt ich nicht für so
stark dein Gebot / Daß Menschenwerk vermöcht zu
überholen / Das ungeschriebene, heilige Recht der Götter. /
Denn nicht von heute oder gestern, ewig / Lebt dieses ja, und keiner
weiß, seit wann.“[8]
In dieser Atmosphäre göttlicher Rechtsetzung und menschlichen
Gehorsams können „die ersten Dinge und der rechte Weg [...] nicht
in
Frage gestellt oder Gegenstand einer Untersuchung werden“[9], mit der Folge: „Philosophie kann nicht
entstehen und die Natur nicht entdeckt werden.“[10]
Voraussetzung für die Entdeckung der Natur und die Konstituierung
eines Naturrechts ist der Zweifel an
der Autorität. Hierzu ist zunächst die Freiheit von dieser Autorität
Bedingung.
Bevor in Platons Staat über das Naturrecht, d. h. über die
Gerechtigkeit, gesprochen wird, geht der alte Kaphalos, Symbol einer
überkommenen Zeit, dahin, den Göttern ein Opfer zu bringen
und macht der Diskussion Platz.[11]
Die Diskussionsteilnehmer dagegen vergessen über ihrem hitzigen
Wortgefecht um eine adäquate Gerechtigkeitsdefinition den
Fackellauf zu Ehren der Göttin, an dem sie
teilnehmen wollten und für den Sokrates eigentlich nur in der
Stadt geblieben
war.[12] Die
Naturrechtsdebatte hatte den Götterkult verdrängt. Die
Freiheit von den göttlichen Vorgaben mündet im Verlauf der
Diskussion ein in die Freiheit zum
Naturrechtsdenken, in den freien Diskurs
über alternative Gerechtigkeitsdefinitionen.
Das Naturrecht entspricht mithin einer rechtlichen Substantiierung des
durch Philosophieren gewonnenen Naturbegriffs. Philosophieren wiederum
ist
eine aus der Freiheit von der Autorität entstandene
Tätigkeit,
die jedoch gleichsam ihrerseits zur Befreiung von tradierten Mythen
beiträgt.
Daraus entsteht ein sich selbst verstärkender
Emanzipationsprozess,
in dessen Folge Naturentdeckung und Naturrechtsdenken stehen. Dem
zugrunde
liegt als treibende Kraft der Zweifel.
Wie aber kam es zu den notwendigen Zweifeln, wo doch alles
göttlicherseits wohlgeordnet zu sein schien? Zwei Aspekte lassen
sich hier erkennen: 1. Widersprüche in den Geboten und 2. offene
Ungerechtigkeiten, d. h. unverhältnismäßig harte
Gesetze, gegen die sich – damit sind wir schon beim Thema – die
menschliche Natur sträubt. Als Beispiele mögen zum einen die
unter dem Schutz der Götter geübte brutale Privatjustiz des
Odysseus in Homers Odyssee[13] und zum anderen der
inflationäre Gebrauch der Todesstrafe im biblischen Buch Exodus[14] dienen. Die
Widersprüche und Ungerechtigkeiten provozierten Fragen und Zweifel
und lieferten damit die Basis für das Naturrecht als Emanzipation
aus dem göttlichen Recht.
Das epochale Resultat dieser Emanzipation ist die Erkenntnis, dass
nicht aus dem Chaos, sondern aus der Natur des Menschen Recht entsteht
und sich Grundbegriffe wie „das Gute“ und „Gerechtigkeit“ ableiten
lassen. Damit wird die göttliche Autorität jedoch
zunächst nur ersetzt durch die
Autorität der Natur. Das gute und gerechte Leben war bislang das
nicht
hinterfragte Althergebrachte.
Nun
spaltet sich die Lebensweise in Natur
einerseits und Konvention
anderseits auf, in das, was dem Menschen eingeschrieben ist und das,
was er sich und seiner Kommunität selbst an Regeln gibt. Leo
Strauss sieht darin den entscheidenden Schritt: „Die Entdeckung der
Natur oder des grundsätzlichen Unterschiedes zwischen Natur und
Konvention ist die notwendige Bedingung für
die Entstehung der Idee des Naturrechts.“[15]
Doch ist in dem Spannungsfeld zwischen Gott, Natur und Konvention kein Brückenschlag
möglich? Stehen sich die Positionen unvermittelbar gegenüber?
Um den Begriff des
Naturrechts in der klassischen Phase genauer erfassen zu können,
ist
eine Abgrenzung „in beide Richtungen“ nötig, hin zum
göttlichen und zum positiven Recht.
Die Festlegung der künftigen Stellung des klassischen Naturrechts
zum göttlichen Recht
bringt
je nach Interpretation des Menschen und seiner Natur in der
griechischen
Antike zwei grundlegende Positionen hervor: Die Mehrheit, v. a.
Heraklit,
Sokrates, Platon und Aristoteles, verfolgt die Richtung, dass das
Naturrecht
aus dem göttlichen Recht entstanden ist und dieses nicht
aufgegeben,
sondern nur menschlich modifiziert werden sollte (kosmologisches Naturrecht).
Lediglich
das absolute Moment der
göttlichen
Autorität wird in Abrede gestellt, nicht jedoch das wegweisende ihrer Offenbarung.
Doch kann der, der „das Dasein eines persönlichen Schöpfers
und Weltregierers ablehnt, [....] das Naturrecht nicht mehr festhalten“[16]? Nicht
zwangsläufig: Eine andere Denktradition, v. a. vertreten von
Protagoras, stellt den Menschen ins Zentrum und das Naturrecht
über das göttliche Recht, das als überholt angesehen
wird. Der Mensch wird zum „Maß aller Dinge“[17], das Naturrecht zu einem
anthropologischen.[18]
Es geht bei der Frage nach dem kosmologischen oder anthropologischen
Ursprung im Verhältnis zur Existenz Gottes nicht um ein striktes
„Entweder-Oder“, denn es ist denkbar, das Naturrecht ohne
göttliche Quelle anzunehmen und die Rechtsgrundsätze alleine
in der menschlichen Natur zu verorten, ohne dafür die Existenz
Gottes opfern zu müssen.
Die Abgrenzung zum positiven Recht
als das entscheidende Problem des neuzeitlichen Naturrechtsdiskurses
wurde bereits in der vorklassischen Antike als bedeutendes
konstitutives Merkmal des Naturrechts identifiziert. So gibt es im
altägyptischen Ma’at[19]-System
zweierlei Rechtsprechende Instanzen: das gewöhnliche Gericht, das
Rechtsverletzungen wie Mord, Diebstahl oder Betrug im irdischen Leben
ahndet, und das Totengericht, das darüber hinaus auch nicht
justitiable Vergehen wie moralische Verfehlungen gegen Ma’at bestraft.
Das Bewusstsein für die Möglichkeit des Auseinanderfallens
von positivem Recht und göttlichem Recht überträgt sich
auf die Betrachtung der Differenz zwischen positivem Recht und
Naturrecht.[20]
Konventionalismus und Naturrecht
In der Antike entwickelt sich trotz des gemeinhin akzeptierten
kosmologischen Ursprungs des Naturrechts, trotz der Annahme, dass es
„von den Göttern“ stammt, schon bei den Vorsokratikern[21] ein Konventionalismus,
der die Gerechtigkeit als menschliche Annahme betrachtet, die für
die Götter keinen Maßstab der Differenzierung darstellt.[22] Dabei führt die
konventionalistische Haltung im Extremfall dazu, anzunehmen, jede Norm
sei beliebig zu vereinbaren, etwa nach dem größten zu
erwartenden Nutzen. Damit würde die Existenz eines
vorkonventionellen Naturrechts rundweg abgelehnt, so dass der Begriff
„Naturrecht“ im Zusammenhang mit dieser Doktrin nur noch
eingeschränkt verwendet werden kann.
Der Konventionalismus kann jedoch mit der Naturrechtstradition
vermittelt werden, wenn angenommen wird, dass sich die Konventionen,
und entsprechend das über die Konventionen entstehende positive
Recht, mit der Natur im
Einklang befinden muss, um das Ideal des guten Lebens zu
befördern. Denn
erst ein Leben, das der von Konventionen, Bräuchen und Normen
bestimmte Mensch im Einklang mit seiner Natur lebt, ist ein gutes
Leben; eine Ansicht, die nach Cicero „fast alle“ Philosophen der Antike
teilen.[23]
Die Frage im Verhältnis des Guten zum Gerechten ist nun aber die,
ob das Gerechte von Natur aus
unmittelbar mit dem Guten identifiziert werden kann (naturrechtliches
Postulat) oder ob
das Leben in Übereinstimmung mit der Natur Gerechtigkeit als
Dreingabe von außen erfordert, um zu einem guten Leben zu werden
(konventionalistisches Postulat).[24]
Kann man die Gerechtigkeit vom guten, mit der Natur harmonierenden
Leben trennen und zur notwendigen Bedingung für eben jenes Leben
machen?
Die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit – der menschlichen Natur
innewohnend oder eine bloß äußere Konvention –
ließe sich vor diesem
Hintergrund wie folgt beantworten: Auch wenn das Gerechte dem Menschen
nicht
natürlich vorgegeben sein sollte[25]
und es unterschiedliche Ansichten über die Gerechtigkeit gibt, [26] der freien konventionellen
Verfügung über den Begriff der Gerechtigkeit steht die
„Rücksichtnahme“
auf die menschliche Natur im Wege. Denn wie könnte etwas, das
gerade
der menschlichen Natur zuwider läuft, hilfreich oder gar nötig sein, um ein Leben, das
im Einklang mit dieser Natur geführt wird, zu einem guten Leben zu machen? Selbst wenn
die Natur das Gerechte nicht direkt
hervorbringt, so ist sie doch stets als Regulativ des Gerechten wirksam.
Daher muss die naturrechtliche
Gerechtigkeit wahrhaft existieren und „überall die gleiche
Macht haben“[27]. Gibt es
unterschiedliche Ansichten zur Gerechtigkeit, sorgt dies für jene
Verwirrung, welche die überragende Gewissheit einer
Einmütigkeit aller Menschen hinsichtlich gemeinsamer Prinzipien des Naturrechts
fundiert. Dieses verwirrende Gefühl des Widersprüchlichen ist
bei unterschiedlichen Konventionen zu außermoralischen Dingen wie
Währungen oder Maßeinheiten nicht zu spüren.[28] Damit sind gerade durch diesen
unterschiedlichen Umgang mit der Unterschiedlichkeit die
Konventionalisten widerlegt. Es ist mithin so, dass sich in der
„Nichtübereinstimmung in den Gerechtigkeitsprinzipien [...] eine
Verwirrung [offenbart], die von etwas Selbständigem oder
Natürlichem
hervorgerufen ist, welches sich der menschlichen Fassungskraft entzieht“[29]. Der Konventionalismus
verweist
so ironischerweise auf das Naturrecht.
Unabhängig davon, wie Gott im Verhältnis zur Natur
hinsichtlich der Frage nach der Ur-Instanz des Rechts gedeutet wird –
als wegweisend oder als überflüssig –, und unabhängig
davon, ob Gerechtigkeit unmittelbar
als Ausfluss aus der menschlichen Natur oder als mittelbares Ergebnis
natürlich
gezähmter menschlicher Konventionen begriffen wird, an der
Naturrechtsidee
als Quelle jeden Rechts kommt man in der Antike nicht vorbei.
Ich hatte die klassische Naturrechtstheorie als Emanzipation des
Menschen vom schicksalhaft-mythischen „Götterrecht“ beschrieben.
Philosophie als
anthropogene Form der Naturbeschreibung versuchte fortan, die
Kernthemen der
Ethik – Gerechtigkeit und gutes Leben – in der Auseinandersetzung mit
Naturrechtspostulaten
und Konventionen zu ergründen und mit dem Recht eine
Appellationsinstanz
jenseits des als „göttlich“ verklärten Herrscherwillens zu
schaffen.
Weiterhin erwuchs aus der Naturrechtslehre der Gedanke eines Gerechtigkeitsgefühls, das die
Menschen qua ihrer Natur teilen, denn die „Nichtübereinstimmung in
den
Gerechtigkeitsprinzipien [offenbart] eine Verwirrung, die von etwas
Selbständigem
oder Natürlichem hervorgerufen ist, welches sich der menschlichen
Fassungskraft
entzieht“ [30]. Der
empirische
Beleg dieses übereinstimmenden, kultur- und
religionsübergreifenden
Ethos liegt in der Goldenen Regel
vor, die nach religionswissenschaftlichen Erkenntnissen unabhängig
an mehreren Orten entstanden ist, was sie zu einer sittlichen
Grundformel
der Menschheit macht, zu einem zwingend und zeitlos gültigen
ethischen
Prinzip, das der menschlichen Natur innezuwohnen scheint.
Dennoch bleibt die Frage bestehen, was mit „Natur des Menschen“ genau
gemeint ist. In der Ausdeutung der menschlichen Natur liegt immer auch
ein Setzungsmoment, das dann von den Konventionalisten dazu benutzt
werden kann, darauf hinzuweisen, dass es eben doch kein Recht jenseits
des positiven, gesetzten Rechtes gibt, kein unbedingtes,
natürliches Recht, das „von Anfang an“ existierte. Die
Rückbesinnung auf Gott als Garant des vorpositiven Rechts, wie es
die aristotelisch-thomistische Naturrechtslehre nahe legt, scheitert
daran ebenso wie Platons Vorstellung vom Naturgesetz als eine dem
Menschen „eingeborener Idee“, die man nur „zu schauen“ lernen
müsse.
Um den Naturrechtsgedanken zu fundieren, muss also ein Grund gefunden
werden, der existiert, ohne dass Gott notwendig zu existieren braucht
und der auch nicht auf eine metaphysische Ideenschau referenziert, die
einer Elite vorbehalten bleibt. Die Leistung der modernen
Naturrechtstheorie ist es nun gerade, diese
Letztbegründungsinstanz in der „natürlichen Vernunft“
gefunden zu haben, die auch dann ihre Aufgabe erfüllen kann, wenn
es keinen Gott gäbe (so
argumentieren später v. a. Grotius und Wolff).
Im modernen Naturrecht geht es also weder um eine theologische
Manifestierung des Rechts, wie etwa in der Scholastik, noch um eine
metaphysische Grundlegung, in der die Vernunft als Dünkel einer
Elite für eben diese die unmittelbare Einsicht in die Idee des
Naturrechts ermöglicht (Platon[31])
oder als naturreligiös verklärte All-Vernunft auftritt, die
jedem das Naturrecht ebenso unmittelbar einsichtig erscheinen
lässt (jüngere Stoa[32]),
sondern es geht darum, das Recht auf die natürliche Vernunft als
anthropologische Konstante und somit geeignete
Bestimmungsgröße vorkonventioneller Rechtsideen
zurückzuführen. Die natürliche Vernunft ist allen
Menschen zu Eigen und ermöglicht daher einen gemeinsamen
Rechtsfindungsprozess, der Recht und Gesetz argumentativ generiert. An
die Stelle des „Unmittelbaren“ tritt das „Prozedurale“, an die
Stelle der „Schau“ oder „Eingebung“ [33]
tritt die „Auseinandersetzung“ [34].
Zu Beginn des 17. Jahrhunderts vertritt der Calvinist Johannes Althusius (1557-1638) in
seiner Staatsrechtslehre[35]
als „Fortsetzer der Schule von Salamanca“ [36] sehr ähnliche Positionen wie
Francisco Suárez, wenn er das Prinzip der
Volkssouveränität und des Widerstandsrechts naturrechtlich
begründet, [37] und
sie
– im Gegensatz zu Hobbes – auch durch den Vertragsschluss nicht als
verwirkt
ansieht. [38] Die mutua
obligatio
(gegenseitige Verpflichtung) zwischen Volk und Herrscher, von der
Althusius
spricht, begrenzt auch unter den Bedingungen des Herrschaftsvertrags
die
Macht des Fürsten. Aus der Tatsache, dass das Individuum
historisch
betrachtet älter ist als jeder Herrschaftsverband, folgert
Althusius
die grundlegende Priorität des Menschen vor dem Staat. Der Staat
ist
für den Menschen da, nicht umgekehrt. Mit Althusius gelangt der
Gedanke
individueller Rechte, wie er sich später v. a. in der
Aufklärung
entwickeln wird, in die Naturrechtskonzeption: „Nun erst wuchs
unaufhaltsam
jenes System der angeborenen, unveräußerlichen
Menschenrechte
empor, welches zuletzt als eigentlicher Kern der gesamten
Naturrechtslehre erschien.“ [39]
Mit der Loslösung des Naturrechts von der Theologie werden die
Lehren von Recht und Staat in der zweiten Hälfte des 17.
Jahrhunderts als unmittelbare Folge der Arbeit Hugo Grotius’ auf
säkularen und rationalen Boden gestellt. Kofler hebt hervor, dass
„[d]ie spekulative und unhistorische Methode zur Behauptung
anthropologischer Weisheiten [verleitet], die die Grenzen der
geschichtlichen Erfahrung überschreiten“ [40]. Das Naturrecht verhalte sich
„gegenüber
der geschichtlichen Erfahrung, der einzigen Erscheinungsform, die auf
den
Menschen als soziales Wesen anwendbar ist, transzendent“ [41], ohne dass diese Transzendenz wieder
auf
Gott verweist. Es entsteht in dieser Zeit eine neue Transzendenz in
Form
rationaler Visionen einer Gesellschaft, die auf Vernunft gegründet
ist,
nicht auf Glauben, die den Bürger in den Mittelpunkt stellt, nicht
die Kirche und die in einer globalen Rechtsordnung Hoffnungen setzt,
die
das dogmatisch geprägte und meist gespannte Verhältnis von
Kaiser
und Papst als Garanten der mittelalterlichen Weltordnung nicht
erfüllen
konnte. Kurz: Das Recht sollte die Macht ersetzen.
Verantwortlich für die Verbreitung und Systematisierung dieses
säkularisierten Naturrechts war in Deutschland insbesondere Samuel von Pufendorf (1632-1694),
der 1661 den ersten Lehrstuhl für Naturrecht an einer deutschen
Universität (Heidelberg) erhielt. [42] In
seinem Naturrechtsverständnis sind zwei Dinge entscheidend: die deduktiv-empirische
Rechtsentwicklung und die Begründung eines naturwissenschaftlichen Naturrechts.
Die Begründung eines naturwissenschaftlichen Naturrechts aus dem Selbsterhaltungstrieb des Menschen
als lex naturalis übernimmt
Pufendorf von Hobbes, der den Menschen im Naturzustand, im „bellum omnium contra omnes“ [43] (Krieg aller gegen
alle) befindlich sieht und für den die gesellschaftliche Ordnung
und die staatliche Konstitution entsprechend eine Schutzfunktion hat;
nur durch freiwillige Unterwerfung unter die Herrschaft eines absoluten
Souveräns kann sich der Mensch vor seinen Mitmenschen in
Sicherheit bringen. Pufendorf geht zwar von einem grundsätzlich
friedlichen Naturzustand der „Geselligkeit“ aus
(worin er Grotius folgt), doch leben die Menschen s. M. n. in diesem –
bedingt
durch ihre Schwäche – immer latent gefährdet. Diese
Gefährdung kann letztlich nur der Staat beheben. So hält er
in seinem Staatsrechtsverständnis an der unteilbaren
Souveränität des absoluten Fürsten fest und gelangt zu
dem Ideal eines „gemäßigten Absolutismus“, der deswegen
„gemäßigt“ ist, weil sich der Fürst nur aufgrund eines freiwillig geschlossenen
Herrschaftsvertrags in seiner Position befindet, aber dennoch ein
„Absolutismus“ bleibt, weil die Übertragung des Herrschaftsrechts
eine unumkehrbare und absolute ist; ein Widerstandsrecht
– wie
es Suárez hervorhebt – kennt Pufendorf nicht, auch nicht im Fall
einer
Tyrannei. [44]
Die Gesetze der Natur werden von logischen Prinzipien gelenkt, die Gott
als Schöpfer der Welt gestiftet hat und die es zu entdecken gilt,
was
dadurch möglich wird, dass sie mit der Vernunft in Einklang
stehen.
Die Welt wird also nicht durch den Zufall oder andere vom Menschen
nicht
direkt erkennbare Mechanismen gesteuert, sondern ihre Ordnung ist klar
einsehbar:
„Denn, gemäß seinem Obersatz, die Dinge müssten und
können
klar erkannt, beschrieben, verknüpft und abgeleitet werden, war es
ihm gewiss, dass die Welt als solche einsehbar, in gewisser Weise
vernünftig
sei. [...] Das Leben könne daher begrifflich juridifiziert werden,
die
Naturrechtslehre eine die Gesamtordnung menschlichen Lebens, das
soziale
Handeln [...] umgrenzende und analysierende Wissenschaft sein.“ [45] Dieses Konzept der
göttlich
eingerichteten „Gesamtordnung“, das sehr stark an Leibnizens
„prästabilierte
Harmonie“ erinnert, führt Pufendorf zu seiner deduktiv-empirischen
Rechtsentwicklung. Deduktiv entsteht
das Recht deshalb, weil seine Grundsätze aus eben jenen
Ordnungsprinzipien ableitbar sind, welche wiederum empirisch erfahr- und beschreibbar
sind, da sie sich in der menschlichen Natur als Ausdruck der
Universalordnung wiederfinden lassen: „Die Normen menschlichen
Verhaltens wurden [...] nicht mehr aus den eingeborenen Begriffen der
menschlichen Vernunftnatur als direkter Niederschlag einer
göttlichen [...] Schöpfungsordnung oder eines transzendent
begründeten normativen Logos verstanden, sondern sollten sich
durch rationale Konstruktion und Deduktion aus den empirisch fassbaren
Antrieben und Verhaltensformen der menschlichen Natur selbst ergeben.“ [46] Es liegt nahe, hierin
den
naturalistischen Fehlschluss vom Sein auf das Sollen zu vermuten, doch
umgeht
Pufendorf diesen Vorwurf damit, dass er ja davon ausgeht, die
menschliche Natur selber sei „geordnet“ und hinter dieser Ordnung stehe
der göttliche Schöpfer. Wer also das beobachtete Verhalten
eines Menschen normativ auffasst, schließt letztlich von der
göttlichen Ordnung auf menschliches Recht. In diesem letztlich
tief religiösen Bekenntnis lässt sich nur dann – ausgehend
von Grotius – eine weitere „Säkularisierung des Naturrechts“ [47] sehen, wenn beachtet
wird, dass Pufendorf die göttliche Ordnung als vernünftige
und – was entscheidend ist – qua Vernunft vom Menschen erfahrbare
Ordnung beschreibt. Die Vernunft steht über allem, was deutlich
wird an Pufendorfs Worten zum Selbstverständnis des Philosophen,
die andeuten, was später bei Thomasius und Wolff umgesetzt wird:
Die Verwissenschaftlichung, im besten Falle Mathematisierung der
philosophischen Methode. So schreibt er: „Im übrigen aber hat kein
Schriftsteller ein besonderes Anrecht auf Beifall; sondern was
mit der Vernunft in Einklang steht, das wird angenommen, von wem es
auch überliefert
sein mag. Weiter ist es keine Schande, seine früheren Ansichten
aufzugeben,
wenn etwas Besseres gefunden wird. Dann gibt man sich Mühe, durch
sorgfältige
Überlegung und Untersuchung in die innersten Geheimnisse der
Wissenschaft
und der Natur der Dinge einzudringen. Auf diesem Wege haben die
Mediziner
ihre Wissenschaft in diesem Jahrhundert hervorragend weitergeführt
und tun es noch heute.“[48]
Dem sollten sich die Philosophen anschließen.
Der Gedanke der intelligiblen,
harmonischen Weltordnung führt bei Gottfried Wilhelm Leibniz
(1646-1716) dazu, dass er den Willen Gottes, der „von Natur aus“
höher als das positive Recht oder menschliche
Gerechtigkeitserwägungen steht, als letzte Appellationsinstanz des
Rechts – auch des Naturrechts – betrachtet, denn „Gott [..]
bestätigt das reine Recht und die Billigkeit, weil er allwissend
und weise ist“[49]. Der
Wille Gottes, der mit der „Schönheit und Harmonie der Welt
zusammen[fällt]“[50],
durchströmt das gesamte Rechtssystem und hat teils
Gesetzescharakter, nämlich in den Geboten als „positive[m]
göttliche[n] Recht“, teils ist er „natürlich“ und
prägt so die „Pietät“ als dritte (und höchste) Stufe des
leibniz’schen
Naturrechtskonstrukts, die den beiden darunter angesiedelten Stufen
„strenges
Recht“ und „Billigkeit“ erst „Vollendung und Wirksamkeit verleiht“.[51] Der leibniz’sche
Begriff
des Naturrechts weicht dabei etwas von dem ab, was bisher unter
„Naturrecht“ verstanden wurde, also etwa eine vor- und
überpositive Rechtsidee, die sich vom positiven Recht durch
Unveränderlichkeit und Unbedingtheit unterscheidet.
Leibniz zählt – neben der Pietät
als Manifestation des göttlichen Willens und der Billigkeit als naturrechtliche
Komponente
i. e. S. – auch das strenge
oder reine Recht als „Kriegs-
und Friedensrecht“[52] zu
seinem komplexen „Naturrecht“.
Ohne den Gedanken der prästabilierten
Harmonie kann man Leibniz rechtsphilosophisches Modell nicht
verstehen
und würde es wohl für naiv halten, doch unter dieser
Grundvoraussetzung
seiner Philosophie erscheint es vernünftig, davon auszugehen, Gott
sorge
für das Band „zwischen dem strengen Recht und der Billigkeit“,
sein
„willentlicher Beistand“ fungiere mithin als Verbindung zwischen
positivem
Recht und Naturrecht, so dass alles, was „für das
Menschengeschlecht
und die Welt nützlich ist, zugleich so geschieht, daß es
auch
für die einzelnen nützlich ist, und daß somit alles
Ehrenvolle
nützlich und alles Schädliche schädlich ist“ und
„für
die Gerechten Belohnungen und für die Ungerechten Strafen
festgesetzt“
seien.[53] Als Fazit
resümiert
Leibniz, dass „[d]ie Existenz des weisesten und mächtigsten
Wesens,
d. h. Gottes, [...] folglich der letzte Grund des Naturrechts
[ist]“
und spricht davon, ein Gottesbeweis „mit mathematischer
Gewißheit“
werde einst für diese Erkenntnis sorgen.[54]
Um „mathematische Gewissheit“ kümmerten sich in der Folge Christian Thomasius (1655-1728) und
Christian Wolff (1679-1754).
Ihr Anliegen, Philosophie mit (natur-)wissenschaftlicher, d. h.
idealer Weise mathematischer
Methodik zu betreiben, führt schließlich zu einer weiteren
Perfektionierung des Säkularisierungs- und Deduktionsansatzes
Pufendorfs.
Thomasius[55] stellt die
Sittlichkeit über das Recht, eine Trennung, welche die
spätere
Unterscheidung von Legalität und Moralität, wie sie etwa von
Kant
vorgenommen wird, begünstigen sollte. Die Sittlichkeit betrachtet
Thomasius
als immanent, während es ohne Gemeinschaft kein Recht geben
könne.
Damit entsprach er der Auffassung eines Naturrechts als
übergeordnetes
Rechtssystem, das jedes religiösen Bezugs entbehren solle und auf
drei
Grundprinzipien reduzierbar sei: die Regel des Ehrbaren (honestum), des
Wohlanständigen (decorum)
und des Gerechten (iustum).
In seiner Radikalität leugnet
er – gegen Pufendorf – die Willensfreiheit. Bei ihm bestimmt das
individuelle
Glücksstreben den Willen des Einzelnen. Der Sinn des Rechts liege
in
der Abwehr von Gefahren, die dem Wohl des Einzelnen
entgegenstünden. Der innere Friede des Individuum sei
gefährdet durch die eigenen Leidenschaften, zu deren
Eindämmung es des honestum
und des decorum bedürfe,
während die Bedrohungen von außen durch die Gerechtigkeit,
das iustum, abgewehrt sein
sollen.
Wolffs Beitrag zum Naturrecht ist – wie in allen philosophischen Fragen
seiner Zeit – ein äußerst umfangreicher: Er legt sein
Naturrechtskonzept in acht Bänden unter dem Titel Ius naturae methodo scientifica
pertractatum (1740-48) vor. Sein ehrgeiziger Versuch, aus
obersten Prinzipien ein vollständiges, widerspruchsfreies, alle
Rechtsgebiete umfassendes System von exakten, absolut gültigen
Gesetzen
logisch herzuleiten, scheitert jedoch an der Komplexität der
Materie.
Schon im Entstehungsprozess des Werkes wird ihm dies klar, so dass er
noch
in ihm „das Scheitern seines unbedingten Vertrauens in den
aufgeklärten Absolutismus zu verarbeiten begann“[56]. Hier wurde die mathematische
Gewissheit von der Wirklichkeit lebensweltlicher Ungewissheit eingeholt
und muss der Erkenntnis Tribut zollen, dass sich Recht nicht „ein
für alle Mal“ – wie eben Mathematik – bestimmen lässt.
Dennoch wurde Wolff zum Lehrmeister und Wegbereiter für die
europäischen Menschen- und Bürgerrechtserklärungen und
für die ersten großen Kodifikationen als Mittel der
Gesellschaftsorganisation und –planung, etwa das Allgemeine Landrecht für die
Preussischen Staaten (1794), eine umfassende Normensammlung mit
fast 20.000 Paragraphen als Ausdruck des Vernunftrechts wolff’scher
Provenienz.
Die Aufklärung hatte in diesen Mathematisierungsversuchen ihren
Höhepunkt erreicht, und als die Rede davon war, dass die
Vernunftnatur nicht maßgeblich bestimmend, sondern als einzige
und ausschließlich
bestimmend gelten soll für die Bildung des Rechts, ja sogar
für Gerechtigkeit und Moral, sank der Stern der reinen Vernunft im
Rechtswesen auch schon wieder. Einen Eindruck davon vermittelt die
berühmte Encyclopédie
(1751-72) von Diderot und d’Alembert, die der französischen
Aufklärung ihren Namen gab. Unter dem Stichwort „Naturrecht“ –
gedeutet als Ausgangspunkt und Rückhalt jenes „allgemeinen
Willens“, welcher schon die kontraktualistisch geschaffene und rational
organisierte Gesellschaftsordnung bei Hobbes und Locke bedingt hatte –
findet man u. a. folgendes: „Die Unterwerfung unter den allgemeinen
Willen ist das Band aller Gesellschaft. [...] Da von den zwei Willen –
dem allgemeinen und dem besonderen – der allgemeine niemals irrt, so
ist es nicht schwer einzusehen, welchem Willen – zum Glück der
Menschheit – die
gesetzgebende Gewalt gehören sollte und welche Verehrung man jenen
erhabenen
Sterblichen schuldig ist, deren besonderer Wille die Autorität und
die
Unfehlbarkeit des allgemeinen Willens vereint. [...] alle diese
Konsequenzen
sind evident für denjenigen, der vernünftig denkt, und wer
nicht
vernünftig denken will, verzichtet darauf, Mensch zu sein, und
muß
deshalb als entartetes Wesen behandelt werden.“[57] Hier schlägt die Würdigung
der
Vernunft und des Vernunftrechts in aufklärerischem Übereifer
um
in Fanatismus. Hier greift denn auch die Kritik Kants ein und die der
Idealisten,
von denen v. a. Fichte und Hegel sich intensiv mit dem Naturrecht
beschäftigt
haben.[58] Diese
„nachaufklärerische“ Epoche der Naturrechtsentwicklung umfassend
zu schildern, würde den Rahmen
dieser kurzen Darstellung sprengen. Insoweit werde ich lediglich einige
Stichworte
liefern, die diesen philosophiehistorischen Abschnitt und die drei
genannten
Denker kennzeichnen.
Immanuel Kant (1724-1804)
bricht gleich doppelt mit der Tradition: Einmal durch die
grundsätzliche Trennung von Moral und Recht, die zwar im Grunde
schon von Thomasius vertreten wurde, aber erst bei Kant klar
herausgebildet wird,[59]
und zum anderen durch die Ablehnung einer auf die Erfahrung
gegründeten Moral und die Schaffung eines
formal-prinzipienethischen Ansatzes, der im Kategorischen Imperativ[60] seinen Ausdruck findet.
Die Trennung von Moral und Recht sowie die formalisierte Darstellung
eines ethischen Grundsatzes ist einerseits eine epochale Leistung, die
der Theorie ethischer Begründung sowie der Positivierung des
Rechts Vorschub leistete, andererseits droht damit gerade das
wesentliche Element wegzubrechen, welches das Naturrecht ausmacht,
nämlich die moralische Kontrolle über das
positive Recht als nötig und möglich anzunehmen und in
Denkfiguren wie etwa der „natürlichen Vernunft“ einer Instanz
zuzuweisen, die unbestechlich ist und über den Launen des
politisch-juridischen Zeitgeistes steht.[61]
Johann Gottlieb Fichte
(1762-1814) versucht jenen Zusammenhang zu stärken, indem er auf
die Bildung eines „Vernunftstaats“ insistiert, in dem der Widerspruch
zwischen Naturrecht und positivem Recht aufgehoben ist. Hinzu treten
zwei Aspekte, die sich ebenfalls von Kant deutlich abheben: die
Entwicklung sozialer Anschauungen und die
Begründung eines Rechts auf Revolution, das Kant strickt ablehnt.
Schließlich soll mit Georg
Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) einer der herausragenden
Rechtsphilosophen Erwähnung finden. Auf die „kühne
Architektonik“[62] der
idealistischen Naturrechtsschriften reagiert Hegel mit einer
durchgreifenden Kritik des Naturrechtsdenkens, die schließlich –
in Hegels später Rechtsphilosophie –[63] zur Synthese von rechtsbegrifflicher
Konkretion und freiheitsidealistischer Spekulation führt. Kritik
übt Hegel – ausgehend von seiner Leibniz-Rezeption – insbesondere
an dem seiner Ansicht nach unklaren Begriff „Vernunftnatur“.
Leibniz wirft er vor, mit dem Gottesbezug im Recht überhaupt keine
Erklärungen zu leisten; seinen Optimismus, was die harmonische
Ordnung
betrifft, hält er für „Geschwätz“[64]. Er meint, Leibniz Einlassung, die
Natur
sei von Gott auf das Bestmögliche eingerichtet, weil sie von Gott
eingerichtet
wurde, gebe keine plausible Erklärung ab, sondern verweise
lediglich
zirkulär von der Güte Gottes über die Güte seiner
Schöpfung
auf seine Güte: „,Nach der Weisheit Gottes müssen wir
annehmen,
daß die Gesetze der Natur die besten sind.’ Im Allgemeinen ist
man
damit zufrieden; aber die Antwort ist für die bestimmte Frage
nicht
hinreichend. Man will das Gute dieses Gesetzes erkennen. Das wird nicht
geleistet.
[...] Leibniz [sagt nur]: ,Gott hat es gemacht’; das ist keine Antwort.
Wir
wollen den bestimmten Grund dieses Gesetzes erkennen; solche
allgemeinen
Bestimmungen lauten fromm, sie sind aber nicht genügend.“[65]
Dabei leugnet Hegel die Bedeutung des Naturrechts nicht, sondern
fühlt sich der modernen Naturrechtstheorie durchaus verpflichtet.
Ausgehend von der hobbes’schen Beschreibung des anarchischen
Naturzustands – „Das Recht der Natur ist darum das Dasein der
Stärke und das Geltendmachen der Gewalt,
und ein Naturzustand ein Zustand der Gewalttätigkeit und des
Unrechts,
von welchem nichts Wahreres gesagt werden kann, als daß aus ihm
herauszugehen
ist.“ [66] – entwickelt
Hegel
eine Theorie des Fortschritts der Geschichte, in dem sich der Geist vom
Naturzustand
der Unfreiheit zur Freiheit entwickelt: „In der Tat aber gründen
sich
das Recht und alle seine Bestimmungen allein auf die freie
Persönlichkeit,
eine Selbstbestimmung, welche vielmehr das Gegenteil der
Naturbestimmung
ist.“ [67] Trotz dieser
Diskrepanz
in der Beurteilung des als „unfrei“ beschriebenen Naturrechts und des
in
freier Bestimmung gegründeten positiven Rechts, wäre es, so
Hegel,
„ein großes Mißverständnis“, anzunehmen, „daß
sie
einander entgegengesetzt und widerstreitend sind“[68]; tatsächlich verhielte sich das
Naturrecht
zum positiven Recht wie die „Institutionen zu [den] Pandekten“[69]. So scheint bei Hegel
auf paradoxe Weise in der Ablehnung der Naturrechtssysteme doch auch
eine naturrechtliche Basis des Rechts gegeben, und sei es nur als
Negation des freien Geistes.
Mit Hegel beginnt jedoch zweifelsohne die Phase des Rechtspositivismus, die in Hans
Kelsens (1881-1973) Gedanken des reinen Gesetzes, für dessen
Bestand allein das
formal korrekte Zustandekommen im rechtstaatlichen
Legislationsverfahren entscheidend
ist, ausgeführt in seinem epochalen Hauptwerk Reine Rechtslehre aus dem Jahre
1934. Kelsen betont die Autonomie des Rechts und sieht dieses Ideal im
neutralen Gesetzesstaat verwirklicht, in dem Rechtssicherheit ohne
politische Einflussnahme, d. h. ohne außerlegislativen
Normativismus verwirklicht ist.[70]
Doch das Gebot, sich aus Gründen der Rechtssicherheit an die
verfahrenstechnisch richtig zustande gekommenen Gesetze –
inhaltsunabhängig – in jedem Fall zu halten, wird in
totalitären Regimen zum Prüfstein des
Gerechtigkeitsempfindens. Hier setzt die Überlegung Gustav Radbruchs (1878-1949) ein,
Rechtssicherheit und Gerechtigkeit zusammenzubringen, also –
tendenziös ausgedrückt – das Hauptaugenmerk des positiven
Rechts und das des Naturrechts. Er fordert, die Gesetzesbefolgung solle
nicht allein vorbehaltlich des formal korrekten Zustandekommens des
Gesetzes geschehen, sondern auch unter Berücksichtigung des mit
dem Gesetz verordneten Inhalts. Als Prinzip eines solchen
„Gerechtigkeitsvorbehalts“ führt er die Radbruchsche Formel ein, die
besagt, dass
Rechtssicherheit ein so hohes Gut ist, dass Gesetze gelten sollen, auch
wenn
deren Zweckmäßigkeit angezweifelt werden kann, es sei denn –
und
das ist die entscheidende Einschränkung –, „der Widerspruch des
positiven
Gesetzes zur Gerechtigkeit erreicht ein so unerträgliches
Maß,
dass das Gesetz als unrichtiges Recht
der Gerechtigkeit zu weichen hat“[71].
Es gibt für Radbruch also keinen Zwang, einem ungerechten Gesetz
Folge
zu leisten.
Nicht nur in der naturrechtlichen Reorientierung, die mit dem Namen
Gustav Radbruch verbunden ist, zeigte sich in der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts die Bedeutung naturrechtlicher Überlegungen.
Grundsätzlich erlebte das längst überwunden geglaubte
Naturrecht als Reaktion auf die Gewaltherrschaft des
Nationalsozialismus nach 1945 eine Renaissance, v. a. in der
neuthomistischen Soziallehre der katholischen Philosophie, zu der auch
die Theorie des Suárez, die hier Ausgangspunkt der Betrachtung
zum
Naturrecht als Vernunftrecht war, einen maßgeblichen Beitrag
leistete, vermittelt durch die Arbeiten des französischen
Neuscholastikers Jacques Maritain
(1882-1973), der die Naturrechtskonzeption suarezianischer Prägung
aufgenommen und zeitgemäß weiterentwickelt hat (Man and the State, 1951).
Auch wenn die modernen Staatsverfassungen scheinbar eine positivierte
Variante grundlegender Rechte bieten, [72] an denen sich das positive Recht zu
messen hat, bleibt das Kernproblem der Naturrechtsthematik, die
Letztbegründung der Verbindlichkeit des Rechts, auch im modernen
Rechtsdenken und der zeitgenössischen Sozialphilosophie bestehen
und wird mit der Erneuerung des Paradigmas des Gesellschaftsvertrages
bei Rawls zu erfassen versucht oder soll im prozeduralen
Gerechtigkeitsverständnis der Transzendental- (Apel) bzw.
Universalpragmatik (Habermas) aufgelöst werden. Vor allem in der
Auseinandersetzung mit den menschenverachtenden totalitären
Regimen des 20. Jahrhunderts hat sich die Bedeutung des Naturrechts
gezeigt:
Es ist zu riskant, sich allein auf menschliche Konventionen zu
verlassen.
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[1]Vgl. dazu auch das erste Kapitel („Die Abhängigkeit des Naturrechtsgedankens vom Begriff der Natur“) in Wolf (1964): S. 27 ff.
[2]Naturentdeckung und Entstehung der Philosophie fallen also zusammen. So nennt Aristoteles die ersten Philosophen „Menschen, die über die Natur reden“ und sich so von denen unterscheiden, die „über die Götter reden“ (Aristoteles (1994): V. 981b). Der φιλοσοφος unterscheidet sich vom φιλομυτος durch die differenzierende Hinterfragung des Menschen und seiner Lebenswelt, durch die „Aufspaltung jener Totalität der Phänomene“ (Strauss (1977): S. 84), die sich dem Menschen in der Welt offenbart. Der Philosoph ist nicht mehr zufrieden mit der Naturbetrachtung im Ganzen und der Schöpfung als Erklärung, der Philosoph will die Natur analysieren und im Einzelnen begreifen.
[3]Ps 7, 7.
[4]Ps 7, 9.
[5]Ps 7, 12.
[6]Ex 3, 14. Im Hebräischen geht das Tetragramm „JHWH“ auf die Verben „HWH“ („sein, werden“) und „HJH“ („geschehen, veranlassen, da sein“) zurück. Da Gegenwarts- und Zukunftsformen bei hebräischen Verben identisch sind, ergeben sich mehrere Übersetzungsmöglichkeiten. „JHWH“ lässt sich mit „Ich bin“ oder „Ich bin da“ übersetzen oder auch mit „Ich werde (da) sein“. Der ganze Ausdruck könnte dann im Sinne der Verheißung des Landes, in dem „Milch und Honig fließen“ (Ex 3, 8) und in das Gott sein Volk führen will, gelesen werden als „Ich werde der sein, der da sein wird.“, was auch mit der Zusage an Mose übereinstimmt, die der Selbstoffenbarung Gottes unmittelbar voraus geht: „Ich bin mit dir.“ (Ex. 3, 12), was angesichts der Tatsache, dass die Aufgabe des Mose ja in der Zukunft liegt nur als „Ich werde mit dir sein.“ gelesen werden kann. Andere Übersetzungsmöglichkeiten in Ex 3, 14 sind „Ich bin der, der ins Dasein setzt“, was den Schöpfergott herausstellt oder „Ich werde mich (hilfreich) erweisen“, was dem Namen Gottes eine noch stärkere soteriologische Konnotation verleiht als die ontologische Zukunftsform „Ich werde (da) sein“.
[7]Besonders, wenn sozial schwache Gruppen, die „Witwen und Waisen“ unter bestimmten Regelungen zu leiden hatten, konnte der König geltendes Recht fallweise aufheben.
[8]Sophokles (1953): V. 453 ff.
[9] Strauss (1977): S. 86.
[10]Ebd.
[11] „Ei wohl, sagte Kephalos, jedoch übergebe ich euch nun die Rede, denn ich muß jetzt für die heiligen Dinge Sorge tragen.“ (Platon (1977 [2]): V. 331d).
[12] „Und Adeimantos fiel ein: Ihr wißt wohl auch nicht einmal, daß gegen Abend noch ein Fackelzug sein wird zu Pferde, der Göttin zu Ehren? – Zu Pferde? sprach ich, das ist ja neu. Sie werden also Fackeln halten und sie einander hinreichen im Wettstreit zu Pferde? Oder wie meinst du es? – Gerade so, sprach Polemarchos, und überdies werden sie noch eine Nachtfeier veranstalten, die sehr lohnen wird zu sehen. Wir werden also nach der Mahlzeit uns aufmachen und mit vielen jungen Leuten dort zusammensein und Gespräch pflegen. Bleibt also und tut ja nicht anders. – Da sagte Glaukon: Es scheint, wir werden bleiben. – Wenn du meinst, sprach ich, müssen wir wohl so tun.“ (A. a. O.: V. 328a f.).
[13]Odysseus tötet nach seiner Rückkehr 108 Menschen, die in seiner Abwesenheit sein Vermögen aufgezehrt haben, sühnt ein deliktisches Verhalten im Bereich des Eigentums mit Mord, eine extrem unverhältnismäßig harte Strafe, die jedoch von den Göttern geduldet wird: Zeus verlangt von den Bewohnern Ithakas, den Massenmord zu vergessen. Dieser „homerische Adelsethos“ zeige, „daß die Gerechtigkeit sich als zentraler Wert der Sozialmoral erst nach und nach durchsetzt“ (Höffe (2001): S. 18).
[14]Im Bundesbuch (v. a. in Kapitel 21) werden diverse Vergehen (Körperverletzung oder Beleidigung des Vaters oder der Mutter, Menschenraub) von Gott mit der Todesstrafe belegt.
[15]Strauss (1977): S. 95
[16]Cathrein (1901): S. 139.
[17]Protagoras (Fragment B1), zit. nach Diels / Kranz (1952): S. 263.
[18]Daran orientiert – gewissermaßen als Versuch eines Kompromisses – ist das rationale Naturrecht oder Vernunftrecht, das den modernen Naturrechtsdiskurs bestimmt. Der Begriff wird in der Aufklärung geprägt und entsteht aus dem neuen Naturverständnis als der ratio humana, die – und darin liegt das „Kompromissangebot“ an die Theologie – Gott nicht ersetzt, sondern lediglich dem Gedanken nachgeht, auf welche Instanz sich das Recht stützen kann, wenn er keinen Gott gäbe, auch wenn dieser Gedanke zu Missverständnissen führte, wie die Biographie Christian Wolffs, eines der herausragenden Vernunftrechtstheoretiker, eindrucksvoll belegt.
[19]Ma’at ist die ägyptische Göttin der Rechtsprechung. Der Name bedeutet soviel wie „Wahrheit“, „Gerechtigkeit“, „Ordnung“, „Weisheit“.
[20]Dieses Bewusstsein beherrscht v. a. die Naturrechtsdiskussion des 20. Jahrhunderts, die mit dem Verweis auf totalitäre Rechtssysteme mit „ungerechten Gesetzen“ die große Problematik des Rechtspositivismus offen legt.
[21]Insbesondere jedoch beim Epikureer Lukrez, der mit seinem Gedicht Von der Natur der Dinge das „einzige für uns erreichbare authentische [...] Dokument des philosophischen Konventionalismus“ schuf (Strauss (1977): S. 115).
[22]So findet sich bei Heraklit (Fragment 102, zit. nach Snell (1965): S. 33) eine Stelle, die diese Auffassung widerspiegelt: „Vor Gott ist alles schön, gut und gerecht; aber die Menschen wähnen, das eine sei unrecht, das andere recht.“
[23]Cicero (De finibus, V. 17), zit. nach Strauss (1977): S. 97.
[24]Strauss (1977): S. 98.
[25]Hier weist Leo Strauss auf die Schwierigkeit hin, den Menschen einerseits als Wesen zu betrachten, das Gerechtigkeit unbedingt braucht, um gut leben zu können, das anderseits aber nicht von Natur aus wissen soll, was gerecht bedeutet: „Leben in Übereinstimmung mit der Gerechtigkeit erfordert aber die Kenntnis der Gerechtigkeitsprinzipien. Wenn der Mensch so geartet ist, dass er nicht oder nicht gut ohne Gerechtigkeit leben kann, dann muss er sich von Natur aus der Prinzipien der Gerechtigkeit bewusst sein.“ (Strauss (1977): S. 101).
[26]Dass es unterschiedliche Definitionen des Begriffs „Gerechtigkeit“ gibt, seien sie nun religiös, kulturell oder ideologisch motiviert, steht außer Frage, aber: „[d]ie Vielfalt der Gerechtigkeitsvorstellungen kann als Vielfalt von Irrtümern verstanden werden, die der Existenz der einen Wahrheit hinsichtlich der Gerechtigkeit nicht widerspricht, sondern sie voraussetzt.“ (Ebd.).
[27]Aristoteles (1983): V. 1134b.
[28]Vgl. Strauss (1977): S. 103.
[29]Ebd.
[30]Strauss (1977): S. 103.
[31]Platon verwendet zur Letztbegründung des Rechts den Begriff des Sittlichen, das durch die Gesetzgebung geschützt werden soll. Das Sittliche jedoch ist nichts anderes als das Gute, das in Platons Ideenwelt als göttliches Ideal vom Menschen nur dann erreicht werden kann, wenn durch die Vorherrschaft der Vernunft die Harmonie seiner Seele sicher gestellt ist bzw. – übertragen auf das Gemeinwesen – der Philosoph in der πόλις das Sagen hat und damit für Gerechtigkeit gesorgt ist.
[32]Die jüngeren Stoiker der ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderte waren mehrheitlich der Ansicht, das Naturrecht sei mit der Vernunft als solcher gegeben und bilde ein allgemeines, mit der allumfassenden Weltvernunft (κοινος λόγος) identisches, absolut gültiges, ewiges Weltgesetz (lex aeterna).
[33]Auch Aristoteles betont die passive Rolle des Menschen, wenn er sagt, dass das Naturrecht bloß „erahnt“ wird: „Es gibt nämlich – wie alle ahnen – ein von Natur aus allgemeines Recht und Unrecht – auch wo keine Gemeinschaft untereinander bzw. wo keine Übereinkunft besteht.“. Dagegen seien die Gesetze des Staates nicht ursprünglich, sondern von Menschen gemacht und gelten insofern nur, wenn sie dem ewigen ungeschriebenen Naturrecht nicht widersprechen: „Unter Gesetz aber verstehe ich teils das besondere, teils das allgemeine; und zwar ist das besondere das, was von einzelnen Menschen für sie selber festgestellt wurde, und zwar entweder schriftlich festgelegt oder ungeschrieben.“ (Aristoteles (1980): V. 1373b).
[34]Trotz aller Naturrechtsskepsis innerhalb der Diskursethik fällt auf, dass hier eine Parallele zum prozeduralen Gerechtigkeitsverständnis der Transzendental (Apel) bzw. Universalpragmatik (Habermas) besteht.
[35]Althusius’ bedeutendes Hauptwerk Politica methodice digesta („System der Politik“) erschien 1603.
[36]Reibstein (1955).
[37]Suárez hatte bereits – ähnlich wie zuvor Las Casas – gesehen, dass „alle Gewalt vom Volke ausgehen“ muss und für den Fall der Tyrannei – analog dem völkerrechtlichen Selbstverteidigungskrieg – im Staatsrecht ein Widerstandsrecht des Volkes verankert, denn eine Tyrannei sei vergleichbar einem Angriff von außen, wobei „dieser Tyrann [..] der eigentliche Angreifer [ist]“ und sich infolgedessen „das ganze Volk [...] zum Krieg wider einen solchen Tyrannen erheben [dürfe]“ (Suárez (1965): S. 204).
[38]Vgl. Strauss (1977): S. 172 ff.
[39]Gierke (1958): S. 113.
[40]Kofler (1974): S. 356.
[41]Ebd.
[42]Sein Hauptwerk heißt De jure naturae et gentium (1672).
[43]Hobbes (1991): S. 96.
[44]Andererseits verweist Welzel auf die Bedeutung Pufendorfs hinsichtlich der Entwicklung einer Menschenrechtskonzeption (1962: S. 140 ff.). Bei Pufendorf erscheine der Begriff der Menschenwürde erstmals im Zusammenhang mit der Begründung des Naturrechts: Aus der natürlichen Gleichheit folge die natürliche Freiheit des Menschen (Welzel (1958): S. 47). Wie damit allerdings das Widerstandsverbot in Einklang gebracht werden soll, bleibt fraglich, denn in Konfliktsituationen (in der Tyrannei etwa) spitzt sich das naturrechtliche Dilemma in der Frage zu, was schwerer wiegt, die natürliche Freiheit oder der in ihrem Geist geschlossene Vertrag. Darauf bleibt Pufendorf die Antwort schuldig.
[45]Hammerstein (1995): S. 176 f.
[46]Medick (1981): S. 37.
[47]Hammerstein (1995): S. 176.
[48] Pufendorf zit. nach Welzel (1931): S. 590.
[49]Leibniz (2003): S. 83 (§ 75).
[50]Ebd.
[51]Ebd.
[52]Leibniz (2003): S. 79 (§ 73).
[53]Leibniz (2003): S. 83 (§ 75).
[54]Ebd.
[55]Von Thomasius ist in diesem Zusammenhang v. a. sein 1687 erschienenes Lehrbuch des Naturrechtes, sein rechtsphilosophisches Hauptwerk Fundamenta Iuris Naturae et Gentium (1705) sowie seine naturrechtstheoretische Einlassung über Bigamie bekannt (De crimine bigamiae, 1685), die er in radikaler Naturrechtsargumentation – weit über Pufendorf hinausgehend – als zwar gesetzlich verboten, naturrechtlich jedoch erlaubt darstellt. Juristisch beachtlich ist sein Ansatz einer Humanisierung des Strafrechts – Thomasius wendet sich insbesondere gegen die Folter – und seine ablehnende Haltung dem römischen Recht gegenüber, dem er ein deutsches Privat, Feudal, Straf und Staatsrecht entgegenstellte.
[56]Buschmann (1989): S. 101.
[57]Vgl. den Artikel Naturrecht in Diderot / d’Alembert (1966 f.).
[58]Erwähnung finden sollen an dieser Stelle auch die Naturrechtsschriften Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings (17751854), v. a. seine frühe Aphorismensammlung Neue Deduktion des Naturrechts von 1795, in der er Recht als Freiheit (Dürfen) und nicht als Pflicht (Sollen) begreift. Zentral ist für Schelling erstens die Grenzenlosigkeit der Freiheit, die nur in der Freiheit anderer eine Schranke findet und zwar aus der Perspektive des Erhalts der eigenen Freiheit, die es zu schützen gilt: „Ich höre nur deswegen auf, meine Freiheit der Freiheit anderer moralischer Wesen entgegenzusetzen, damit umgekehrt diese aufhört, ihre Freiheit der meinigen entgegenzusetzen.“ (1982: § 46), und zweitens die Bedeutung der Freiheit für die Moralität: „Also ist die Freiheit nicht abhängig von der Moralität, sondern die Moralität von der Freiheit.“ (1982: § 35).Verwiesen sei im Zusammenhang mit dem idealistischen Naturrecht auch auf die Arbeiten Karl Christian Friedrich Krauses (17811832), dem in der deutschsprachigen Forschung nur eine untergeordnete Rolle zukommt, im Gegensatz zur spanischsprachigen Literatur (vgl. Dierksmeier (2004): S. 309, Anm. 1). Gleichwohl gehört Krause zur „Avantgarde des idealistischen Denkens“ (S. 309), die sich um 1800 in Jena des Naturrechtes annahm. Besonders wichtig ist Krauses Auffassung von der Unverlierbarkeit der Menschenwürde, die es gebietet, „einen Verbrecher nie anders als ein würdiges Subjekt – keinesfalls also (wie Fichte und Hegel meinen) nach den Handlungsgesetzen, die er in seinen Taten selbst aufstellt – [zu] behandeln“ (319).
[59]Kant behandelt in seiner praktischen Philosophie die „Tugendlehre“ und die „Rechtslehre“ getrennt voneinander.
[60]Jener Formel also, die Kant in seiner Grundlegung der Metaphysik der Sitten (1785) zum höchsten ethischen Prüfstein erhebt und nach der ich „niemals [soll] anders verfahren, als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden“ (Kant (1907): S. 398) bzw. „der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, [..] als Zweck an sich selbst [existiert], nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen“ (Kant (1907): S. 429), deshalb müsse er „ in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden“ (ebd.).
[61]Einmal getrennt, lassen sich die Sphären von Recht und Moral nur noch schwer zueinander bringen und es fällt schwer, dem „unmoralischen Recht“ seine Rechtfertigung abzusprechen. Andererseits ist die Rechtssicherheit gefährdet, wenn es über die moralischen Belange keinen gesellschaftlichen Konsens gibt und sich private „Moralen“ über geltendes positives Recht stellen. Ein Konflikt, den Kant sah und mit der Trennung von Recht und Moral – aber auch mit der Unterscheidung von öffentlichem und privatem Gebrauch der Vernunft – und seiner formalen Pflichtenethik zu bannen versuchte, der aber doch immer wieder aufbricht, wenn die Maxime des Handelns keiner Prüfung auf Verallgemeinerbarkeit zugeführt wird – weil sie ihr nicht würde standhalten können – und legales Handeln zu offensichtlich gegen moralisches Empfinden verstößt, Legalität gegen Moralität steht, partikulare Rechtsbefolgung gegen universell verstandene Verantwortlichkeit. Wenn trotz Gesetzestreue der Eindruck eines Wertevakuums entsteht, die Ausdeutung und Ausgestaltung der schmerzlich vermissten Werte jedoch zugleich umstritten ist, bleibt letztlich unklar, wie sich Recht und Moral im Sinne korrespondierender Leitlinien richtigen Handelns bedingen sollen, so dass diesem Einklang alle Betroffenen werden zustimmen können.
[62]Dierksmeier (2004): S. 309.
[63]Sein (Natur)Rechtskonzept legt er in Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Rechtswissenschaft im Grundrisse von 1821 dar.
[64]Hegel (1970 [2]): S. 248.
[65]Hegel (1970 [2]): S. 249.
[66]Hegel (1970 [1]): S. 311 f.
[67]Ebd.
[68]Hegel (1986): S. 35.
[69]Ebd. Gemeint sind die Gaius’ Institutiones und die Digesten (Pandekten) des Corpus Iuris Civilis.
[70]Vgl. Kelsen (1960).
[71]Radbruch (1973): S. 345. Nachdem Gustav Radbruch in der 3. Auflage seines Lehrbuch der Rechtsphilosophie 1932 noch ganz im Sinne der kantischen Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Vernunftgebrauch unterschied („Wir verachten den Pfarrer, der gegen seine Überzeugung predigt, aber wir verehren den Richter, der sich durch sein widerstrebendes Rechtsgefühl in seiner Gesetzestreue nicht beirren lässt.“, S. 32), erfährt sein rechtsphilosophisches Denken unter dem Eindruck des Unrechts der nationalsozialistischen Diktatur und des Versagens der gleichgeschalteten Justiz eine grundlegende Wendung. Die Radbruchsche Formel entstand gleich nach dem Krieg im Jahre 1946.
[72] So wie das deutsche Grundgesetz sich ausdrücklich auf überpositive Begriffe wie die „Würde des Menschen“ bezieht („Die Würde des Menschen ist unantastbar.“, Art 1 Abs. 1 GG). Ausdruck dessen ist aber auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, welche die Vereinten Nationen am 10.12.1948 beschlossen haben.
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WOLF, E.: Das Problem der Naturrechtslehre. Versuch einer Orientierung. Karlsruhe 1964.
Zum Autor:
Josef Bordat, geb. 1972, Studium des Wirtschaftsingenieurwesens (Dipl.-Ing.), der Soziologie und Philosophie (M.A.) in Berlin. Promotion zum Dr. phil. Derzeit tätig als freier Publizist.
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