theologie.geschichte - Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte

Diskussionspapier:

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Claus-Ekkehard Bärsch

Die Erlösung vom Bösen im „Reich, das kommt“ durch das „Instrument jenes göttlichen Willens, der die Geschichte gestaltet“ in der politischen Religion des Joseph Goebbels


„Die Gedanken gehen der Tat voraus, wie der Blitz dem Donner“

Heinrich Heine


I.    Einleitung
Fast jeder Mensch ist potentiell sowohl ein „zoon politikon“ als auch ein „homo religiosus“. Leider können viele der Versuchung nicht widerstehen, sich und die Ihren schon in dieser Welt erlösen zu wollen, wie am Beispiel des Dr. phil. Joseph Goebbels demonstriert werden soll.

Zunächst ist zu klären, was mit dem Topos „Politische Religion“ bezeichnet wird. Die für die Vertreter der politikwissenschaftlichen Zunft unangenehmste und schwierigste Frage ist die des Verständnisses, des Begriffes oder gar der Definition der Religion. Weil die Anzahl der Definitionen sehr groß ist[1], ist hier nicht der Begriff, sondern nur der Topos Religion hinreichend zu bestimmen. Das wesentliche Merkmal des neuzeitlichen Verständnisses von Religion[2] sei vorerst der Glaube, wobei der Gegenstand des Glaubens in der Unterscheidung von „Jenseits“ und „Diesseits“ als transzendent erfahren wird. Eine Religion muss nicht die systematische Anordnung von Dogmata enthalten. Ferner möchte ich daran erinnern, dass durch die Verwendung des Adjektivs „politisch“ der Inhalt und Umfang des Substantivs Religion begrenzt bzw. spezifiziert wird. Die politische Religion der Nationalsozialisten und die christliche Religion sind also nicht ein und dasselbe. Den Topos „Politische Religion“, der bekanntlich durch Eric Voegelins Untersuchung über die „Die politischen Religionen“ aus dem Jahre 1938[3] bekannt wurde, bestimme ich wie folgt. Einer Religion kommt auf jeden Fall – andere Möglichkeiten dürfen selbstverständlich nicht ausgeschlossen werden – dann das Prädikat politisch zu, wenn

  1. an überirdische Mächte sowie an die Existenz einer jenseitigen Welt geglaubt wird.

  2. der Glaube vorrangig oder gleichrangig auf das Heil und die Erlösung in der diesseitigen Welt gerichtet ist.

  3. von den sich entscheidenden und handelnden Menschen geglaubt wird, in der politischen Ordnung und durch die Qualität der politischen Ordnung könnten Heil und     Erlösung erreicht werden.

  4. der spezifische Glaube an heilige und überirdische Mächte für das Bewusstsein von Mensch, Gesellschaft und Geschichte maßgebend ist und dafür ausschlaggebend, wie die Ordnung der Gesellschaft und ihre Institutionen wahrgenommen, begriffen, bestimmt und gerechtfertigt werden.


Methodisch folge ich zunächst Max Weber, der vom Verhalten der Menschen ausgeht. Ein Verhalten soll nach Max Weber Handeln heißen, „wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden.“ [4] Der Gegenstand des Erkenntnisinteresses ist nicht der Propagandaminister, sondern der junge Goebbels vor dem Eintritt in die NSDAP (1925) und nach der Ernennung zum Gauleiter von Berlin (1927). Zitiert wird aus den Büchern „Die zweite Revolution“ [5], „Wege ins Dritte Reich“ [6] und dem Roman „Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern“ [7]. Dass Goebbels kein machiavellistischer Opportunist war, kann auf der Grundlage der von Elke Fröhlich verdienstvoller Weise herausgegebenen Tagebücher vom 17.10.1923 bis zum Frühjahr 1924 bewiesen werden. [8] Für Goebbels waren seine Tagebücher ein „lieber Gewissensarzt[9] und „sorgsamer Beichtvater“ [10], was an vielen Stellen belegt werden kann. Hierzu nur dies:

  „Mutter ist gut zu mir. Ich verdanke ihr fast alles was ich bin. Else ist meine junge Mutter und Geliebte.“ [11]

Elses Mutter war Jüdin, was Goebbels wusste und quälte. Die sowohl gefühlsbetonte als auch sexuelle Beziehung zwischen ihm und Else Janke dauerte vom Frühjahr 1923 bis zum Spätherbst 1926, also bis nach dem Eintritt in die NSDAP. Im August 1924, also vor dem Eintritt in die NSDAP äußerte Goebbels sich in zwei Sätzen ungeniert über den Eros, den Phallus, das Opfer und die Unsterblichkeit der Seele.

„Mein Eros ist krank. Für den Phallus opfert man Hekatomben von unsterblichen Seelen“ [12]

Am meisten notierte Goebbels die Stimmung der Verzweiflung.[13]  Aus der folgenden Assoziation könnte der Zusammenhang von Psyche, Religion und Politik Schritt für Schritt rekonstruiert und dekonstruiert werden:

„Hirn und Herz sind mir wie ausgetrocknet um mich und mein Vaterland …Verzweiflung. Hilf mir großer Gott. Ich bin am Ende meiner Kraft.“[14]

Indes soll in den folgenden Ausführungen bewiesen werden, dass seine Aussagen unter den Topos "Politische Religion zu subsumieren sind. Zum nationalsozialistischen Glaubensbekenntnis über den Zusammenhang zwischen Rassismus und Religion fühtr uns das Parteiprogramm der NSDAP, das für immer "unabänderlich"[15] gelten sollte. Ziffer 24 lautet:

„Wir fordern die Freiheit aller religiösen Bekenntnisse im Staat, soweit sie nicht  dessen Bestand gefährden oder gegen das Sittlichkeits- und Moralgefühl der  germanischen Rasse verstoßen. Die Partei als solche vertritt den Standpunkt eines  positiven Christentums, ohne sich konfessionell an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden. Sie bekämpft den jüdisch-materialistischen Geist in und außer uns.“ [16]

Für Goebbels war Jesus Christus kein Jude[17] ebenso wie für Richard Wagner[18], für dessen Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain[19], Wegbereiter des religiösen Rassismus[20], für Alfred Rosenberg[21] und vor allem für Adolf Hitler[22]. Auch auf Hitlers positives Christusbild ist hinzuweisen.[23]

Der Aufsatz ist nunmehr in folgende Teile gegliedert:

 
    II.  Religiosität und Politik vor dem Eintritt in die NSDAP

     III.  Politik und Religion nach dem Eintritt in die NSDAP Anfang 1925

     IV.  Zusammenfassung und Schlussbemerkungen zum aktuellen Antijudaismus.


II.    Religiosität und Politik vor dem Eintritt in die NSDAP (1925)
Auffallend beim jungen Goebbels ist das Gefühl der Verzweiflung, der Leere und des Zusammenbruchs, die Klage über Not und Chaos, die Sehnsucht nach Erlösung, nach Heil und Kraft, nach einem neuen Menschen, einer neuen Welt, einem neuen Reich, dem Urchristentum, Gott, Christus und einem Führer. Hervorzuheben ist auch die Notwendigkeit des Selbstopferns zur Überwindung des Bösen und der Kampf gegen das Böse in der Gestalt des Judentums. Zwischen Gott und Satan kreist sein Denken.

Goebbels hat dem am 17.10.1923 begonnenen Tagebuch ein griechisch geschriebenes Motto vorangestellt, welches folgendermaßen frei übersetzt werden kann: „Der Mensch, der nicht gehärtet wird, wird nicht erzogen“. Dieser Spruch steht unter dem Titel von Goethes Dichtung und Wahrheit, worauf Goebbels nicht hinweist. Goebbels war nicht, wie Goethe und den Nationalsozialisten nachgesagt wird, ein Heide. Bezug nehmend auf „Goethes Heidentum“, das Goebbels als „eine konsequente Fortsetzung des Protestantismus“ beurteilt, und auf die Romantik, von der er behauptet, diese sei „katholisch“ notiert er:

    „Gott ist unendlich in seiner Stärke und Allmacht. Sind wir ein Stück dieser Unendlichkeit, dann sind wir unendlich wie er;
denn ein Stück Unendlichkeit ist die Unendlichkeit ganz.“ [24]

Ohne Zweifel ist das, was Goebbels notierte, milde gesagt, eine häretische Deutung der christlichen Religion. Auffällig sind einerseits die Teilhabe des Menschen an Gott, andererseits die von Goebbels zur Charakterisierung Gottes bevorzugten Attribute „Stärke“ und „Allmacht“. Aus psychologischer Perspektive ist auf den inneren Widerspruch der folgenden zwei Sätze hinzuweisen:

Wenn der Segen des Geistes über mich kommt, beuge ich mich in Demut und schweige still.
Je größer und stärker ich Gott mache, desto größer und stärker bin ich selbst.“ [25]

Ist es Demut, wenn Goebbels, ausgehend von Gott als Geist, sich ein Bild von Gott schafft, damit er größer und stärker werden kann? Die narzisstische Sehnsucht nach Macht bzw. Allmacht ist eine zentrale Disposition seiner Psyche. Mit seiner Wahrnehmung von sich und Gott kennzeichnet er auch seine Auffassung von der größten Gegenmacht – dem Bösen:

    In schweren Stunden mag man wohl verzweifeln …. Die Kraft steckt in den Adern, und das Leben pulst nicht mehr stark durchs Herz. Arm ist der Glaube und karg die Hoffnung. Wir sehen keine Sterne mehr. Dunkelheit. Das Böse hat seine Macht angetreten, das Helle, Lichte ist verschwunden. Mephisto siegte. Wir sind am Ende unserer Kraft.“ [26]

Goebbels bleibt nicht allgemein, er ist überzeugt, dass das Böse sich sogar einer christlichen Partei bemächtigt habe:

    In London: Man verhandelt Europa. Die deutschen Schweinehunde mit. Das Zentrum ist eine Einrichtung des Satans. So etwas raffiniertes kann nur die Macht des Bösen aushecken. Man kommt nicht dagegen an. … Die Weltgeschichte von heute ist ein Witz aus Blut, Tränen und Hohn.“ [27]

Goebbels nimmt also die Politik der Gegenwart als Krise und diese als Triumph des Bösen wahr. Um die psychische Disposition seines politisch-religiösen Bewusstseins einschätzen zu können, ist folgende Tagebucheintragung von Interesse:

    „Alles was ich beginne, geht schief. … Nichts erwartet mich, keine Freude, kein Schmerz, keine Pflicht, keine Aufgabe. Meinem Leben fehlt die Konzentration und die Sammlung. Ich irre und schwärme durch das Universum umher. … Wie so oft frage  ich mich heute wieder: Was soll ich tun? Was beginnen? Ewiger Zweifel. Ewige Frage. Wie ausgetrocknet ist mein Geist. Irgendetwas hat mich kaltgestellt. Zu brennen und nicht anzünden zu können! Das Geld, das ich nicht habe, drückt mich nieder. Armseliges Leben, das sich nach dem verdammten Geld richten muss. Fluch und Verderben über mich. Ich habe mich gegen die bestehende Ordnung empört. Nun trage ich die Folgen. Erlösung! Ich stürze von Fall zu Fall und von Schuld zu Schuld in den Abgrund. Unseliges Verhängnis.“ [28]

Goebbels schildert seine Verzweiflung intensiv, ausführlich und wortreich („ewiger Zweifel“; „keine Freude, kein Schmerz“; „Was soll ich tun?“ „Wie ausgetrocknet ist mein Geist. Irgendetwas hat mich kaltgestellt“; „Ich stürze von Schuld zu Schuld“) und sehnt sich nach „Erlösung“; was hier nicht analysiert zu werden braucht. Ohne Zweifel ist zu erkennen, dass die Verzweiflung über die politisch-religiöse Lage mit der Wahrnehmung der Verzweiflung über sich selbst korreliert. Goebbels beschreibt sich selbst für die Zukunft nicht aus der Sicht des Herrenmenschen. Aber die Verzweiflung hält er nicht aus:

    „Nochmal in aller Verzweiflung: Weltgeschichte wird in Jahrhunderten und nicht in Tagen gemacht. Das Herz krampft sich zusammen bei dem Gedanken, daß wir nun ein geknechtetes Sklavenvolk sind und ausländischen Juden für Ewigkeit Zins zahlen sollen. Aber die Not muss noch größer werden, damit sie heilend und fördernd wirken kann. Wir müssen durch die aspera zu den astra. Flugkraft in goldene Ferne. Wir müssen unsere Ziele umso höher stecken, je tiefer das heutige Deutschland in Schmach versinkt. Und dann den heiligen Glauben an unsere Zukunft neu in uns aufstehen lassen.“ [29]

Die Verzweiflung ist also die Not wendende Bedingung dafür, dass der „heilige Glaube“ an die „Zukunft“ entsteht; nicht etwa nur außerhalb, sondern „in uns“, also nicht nur „in“ ihm. Goebbels nennt weiterhin eine Bedingung, die „heilend und fördernd“ wirke, um Deutschlands Zukunft herbeiführen zu können. Die Deutschen (wir) müssen durch raue Wege („aspera“), um aus dem Dunkeln zum Licht der Sterne („astra“) zu gelangen. In Erinnerung an seine Arbeit bei der Dresdener Bank vom Januar bis zum August 1923 hat er die Bedeutung der Negation als Bedingung des Fortschritts griffiger formuliert:

    „Zurück nach Cöln. Verzweiflung, Selbstmordgedanken. Die politische Lage. Chaos in Deutschland. … Meine unhaltbare Stellung bei der Bank. Die Inflation. Tolle Zeiten. Der Dollar klettert wie ein Jongleur. Bei mir heimliche Freude. Ja, das Chaos muss kommen, wenn es besser werden soll.
Der Kommunismus. Judentum. Ich bin deutscher Kommunist.“ [30]

Festzuhalten ist, dass Goebbels bei aller Verzweiflung glaubt, die Bedingungen zu kennen, die erfüllt sein müssen, um das Ziel einer besseren Zukunft erreichen zu können: Not, Chaos, Zusammenbruch, ökonomische Krisen. Der religiöse Gehalt dieses Katastrophenbewussstseins muss mit einem längeren Zitat aus dem Tagebuch vom 27.6.1924 bis zum 9.6.1925 belegt werden. Dem Tagebuch ist ein Motto vorangestellt, welches einen wesentlichen Komplex der Religion, nämlich den Zusammenhang zwischen dem Heiligen und der Gewalt, dem Selbst- und dem Fremdopfer betrifft. Es lautet:

    „Wir müssen opfern. Die Arbeit im Geiste ist das größte Opfer.“ [31]

Auf dem Weg aus Not und Chaos empor zu einer besseren Zukunft muss also geopfert werden, worauf zurückzukommen ist. Gleich am Anfang steht ein spezifisches Glaubensbekenntnis:

    „Möge dieses Buch dazu beitragen, daß ich klarer werde im Geiste, einfacherer im Denken, größer in der Liebe, vertrauender in der Hoffnung, glühender im Glauben und bescheidener im Reden! Franz Herwig. ‚St. Sebastian vom Wedding’. Eine Christusnovelle. Ich musste viel an Jakob Wassermanns ‚Christian Wahnschaffe’ denken. Aber dieser St. Sebastian ist doch reiner, überzeugender, mit einem Wort, christlicher. Es geht etwas vom wahren Geist des Katholizismus durch dieses Büchlein. So etwas Franz von Assisi. Wie weit ist die offizielle Kirche doch von diesem Geiste fern! All diese Bücher aus dem Geiste des Urchristentums, das ist ja nichts anderes als Ausfluss einer starken Sehnsucht nach dem Geiste Christi. Hauptmann, ‚Der Narr in Christo’. Vorläufig noch das erste Buch in deutscher Sprache aus diesem Gedanken. Aber wie weit steht der ‚Narr’ noch hinter Dostojewskis ‚Idiot’! Russland wird den neuen Christusglauben mit all der jungen Inbrunst und all dem kindlichen Glauben, all dem religiösen Schmerze und Fanatismus finden. …Wir haben heute einen neuen Menschen, wenigstens den Anfang davon. Die menschliche Gesellschaft ist dieselbe alte geblieben. Es wird nicht eher Ruhe in Europa sein, bis diese Form der  menschlichen Gesellschaft gebrochen ist. Das neue Geschlecht wird sich selbst eine neue, ihm gemäße Form geben. Man kann den Gang der Geschichte nicht zurückhalten. Der neue Mensch hat immer und überall nur eine Sehnsucht: nach einer neuen Welt.“ [32]

Dass die bisherige „Form der menschlichen Gesellschaft gebrochen“ werden muss, verknüpft Goebbels mit dem „neuen Menschen“ und dessen „Sehnsucht nach einer neuen Welt“ und diese Sehnsucht mit der „starken Sehnsucht nach dem Geiste Christi“. Dabei distanziert er sich von der „offiziellen Kirche“, der er vorwirft, sich vom „wahren Geist des Katholizismus“ entfernt zu haben. Dass Goebbels annimmt, der „neue Christusglaube“ würde im Jahre 1924 ausgerechnet im atheistischen Russland gefunden werden, spricht für die Stärke seines Glaubens. Aber wieso der Bezug zu Dostojewski? Schon 1921 hatte er in seiner Dissertation ein Motto aus Dostojewskis Roman, Die Dämonen, vorangestellt. Goebbels zitiert hier aus dem Monolog des Panslawisten Schatoff, wonach

    „Vernunft und Wissenschaft im Leben der Völker stets, sowohl jetzt wie von jeher seit dem Anfang aller Geschichte, nur eine dienende Aufgabe, eine Aufgabe zweiten Ranges erfüllt haben!“ [33]

Bemerkenswert ist der Kontext dieses Monologs. Denn hier ist das „russische Volk das Gottesträgervolk“, welches die Aufgabe habe, die Welt im Namen eines neuen Gottes zu „erneuern“ und zu „erlösen“. [34] Der Germanist und spätere Propagandaminister wurde mithin vom Panslawisten Dostojewski beeinflusst.

Mit der Spekulation, es gäbe ein Urchristentum, wird meist die These vertreten, Paulus habe das Urchristentum verfälscht. So auch Goebbels am 1.2.1924:

    „Ich glaube, Paulus hat eine böse Art gesät.“ [35]

Der Stellvertreter des Führers in weltanschaulichen Fragen, Alfred Rosenberg, glaubt, dass die Tradition des „Urchristentums“ [36] nicht fortgesetzt wurde, dafür sei „die paulinische Verfälschung der großen Gestalt Jesu“ [37] und die „Juden“ [38] verantwortlich:

    „Unsere paulinischen Kirchen sind somit im Wesentlichen nicht christlich, sondern ein Erzeugnis der jüdisch-syrischen Apostelbestrebungen.“ [39]

Das vor und nach dem Weltkrieg verbreitete Vorurteil, es gäbe ein Urchristentum, das außerhalb der und im Gegensatz zu den Texten der christlichen Bibel existiert und welches dann verfälscht worden sei, teilt auch Adolf Hitler.

    „Christus war ein Arier. Aber Paulus hat seine Lehre benutzt, die Unterwelt zu mobilisieren und einen Vorbolschewismus zu organisieren.“ [40]

Das legt nahe, dass die Überzeugung des jungen Goebbels, obwohl noch nicht Mitglied der NSDAP, repräsentativ für die nationalsozialistische Weltanschauung und nicht etwa die private Meinung eines arbeitslosen Literaten aus der niederrheinischen Provinz ist. Die Verbindung zwischen der Sehnsucht nach dem neuen Menschen, einer neuen Welt und dem Urchristentum kann mit einer merkwürdig erscheinenden Eintragung vom 27.6.1924 verständlicher gemacht werden. Nachdem Goebbels geschrieben hatte:

    „Else ist sommerlich gut zu mir. Ich möchte mit ihr eine Hochzeitsreise machen, mit viel Geld, viel Liebe, ohne Sorgen, hinunter nach Italien und Griechenland!“

Danach fährt er fort:

    „Ich las heute Morgen R. Wagner ‚die Kunst des Dirigierens’. Für einen Musiker eine Fundgrube von Dirigentenfeinheiten. Lektüre. Maximilian Harden (alias Isidor Witkowski) ‚Prozesse’: (Köpfe. 3. Teil). Was ist dieser verdammte Jude für ein heuchlerischer Schweinehund. Lumpen, Schufte, Verräter. Die saugen uns das Blut aus den Adern. Vampire! Ich sitze in der neu installierten Laube und freue mich des schönen Sommertages. Sonnenschein! Laue schöne Luft! Blumengeruch! Wie schön ist die Welt!!“ [41]

Verwirrend ist der Sprung von der Hochzeitsreise mit Else (nach jüdischem Recht wegen der Mutter Jüdin, gemäß dem rassischen Vokabular der Nazis „Halbjüdin“) zu dem traditionellen antisemitischen Vorurteil, die Juden seien Vampire. Ist es nicht ein Widerspruch, einerseits mit einer Jüdin eine Hochzeitsreise machen zu wollen, andererseits alle Juden als Vampire zu charakterisieren? Abgesehen von der Möglichkeit der Bewusstseinsspaltung ist noch eine andere Erklärung denkbar: Religiöse Wahrnehmungsmuster sind für Goebbels (nur für Goebbels?) stärker als die Liebe – zumal wenn man an die Macht des Bösen glaubt:

    „Das Gold ist die Kraft des Bösen und der Jude sein Trabant. Arier, Semit, positiv, negativ, aufbauend, niederreißend. Der Jude hat seine schicksalhafte Mission, die kranke arische Rasse wieder zu sich selbst zu bringen. Unser Heil oder unser Verderben, das hängt von uns ab.“ [42]

Das Böse mag banal sein. Der Glaube an die Macht des Bösen ist es nicht. Vor allem dann nicht, wenn gleichzeitig an Sieg und Heil geglaubt wird:

    „Ich suche das neue Reich und den neuen Menschen. Die finde ich nur im Glauben. Der Glaube an die Mission in uns führt uns zum rechten Sieg! Heil!“ [43]

Goebbels glaubt, durch die Verknüpfung von Religion und Volk „Untergrund“ und „Boden“ (d.h. Halt) finden zu können:

    „Die völkische Frage verknüpft sich in mir mit allen Fragen des Geistes und der Religion. Ich fange an, völkisch zu denken. Das hat nichts mit Politik und Religion zu tun. Das ist Weltanschauung. Ich fange an, Untergrund zu finden, Boden, auf dem  man stehen kann.“ [44]

Ein wesentliches Merkmal seiner prä-nationalsozialistischen Weltanschauung ist die Sehnsucht nach einem Retter:

    „Deutschland sehnt sich nach dem Einen, dem Mann, wie die Erde im Sommer nach Regen. Uns rettet nur noch letzte Sammlung der Kraft, Begeisterung und restlose Hingabe. Das sind alles ja Wunderdinge. Aber, kann uns nicht nur noch ein Wunder retten? Herr, zeige dem deutschen Volk ein Wunder! Ein Wunder!! Einen Mann!!! Bismarck, sta up! Hirn und Herz sind mir ausgetrocknet vor Verzweiflung um mich und mein Vaterland.“ [45]


Der religiöse Gehalt der Aussagen über Politik (Vaterland, deutsches Volk, jüdisches Volk, Parteien, Ökonomie) und Geschichte ist dahingehend zusammenzufassen:

  1. Der Glaube an Gott und Christus.

  2. Die Sehnsucht nach Erlösung und der Wille zur Selbsterlösung.

  3. Die Sehnsucht nach einem neuen Menschen und einem neuen Reich.

  4. Der Wunsch nach Sieg und Heil.

  5. Der Glaube an die „Macht des Bösen“. Die Überzeugung „der Jude“ sei „Trabant“  des Bösen.

  6. Die Wahrnehmung der Gegenwart als Zeit des Zusammenbruchs, der Not und des Elends.

  7. Zusammenbruch, Not und Elend sind die Bedingungen der Wende und damit der zukünftigen Erlösung im „neuen Reich“.

  8. Die unbestimmte Sehnsucht nach einem Retter, dem „Einen“ und damit einem Führer.

  9.  Die magische Dimension seiner Religiosität (die Sehnsucht nach dem „Wunder“[46]).


III.    Politik und Religion nach dem Eintritt in die NSDAP Anfang 1925.
Das zukünftige „Dritte Reich“, der Wille zu „Selbsterlösung“, der Glaube an das Charisma Adolf Hitlers, die für Goebbels typische Affirmation des Religiösen, die Bestimmung der Identität des deutschen und jüdischen Volkes, die Aufforderung zum Selbstopfer und der Wille zum Genozid sollen so kurz wie möglich dargestellt werden.

Zu beginnen ist mit der alle Menschen bewegenden Frage „Wohin gehen wir“, also dem Verhältnis von Gegenwart und Zukunft, dem – „Dritten Reich“.

Auf die Einteilung der Geschichte in drei Epochen in den Schriften des Joachim von Fiore (1135-1202) [47] und die daran anschließende Tradition in der Geschichtstheologie bzw. Geschichtsteleologie ist hier nur hinzuweisen. [48] Vor dem ersten Weltkrieg ist der Topos drittes Reich bzw. Drittes Reich nur an abgelegenen Stellen zu finden. Die erste Verwendung habe ich in einem Drama („Kaiser und Galiläer“) Henrik Ibsens gefunden. [49] Martin Wust und Gerhard Mutius gebraucht den Begriff drittes Reich als Buchtitel im Sine eines liberalen Pazifismus. [50]. Ernst Bloch meint, dass das „Dritte Reich“ Joachims schon „in der Sowjetunion anfängt zu beginnen und von der Finsternis nicht begriffen oder auch wohl begriffen und verleumdet wird.“ [51] Nach Rudolf Bahro ist das „Dritte Reich“ Joachims das „Pfingstreich aus dem Prinzip einer mystischen Demokratie“. [52] 1899 beginnt die Besetzung des Begriffs durch Vorläufer der nationalsozialistischen Weltanschauung mit dem von Johannes Schlaf (1866-1941) verfassten Roman „Das dritte Reich“ [53]  Der Held liest sowohl gnostische als auch apokalyptische Schriften und nimmt sich das Leben. Das tat Johannes Schlaf nicht, und er erlebte, geehrt von den Nationalsozialisten, den „Wiederaufstieg des Vaterlandes“. [54] Im Roman „Wiltfeber. Der ewige Deutsche“ von Hermann Burte (1879-1960), Kleist-Preisträger des Jahres 1912, ist eine völkisch-rassische Argumentation mit magisch-religiösen Implikationen festzustellen. [55] 1923 erschien in Berlin die erste Auflage des Buches „Das dritte Reich“ von Arthur Moeller van den Bruck (1876-1925), Vertreter der so genannten „Jungkonservativen“, wodurch der Topos das „dritte Reich“ einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde. Aber es war nicht Moeller van den Bruck, sondern der Dichter und erste „Hauptschriftleiter“ des „Völkischen Beobachters“, Dietrich Eckart, Duzfreund Adolf Hitlers, der den Topos „drittes Reich“ schon 1919 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Auf gut Deutsch. Wochenzeitschrift für Ordnung und Recht“ in das Vokabular der Nationalsozialisten einführte. Dietrich Eckart (1866-1923) ist nicht nur von Interesse, weil aus seinem Leben und Werk der Übergang vom Wilhelminismus zum Nationalsozialismus nachgewiesen werden kann, sondern auch wegen der von ihm geschätzten Form der Religiosität – nämlich der Mystik. Dietrich Eckart verehrte den zum Katholizismus übergetretenen Mystiker Johannes Scheffler, genannt Angelus Silesius, (1624-1672).


Mit zwei Versen soll die deutsche Mystik Dietrich Eckarts belegt werden:

    „Bedenke jederzeit, die Welt ist nur ein Nichts.
    Ein Traumgebilde bloß des inneren Gesichts.
    Wer aber sieht so falsch? Du kannst nur sagen: Ich.
    Erwache! Und Du fühlst zum Gott geworden Dich.“ [56]


Das Motiv „Erwache“ verwendet Dietrich Eckart später für den Schluss des Sturmliedes „Sturm, Sturm, Sturm“ der SA:

    „Wehe dem Volk, das heute noch träumt. Deutschland erwache!“ [57]

In seiner Mystik („Gott im Menschen“) werden auch der Sohn Gottes und der Heilige Geist beschworen:

    „Verstrickt im Wahn der Welt bist Du Gott Sohn zumeist,
    willst Du Dich draus entwirren versuch’s Dein Heiliger Geist.
    Wenn’s Dir gelingt, durchschaut in Dir Gott Vater sich –
    Hält die Dreieinigkeit nicht jedem Zweifel Stich?!“ [58]


In den Wirren nach dem Ende des ersten Weltkriegs wird die Trinität politisch-historisch transformiert. In dem Aufsatz „Luther und der Zins“, in dem die Weltwirtschaft und die politische Lage in Deutschland behandelt werden, kommt in dem letzten Absatz das „dritte Reich“ vor:

    „Zeichen und Wunder geschehen, aus der Sintflut wird sich eine neue Welt gebären,  jene Pharisäer aber greinen um elenden Notgroschen! Die Befreiung der Menschheit vom Fluch des Goldes steht vor der Türe! Nur darum unser Zusammenbruch, nur  darum unser Golgatha! Heil ist uns Deutschen widerfahren, nicht Jammer und Not, so arg wir es auch jetzt noch empfinden. Nirgends auf Erden ein Volk, das fähiger,gründlicher wäre, das dritte Reich zu erfüllen, denn unseres! Veni Creator spiritus!“ [59]

Im Widerspruch zur offiziellen Dogmatik aller christlichen Kirchen überträgt der Katholik Dietrich Eckart das Selbstopfer Christi („Golgatha“) und das schöpferische Wirken des Heiligen Geistes („Creator spiritus“) auf das deutsche Volk – und zwar nur auf das deutsche Volk.

Goebbels wurde nach dem Eintritt in die NSDAP sehr schnell mit der Rede „Lenin oder Hitler?“, die er über hundert Mal in ganz Deutschland gehalten hatte, in der NSDAP berühmt. Lenins Taten faszinierten ihn schon 1923. [60] Am 24.1.1924, also vor dem Eintritt in die NSDAP, notierte er:

    „Lenin ist am 21.1. gestorben. Der größte Geist des kommunistischen Gedankens. Den ersetzt ihr nicht. Der führende Kopf Europas. Vielleicht wird er später mal ein Sagenheld.“ [61]

Anders als in der Zeit vor dem Eintritt in die NSDAP, sprach Goebbels nicht mehr nur vom neuen Reich, sondern bezeichnete den zukünftigen Status, in dem das deutsche Volk leben wird, als Drittes Reich:

    „Wir wollen den deutschen Gedanken in eine neue Form prägen, in die Form des Dritten Reiches. Dieses Dritte Reich wollen wir mit der letzten Inbrunst unseres     Herzens das Dritte Reich eines Großdeutschland; das Dritte Reich einer sozialistischen Schicksalsgemeinschaft.“ [62]

Goebbels erklärt, unter welchen Bedingungen der zukünftige Status des Dritten Reiches erreicht werden kann:

    „Erst wenn 60 Millionen mit der letzten Inbrunst ihres Herzens frei werden wollen, dann wird das Weltenschicksal, dann wird der Gott der Geschichte seinen Segen geben. … Der Sozialismus kann und wird nicht die Welt erlösen. Die Welt wird nie erlöst werden. Er wird ein Volk, vielleicht die Völker erlösen; er ist die Staatslehre der Zukunft der Nation. … Wir sind Willen zur Zukunft. Wir wollen durch Deutschland die Welt erlösen und nicht durch die Welt Deutschland erlösen.“ [63]

Der Wille, Weltgeschichte zu gestalten, wird noch mit weiteren Dimensionen verstärkt, die die Jugend, die Erfahrung und die Mission umfassen:

    „Diese Jungen sind wir. Getrieben von einem Willen zur Mission. Getrieben von der Notwendigkeit zu handeln. Geformt von der Aufgabe, die die Weltgeschichte uns auferlegt hat. Diese Jungen bauen an Deutschland und der Zukunft. Sie lachen über diese weise Erfahrung und neunmalkluge Besserwisserei der Weisen und Alten. Das, was wir wollen, ist größer als Erfahrung und Wissen. So tritt das nationalsozialistische junge Deutschland auf den Plan.“ [64]

Die Sehnsucht nach und der Wille zur Erlösung sind der Angelpunkt, um den sich Goebbels Weltanschauung dreht. Der vom parteioffiziellen Verlag Frz. Eher Nachf.1927 publizierten Schrift, „Wege ins Dritte Reich. Briefe und Aufsätze für Zeitgenossen“, hat Goebbels Aphorismen vorangestellt. Eine lautet:

    „Nur wer sich selbst erlöst, kann andere erlösen.“ [65]

Anstelle weiterer Zitate verweise ich auf die Textstellen im ebenso von Frz. Eher Nachf. Verlag publizierten Roman „Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern“ [66]. Auf dem Buchdeckel wird der Punkt über dem „i“ des Protagonisten Michael, der sich zum Nationalsozialisten entwickelt, durch ein Kreuz ersetzt. Aufschlussreich im Hinblick auf die Erlösung im „Reich das kommt“ ist eine längere Passage aus der Schrift die „Zweite Revolution“ mit dem Titel „Denker oder Prediger“; gerichtet an einen schwäbischen Parteifreund:

    „Stehen Sie auf und predigen Sie! Werfen sie die Blässe des Gedankens über Bord, sie erzieht keine Narren, sie fordert keine Helden. Wir werden erst dann ans Ziel gelangen, wenn wir Mut genug haben, lachend zu zerstören, zu zertrümmern, was uns einst heilig war als Tradition, als Erziehung, als Freundschaft und menschliche Liebe. Zum Prediger gehört, daß er sich selbst nichts ist und die anderen ihm alles. Lernen wir das! Dann stehen wir turmhoch über dem Geifer der um uns spritzt. Dann werden wir Helden, werden wir Erlöser sein. …Dann müssen wir so sein wie wir sind.     Dann müssen wir leiden, damit das Lachen nicht auf Ewigkeit aus Deutschland verschwindet. Dann müssen wir kämpfen, damit wir Ruhe finden vor dem Dämon, der uns peitscht und vorwärts treibt. Dann müssen wir überwinden daß wir  unüberwindlich werden. Dann erfüllt sich an uns das Geheimnis der Geschichte: daßwir ein Stück Erlösung sind für ein Reich, das kommt.“ [67]

Der Kausalzusammenhang zwischen der Selbsterlösung im zukünftigen Verlauf der Geschichte und der endgültigen Erlösung im künftigen Reich ist eindeutig. Hier ist an eine von Goebbels genannte Prämisse anzuschließen. Goebbels meint es sei notwendig, „unüberwindlich“ zu werden. Unüberwindlich ist nur Gott, der Allmächtige. Daher ist Goebbels Bewusstsein im Hinblick auf das Verhältnis von Mensch und Gott zu dokumentieren. Am Schluss eines Beitrages aus „Wege ins Dritte Reich“ mit dem Titel „Die Revolution als Ding an sich“ steht der Satz:

    „Da gibt es kein Ding an sich außer Gott.“ [68]

Die Formulierung „Ding an sich“ mutet kantianisch an, doch spielt Goebbels nur mit diesem Topos. Alles ist nur Werkzeug, ist „für etwas“ da, „an sich“ ist nur Gott bzw. der göttliche Wille.

Der Protagonist der Romans „Michael“, der ein Drama über Christus schreibt, notierte in seinem Tagebuch:

    „Ich bin ein Held, ein Gott, ein Erlöser. [69]

Der in dem Zitat erkennbare Wunsch nach Omnipotenz braucht hier nicht behandelt zu werden. Aber dem nie aus der katholischen Kirche ausgetretenen Goebbels scheint nicht bewusst zu sein, dass er der Kardinalsünde der „superbia“ erliegt. Diese besteht darin, sein zu wollen wie Gott.

An eine Charakterisierung Adolf Hitlers durch Goebbels aus dem eben genannten Aufsatz über „Die Revolution als Ding an sich“ und das darin enthaltene Bekenntnis zum Monotheismus, („da gibt es kein Ding an sich außer Gott“), anschließend, soll eine Variante des Bewusstseins von Mensch und Gott belegt werden, nämlich der Glaube an das Charisma eines Führers als Vermittler zwischen Mensch, Volk und Gott. Dem Adressaten des Briefes wird verkündet:

    „Dann ist es kein Damaskus, wenn wir geschlossen hinter ihrem Führer stehen; dann beugen wir uns nicht vor ihm aus byzantinischem Zwang, weil er es befahl und wir mussten gehorchen. Dann beugen wir uns vor ihm mit jenem alten Männerstolz vor Königsthronen, mit jenem Gefühl der Sicherheit, daß er mehr ist als Du und ich, mit jener beruhigenden Gewissheit, daß er Männer gebraucht und Männer bestehen lässt. Daß auch er nur ein Instrument ist jenes göttlichen Willens, der die Geschichte gestaltet, der Revolutionen schickt, daß sie neue Welten gebären, und Welten baut,     daß sie einst im Strudel neuer Schöpferlust zerbrechen. Zudem sind auch wir Werkzeug. Und weil das Geschichte ist, sind wir Instrumente jenes gestalteten Willens der Zukunft. Da gibt kein Ding an sich außer Gott.“ [70]

Am ausführlichsten hat Goebbels in dem Aufsatz „Die Führerfrage“, gerichtet an Hitler in der Form eines Briefes, die Fähigkeiten, vor allem die kollektive Identität stiftende Fähigkeit Adolf Hitlers beschrieben. Hier kommt es nur darauf an, festzuhalten, wie Goebbels die Beziehung Gottes zu Hitler beschreibt:

    „Was Sie da sagten, das ist der Katechismus neuen politischen Glaubens in der Verzweiflung einer zusammenbrechenden, entgötterten Welt. Sie verstummten nicht. Ihnen gab ein Gott zu sagen, was wir leiden. Sie faßten unsere Qual in erlösende Worte, formten Sätze der Zuversicht auf das kommende  Wunder. Das danken wir Ihnen.“ [71]

Schon aus den vorangegangenen Zitaten wird erkennbar, dass die Hitler zugeordneten Qualitäten der Definition des Charismas von Max Weber[72] entspricht. Noch deutlicher ist ein Bekenntnis im Tagebuch, Eintrag 14.10.1925:

    „Ich lese Hitlers Buch zu Ende, mit reißender Spannung! Wer ist dieser Mann? Halb Plebejer, halb Gott! Tatsächlich der Christus oder nur der Johannes?“

Die Umdeutung der Christologie (Christus ist sowohl Gott als auch Mensch) ist eindeutig. Hitler sei „Halb Plebejer, halb Gott!“, auch wenn gezweifelt wird, ob er „tatsächlich der Christus“ ist oder „nur der Johannes?“, denn gemeint ist hier Johannes der Täufer, der das Erscheinen des Erlösers prophezeite.

Goebbels hat sich nicht aus machtpolitischem Kalkül öffentlich zu Hitler bekannt. Er konnte 1925 und 1926 noch nicht wissen, dass die NSDAP 1933 an die Herrschaft gelangen würde. In dem im Jahr 1926 geschriebenen privaten Tagebuch können sogar libidinöse Bindungen an Hitler festgestellt werden, die teils kurios („so ein Brausekopf kann mein Führer sein“, 13.4.1926) teils schmusig („wie ein Kind, lieb, gut, barmherzig“, 24.7.1926) wirken. Das spricht dafür, dass auch die an Hitlers Geburtstag notierte Liebeserklärung ehrlich gemeint ist:

    „Adolf Hitler, ich liebe Dich, weil Du groß und einfach zugleich bist. Das, was man Genie nennt.“ [73]

Im Folgenden ist an eine Behauptung Goebbels über die Deutschen anzuknüpfen, welche die Beziehung des deutschen Volkes zum jüdischen Volk betrifft und uns zum Antisemitismus führt:

    „Wir modernen Deutschen sind so etwas wie Christussozialisten.“ [74]

Die Negation des Judentums ist abhängig von der Verknüpfung von Deutschtum und Christentum. Goebbels konstruiert das Verhältnis zwischen dem deutschen und dem jüdischen Volk als wesensmäßigen Gegensatz. Er erfasst Volk in der Kategorie der substantialisierten Identität, denn sowohl von dem Fremden als auch von dem eigenen Volk wird behauptet, sie hätten ein Wesen:

    „Der Jude ist uns im Wesen entgegengesetzt.“ [75]

Die Fremdbestimmung des jüdischen Volkes geschieht im Selbstbezug und ist von der Selbstbestimmung der eigenen Gemeinschaft abhängig. „Der Jude“ wird in der Negation der eigenen Ideale und der eigenen Kraft definiert:

    „Er hat unser Volk geschändet, unsere Ideale besudelt, die Kraft der Nation gelähmt, die Sitten angefault und die Moral verdorben!“ [76]

Goebbels verkündet in Bezug auf die christliche Religion, dass das Denken und Handeln des Juden nicht religiös ist und zieht daraus eine Konsequenz:

    „Was hat das mit Religion oder gar Christentum zu tun? Entweder er richtet uns zu Grunde, oder wir machen ihn unschädlich. Ein anderes ist nicht denkbar.“ [77]

Im gleichen Kontext heißt es weiter:

    „Wer den Teufel nicht hassen kann, der kann auch Gott nicht lieben. Wer sein Volk liebt, der muss die Vernichter seines Volkes hassen. Aus tiefster Seele hassen.“ [78]

Die wechselseitige Konstruktion der Identität wird also in der Konfiguration von Gott und Teufel, Existenz und Nichtexistenz sowie Liebe und Hass vorgenommen. Christus ist „das Genie der Liebe, als solches der diametrale Gegenpol zum Judentum“ [79]. Nicht zu vergessen ist, dass Goebbels, wie auch Rosenberg und Hitler, davon überzeugt ist: „Christus kann gar kein Jude gewesen sein.“ [80]; daher kann er auch behaupten:

    „Christus ist der erste Judengegner von Format. ‚Du sollst alle Völker fressen!’. Dem hat er den Kampf angesagt. Deshalb musste das Judentum ihn beseitigen. Denn er rüttelte an den Fundamenten seiner zukünftigen Weltmacht. Der Jude ist die menschgewordene Lüge. In Christus hat er zum ersten Mal vor der Geschichte die ewige Wahrheit ans Kreuz geschlagen. Das hat sich an die Dutzend Male in den darauf folgenden 20. Jahrhunderten wiederholt und wiederholt sich aufs neue. Die Idee des Opfers gewann zum ersten Mal in Christus sichtbare Gestalt.“ [81]

Bevor wegen des diametralen Gegensatzes zwischen „dem Juden“ und der Bedeutung Christi für den Antisemitismus Goebbels nochmals einzugehen sein wird, ist die Deutung Christi im Hinblick auf den Satz „Die Idee des Opfers gewann zum ersten Mal in Christus sichtbare Gestalt“ zu behandeln. Bei den Tätigkeiten, die nach Goebbels die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Nationalsozialisten definieren, hat die Tätigkeit des Opferns bzw. des Selbstopfers eine zentrale Funktion. Sowohl in den Tagebüchern als auch in dem Roman „Michael“ („Zum höchsten Gesetz schreite ich voran: Du sollst ein Opfer sein. Sich opfern für die anderen! Für den Nächsten! So will ich denn meinen Opfergang beginnen“ [82]) sowie in den Aufsätzen aus den Schriften „Die zweite Revolution“ und „Wege ins Dritte Reich“ wird das Selbstopfer gefordert. Wie bereits zitiert, wird dem Tagebuch vom 27.6.1924 bis 9.6.1925 das Motto vorausgeschickt

    „Wir müssen opfern. Die Arbeit im Geiste ist das größte Opfer“.

Das Tagebuch in dem Roman „Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern“ endet mit dem Satz „Wir alle müssen Opfer bringen.“ [83] Von den 31 Aufsätzen in den Büchern „Die zweite Revolution“ und „Wege ins Dritte Reich“ haben zwei Aufsätze das Opfern schon im Titel zum Thema: „Idee und Opfer“ sowie „Opfergang“. In dem an den Parteigenossen Stürtz gerichteten Brief in dem Beitrag „Idee und Opfer“ wird der „Bourgeois“ als Typus „ohne Glauben, ohne Ideale“ charakterisiert. Er sei zu feige, die „Konsequenzen fürs Leben“ zu ziehen. Das sei die Sünde der Bourgeoisie. Im Gegensatz dazu stünden die Nationalsozialisten:

    „Wir gehen bis zum Letzten durch. Wir wissen, daß es alles zu opfern gilt für die Idee. Wir handeln so, weil ein innerer Dämon uns zwingt. Wir können nicht anders.“ [84]

Goebbels versichert seinem proletarischen Parteifreund Stürtz:

    „Wir pfeifen auf das, was die anderen trennt. Uns verbindet das stärkste Band: die gemeinsame Idee! In dieser Idee sind wir einander gekettet, gesondert nach Willen und Leistung, nicht nach Wissen und Herkunft. So stehe ich unter Ihnen mit derselben fanatischen Energie zur Freiheit, mit derselben inneren Notwendigkeit, zu opfern und zu handeln“ [85]

Dass die Aufforderung zum Selbstopfer mit der Aufforderung zum Fanatismus zusammenfällt, muss nochmals dokumentiert werden. In dem Beitrag „Der unbekannte S.A.-Mann“, gerichtet an „Meine lieben Kameraden von der S.-A. Berlin“ kommt noch mehr hinzu:

    „Opfert! Im Opfer bildet sich der junge Aristokrat! Haltet Disziplin! Sie macht auch aus wenigen ein Bataillon! Seit Fanatiker! Wenn wir Recht haben – und das glauben wir mit der Unverbrüchlichkeit des Blutes -  dann haben alle anderen Unrecht.“ [86]

Das Versprechen, Aristokraten werden zu können, indem Disziplin gehalten wird, ist hier mit dem wesentlichen Merkmal des Fanatismus verknüpft: „Alle anderen“ haben „Unrecht“. In Berlin hatten die Nationalsozialisten sogar einen „Opferbund“ gegründet. Der Beitrag „Opfergang“ in der Schrift „Wege ins Dritte Reich“ hat Goebbels dem „lieben Kameraden vom Opferbund in Berlin“ gewidmet. Goebbels versichert dem „lieben Kameraden“:

    „Im Opfer bildet sich der Charakter. Opfert! Im Opfer liegt die Reinigung von Schuld.“ [87]

Mit der im Selbstopfer liegenden „Reinigung von Schuld“ werde der Zweck erfüllt, die Zukunft eines „neuen Reichs“ herbeizuführen, und damit auch ein Wunder zu vollbringen:

    „Geht den harten Opfergang um der Zukunft Willen“ Werdet Helden der Überwindung! … Das Wunder des neuen Reichs wird von dem getan, der an sich selbst ein Wunder vollbringt. Und nun geht und handelt!“ [88]

Der folgende Beitrag ist an einen Genossen („Mein lieber Prima“) gerichtet und endet mit dem Willen zur Rache. Der Genosse sitzt, so der Titel, im „Zuchthaus“. Zunächst betont Goebbels sein „lieber Prima“ sei ein Vorbild:

    „Charakter und Opfer werden und müssen triumphieren über Ehrlosigkeit, Charakterlosigkeit und Mangel an Opfersinn. Das wollen wir draußen predigen, was Sie hinter Gittern lernten in schweren, durchweinten Nächten: daß die Ehre alles ist, daß in ihr der Charakter sich stählt und daß das Opfer zu letzten Tat bereit macht.“ [89]

Der Aufsatz hat folgenden Schluss:

    „Wir beugen in Demut das Knie vor Ihrem Opfer. Unser wird die Rache sein! Auf den Tag! Das sei mein Weihnachtsgruß.“ [90] (Hervorhebung C.E.B.)

Der Fanatismus – die unzerstörbare Überzeugung, im Recht zu sein, der unbeugsame Wille zur Tat, Hass und Rache – ist eine wesentliche Komponente der „Idee des Opfers“, welche wiederum „zum ersten Mal in Christus sichtbare Gestalt“ angenommen habe. Insofern Christus der „diametrale Gegenpol zum Judentum“ [91] sei, erhält der Fanatismus und das Selbstopfer eine fundamentalistische Begründung. Wenn er schreibt „Der Jude“, also den Kollektivsingular benutzt, sei die „Menschen gewordene Lüge“ und habe „In Christus“ darüber hinaus „zum ersten Mal vor der Geschichte die ewige Wahrheit ans Kreuz geschlagen“, knüpft er an den Irrglauben[92] an, alle Juden seien Mitglieder des so genannten Gottesmördervolkes. Wegen des diametralen Gegensatzes und gemäß der Bedeutung Christi in der Weltanschauung von Goebbels kann allein daraus der Schluss gezogen werden, dass für Goebbels der „Jude“ der „Antichrist“ ist. Dazu bekennt sich Goebbels wörtlich in seinem realen Tagebuch:

    „Dazwischen las ich Iw. Naschiwins ‚Rasputin’ mit tiefer Erschütterung aus. Das grandiose Gemälde des russischen Bolschewismus. … Aber niederdrückend in seiner satanischen Grausamkeit. So mag der Teufel wüten, wenn er die Welt beherrscht. Der Jude ist wohl der Antichrist der Weltgeschichte. Man kennt sich kaum mehr aus in all dem Unrat von Lüge, Schmutz, Blut und viehischer Grausamkeit. Wenn wir Deutschland davor bewahren, dann sind wir wahrhaft patres patrie! Heute nur Arbeit als Ausspannung.“ [93] (Hervorhebung C.E.B.).

Der „Antichrist“ ist, daran sei erinnert, der „Widerchrist“, wie es im 1. Brief des Johannes im Neuen Testament steht:

    „Daran sollt Ihr den Geist Gottes erkennen: Ein jeglicher Geist, der da bekennt, daß Jesus Christus ist in das Fleisch gekommen, der ist von Gott; und ein jeglicher Geist, der da nicht bekennt, daß Jesus Christus ist in das Fleisch gekommen, der ist nicht von Gott. Und das ist der Geist des Widerchrists, von welchem Ihr habt gehört, daß er kommen werde, und er ist jetzt schon in der Welt.“ [94]

In der christlichen Tradition ist nicht nur „der Jude“, auch daran sei erinnert, der vom Satan geschickte Verhinderer der christlichen Erlösung. [95]

Die untrennbare Verbindung zwischen Rassismus und Antijudaismus hat die Konsequenz des Genozids. So versichert Goebbels in der Rede „Lenin oder Hitler?“, im Hinblick auf die Zukunft im Dritten Reich:

    „Wir wollen den Kampf gegen diesen Weltfeind aufnehmen. Wir wollen Deutschland zu einem Staat, das deutsche Volk zu einer Nation machen. Dies Volk soll bereit gemacht werden, dem Feind den Dolch mitten ins Herz zu stoßen.“ [96]

Die Vernichtung des jüdischen Volkes ist für ihn also die Voraussetzung dafür, die kollektive Identität der Deutschen und darüber hinaus die Erlösung im zukünftigen „Dritten Reich“ herstellen zu können. Davon war Goebbels auch später überzeugt, deshalb ist das, was Goebbels im Jahre 1942 über die Vernichtung der Juden in sein Tagebuch eintrug, zu zitieren:

    „Die Juden haben die Katastrophe die sie heute erleben verdient. Sie werden mit der Vernichtung unserer Feinde auch ihre eigene Vernichtung erleben. Wir müssen diesen Prozess nur mit einer kalten Rücksichtslosigkeit beschleunigen und wir tun damit der leidenden und seit Jahrtausenden vom Judentum gequälten Menschheit einen unschätzbaren Dienst.“ [97]

Am 27.3. schreibt er sogar:

    „Aus dem Generalgouvernement. Werden jetzt bei Lublin beginnend, die Juden nach Osten abgeschoben. Es wird hier ein ziemlich barbarisches und nicht näher zu beschreibendes Verfahren angewandt, und von den Juden selbst bleibt nicht mehr viel übrig. … an den Juden wird ein Strafgericht vollzogen, das zwar barbarisch ist, das  sie aber verdient haben. … auch hier ist der Führer der unentwegte Vorkämpfer und Wortführer einer radikalen Lösung.“ [98]

IV.    Zusammenfassung und Schlussbemerkungen zum aktuellen Antijudaismus

Die Weltanschauung und die Selbstbekenntnisse Joseph Goebbels enthalten aus folgenden Gründen wesentliche Elemente einer politischen Religion:

  1.  Goebbels glaubt an Gott und Christus und auch, dass es die überirdische Macht des Bösen gibt. Anders als im Glaubensbekenntnis aller Christen ist sein Glaube auch auf das Heil und die Erlösung in dieser Welt gerichtet. Er glaubt, dass durch die Qualität einer politischen Ordnung das Ziel der Erlösung erreicht werden kann.

  2.  Das Dritte Reich ist ein Reich der Zukunft der Deutschen, welches durch das Prädikat Erlösung qualifiziert wird.

  3.  Gegenwart und Zukunft sind durch einen qualitativen Sprung getrennt. Dem qualitativen Sprung geht eine Krise bis zur Katastrophe voraus. Zur Überwindung der Katastrophe und zur Herstellung der durch Erlösung qualifizierten Zukunft muss ein Kampf stattfinden. [99]

  4. Wesentliches Merkmal des Kampfes ist der Fanatismus und die Bereitschaft, sich selbst zu opfern.

  5.  Goebbels glaubt an das Charisma Adolf Hitlers („Halb Plebejer, halb Gott!“). Er ist  „Instrument jenes göttlichen Willens, der die Geschichte gestaltet“ und jeder, der an ihn glaubt, ist es auch. Hitler und das deutsche Volk sind Subjekte ihrer eigenen Heilsgeschichte.

  6.  Die kollektive Identität des deutschen und die des jüdischen Volkes wird im Modus eines substantiellen Dualismus zwischen Gott und der Macht des Bösen bestimmt. Die „modernen Deutschen sind Christussozialisten“ und „der Jude“ ist „der Antichrist der Weltgeschichte“. Die Erlösung der Deutschen vom Bösen in sich und außer sich[100] ist ihre Erlösung vom Judentum.

  7. Die zukünftige Erlösung im Dritten Reich kann nur dann erreicht werden, wenn „der Jude“ als „Antichrist“ – und nur „der Jude“ und kein anderes Kollektiv der Welt ist für Goebbels „der Antichrist“ – vernichtet wird.

Zu den meines Erachtens noch viel zu wenig beachteten Problemen zählt der Zusammenhang von Volk und Rasse. Damit ist gemeint, dass die göttliche Potenz der arischen Rasse die Grundlage für die erst noch zu erreichende kollektive Identität der Macht des deutschen Volkes sei. Schließlich war Hitler Theist und der „Arier“ galt ihm als „das höchste Ebenbild des Herrn“. [101] Auch der Stellvertreter des Führers in weltanschaulichen Fragen, Alfred Rosenberg, war Theist. [102] Der arisch-nordischen Rasse, und nur der, käme die „Gottgleichheit der Seele“ zu. [103] Gottgleich ist nach Rosenberg nicht nur die Seele der nordischen Rasse, sondern auch des Volksglaubens sowie des völkischen Glaubens liebstes Kind, nämlich das Blut. [104]

Will man zu aktuellen Problemen Stellung nehmen, so haben die rohen Kerle aus der Szene der Neonazis in Dortmund oder Finsterwalde noch keine Religion im Sinne Goebbels’, Rosenbergs oder Hitlers parat. Außerdem ist daran zu erinnern, dass die überwiegende Mehrheit der deutschen Bürger (die Proletarier, Professoren, Bischöfe, Pastoren, Beamte und Repräsentanten der Medien), was machtpolitisch relevant ist, keine Nationalsozialisten sind.

Ganz offensichtlich ist der Unterschied zwischen den amerikanischen Freikirchen (Denominationen), erst recht der amerikanischen „Civilreligion“ einerseits und der der Nationalsozialisten andererseits sehr groß. Denn die überwiegende Mehrheit der Bürger der Vereinigen Staaten erkennt das Paradigma des demokratischen Verfassungsstaates an.

Hingegen können Ähnlichkeiten zwischen dem Fundamentalismus der so genannten Islamisten und der Ideologie Goebbels festgestellt werden.

Der Unterschied besteht selbstverständlich darin, dass im Islam keine Rassedoktrin enthalten ist. Voranzuschicken ist jedoch, dass der Islam eine politische Religion ist. Zwischen Politik und Religion bzw. weltlicher Herrschaft und spirituellem Heil wird im Islam nicht getrennt. Die öffentliche Ordnung der Gesamtgesellschaft wird gemäß der Glaubensinhalte wahrgenommen, bewertet und legitimiert. Zwischen Staat und Kirche kann gar nicht getrennt werden, weil es in der islamischen Welt keine Kirchen gibt, geschweige denn autonome Frauenklöster. Die Regeln des Rechts sind schon im Koran enthalten, sind daraus entwickelt worden und neue müssen in Übereinstimmung mit dem Koran legitimiert werden. Die Religionsfreiheit der Bürger einer Gesellschaft - die Freiheit von der Religion und die Freiheit dazu, was und wie geglaubt wird - ist der islamischen Welt fremd sowie verfassungsrechtlich nicht garantiert.

Die Ähnlichkeit zwischen dem Fundamentalismus der so genannten Islamisten des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart besteht in folgenden Hinsichten:

  1. dem extremen Antijudaismus. Dabei können sich die Fundamentalisten auf die  medinischen Suren des Koran[105] – also die Suren, die nach der Machtergreifung Muhammad’s in Medina entstanden sind - stützen. Darin wird den Juden Unglauben und Verstocktheit, das Töten von Propheten, Verrat an dem Bund Gottes mit Muhammad, Schriftverfälschung, Lüge, Sünde, Geiz und Wucher vorgeworfen, sowie  die Bestrafung im Jenseits und auch schon im Diesseits prophezeit. Damit wird der  christliche Antijudaismus nicht bestritten. Aber, da die Muslime glauben, Allah habe den Koran Wort für Wort geschrieben, ist jeder Satz in den Suren eine verpflichtende Glaubensüberzeugung innerhalb des Ganzen.

  2. dem eliminatorischen Antijudaismus. den Hamas, Al-Kaida, die gegenwärtige Staatsführung des Irans und die Hisbolla propagieren. Das muss nicht sein, aber es ist, unter Berücksichtigung des öffentlich erklärten Willens zum absoluten Sieg über die Juden, wahrscheinlich.

  3. der Phänomenologie des religiös motivierten Selbstopfers im Zusammenhang mit dem  Kampf gegen die Juden, also dem Fremdopfer

  4. dem politisch-religiösen Fanatismus: die leidenschaftlich vertretene  Überzeugung, Recht zu haben (Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns), Hass und Rache

  5. dem unerschütterlichen Glauben, die eigene Handlung mit dem Willen Gottes  identifizieren zu können oder gar zu müssen.

  6. dem Glauben an die Personifikation des Bösen.


Die Erforschung des Zusammenhangs von Politik und Religion ist die Aufgabe dieses Jahrhunderts. Nicht nur, weil in der Sphäre des Politischen dem Willen zur Erlösung in dieser Welt, wie im Falle des Nationalsozialismus, die Verbrechen auf dem Wege zur Endlösung folgen, sondern auch, weil der Mensch nicht nur ein „zoon politicon“, sondern potentiell auch ein „homo religiosus“ ist. Gott mag tot sein, aber der Glaube an die Existenz Gottes, die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit ist es nicht. Die Pathologie des Religiösen kann verhindert werden, wenn nach dem Verhältnis von Vernunft und Glaube gefragt wird. Wenn die Vertreter der „Politischen Wissenschaft“ nicht die Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Existent ernst nehmen, so wird sich das Volk der Demokraten von ihnen verlassen fühlen und die öffentliche Meinung wird sie nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Das gilt für alle Vertreter der Zunft, ob sie religiös sind oder nicht. Ich gestehe, dass ich Mitglied der evangelisch-lutherischen Kirche Bayerns bin.



[1] vgl. Fritz Stolz, Grundzüge der Religionswissenschaften, 2. überarb. Aufl., Göttingen 1997, S. 11.
[2] vgl. Ernst Feil, Religio. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffes vom Frühchristentum bis zur Reformation, Göttingen 1986; ders., Religio. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffes zwischen Reformation und Rationalismus, Göttingen 1997; ders., Religio. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffes vom frühen Rationalismus bis zur Aufklärung, Göttingen 2000.
[3] Erich Voegelin, Die politischen Religionen, Wien 1938, Nach der Emigration Stockholm 1939, dienletzte Auflage hrg. Von Peter Opitz, Paderborn 2005.
[4] Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1972, 4. Auflage, S. 1.
[5] Joseph Goebbels, Die zweite Revolution, Zwickau 1926.
[6] Joseph Goebbels, Wege ins Dritte Reich, München 1927.
[7] Joseph Goebbels, Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern, München 1927. zitiert nach der 1934 erschienen Auflage. Die beiden letztgenannten Bücher wurden, genauso wie Hitlers „Mein Kampf“, vom parteioffiziellen Verlag Frz. Eher Nachf., GmbH verlegt.
[8] Wegen der verschiedenen Editionen wird für die Zeit das Datum angegeben, hier zitiert nach: Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente, hrsg. von Elke Fröhlich im Auftrage des Instituts für Zeitgeschichte in Verbindung mit dem Bundesarchiv, Teil I, Aufzeichnung 1924-41, Bd. 1, 27.6.1924 bis 23.12.1930, München/New York/Paris 1987. Dieser Edition folgen die von Georg Reuth herausgegebenen Tagebücher. Wird nicht aus der Ausgabe von 1987, sondern für die Zeit vor dem 17.6.1924 aus der nunmehr fast vollkommen eingerichteten neuen Edition aus dem Jahre 2004, welche nur als Gesamtausgabe teuer zu erwerben ist, zitiert, dann wird dem Datum der Zusatz „Neue Edition“ beigefügt. Damit die Zitate aus der Taschenbuchausgabe von Georg Reuth überprüft werden können wird lediglich das Datum angegeben und nicht die Seiten.
[9] 23.9.1924.
[10] 23.3.1925.
[11] 8.8.1924.
[12] 28.7.1924.
[13] Z.B. in der zweiten Hälfte des Jahres 1925: 12.8.1925, 14.8.1925, 29.8.1925, 4.9.1925, 30.9.1925, 9.10.1925, 12.10.1925, 16.10.1925, 18.12.1925, 19.12.1925, 4.1.1926.
[14] 4.7.1924.
[15] Gottfried Feder, Das Parteiprogramm der NSDAP und seine weltanschaulichen Grundlagen, München 1930, S. 22.
[16] Ebd., S. 22.
[17] Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern, München 1929, S. 58.
[18] Richard Wagner, Ausgewählte Schriften über Staat, Kunst und Religion, Leipzig 1914, S. 187, 188.
[19] Grundlagen des XIX. Jahrhunderts, München 1899, hier zitiert nach der 2. Auflage, S. 210ff.
[20] Vgl. das Kapitel „Die Erscheinung Christi“, ebd., S. 189-254.
[21] Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, München 1931, S. 74, 163, 215, 604ff.
[22] Vgl. Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier. Vollständige und überarbeitete Neuausgabe mit bisher unbekannten Selbstzeugnissen Adolf Hitlers, Stuttgart 1976; Heinrich Heim, Adolf Hitler – Monologe im Führerhauptquartier. 1941-1944, hrsg. von Werner Jochmann, Göttingen 1981, S. 15, 96.
[23] Mein Kampf, Zwei Bde. in einem Band, 167.-175. Auflage, ungekürzte Ausgabe, München 1941, S. 230.
[24] Neue Edition, 6.2.1924, München 2004.
[25] Ebd.
[26] 30.8.1924.
[27] 6.8.1924.
[28] 17.7.1924.
[29] 30.8.1924.
[30] Erinnerungsblätter, in: Die Tagebücher. Fragmente, Edition aus dem Jahre 1987, S. 26/27.
[31] 27.6.1924; vgl. Joseph Goebbels, Michael. Ein Schicksal in Tagebuchblättern, München 1934, S. 155; Adolf Hitler, Mein Kampf, S. 227; für Hitler ist die „Aufopferungsfähigkeit des einzelnen für die Gesamtheit, für seine Mitmenschen“ ein wesentliches Merkmal des Ariers.
[32] 27.6.1924.
[33] Fjodor Mischailowitsch Dostojewski, Die Dämonen, übertragen von E.K. Rasin, München 1922, neu überarbeitete Ausgabe 1956, S. 343.
[34] Ebd., S. 343ff (zweiter Teil, Kapitel I, Abschnitt VII).
[35] Tagebücher, neuer Edition aus dem Jahre 2004.
[36] Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhundert. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltungskämpfe unserer Zeit, München 1935, S. 607.
[37] Ebd., S. 606.
[38] Ebd., S. 600.
[39] Ebd., S. 605.
[40] Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, Berlin 1997, 2. Auflage, S. 109; vgl. Dietrich Eckart: Der Bolschewismus von Moses bis Lenin. Zwiegespräche zwischen Adolf Hitler und mir, München 1925.
[41] Tagebücher, 27.6.1924.
[42] 6.8.1924.
[43] 27.9.1924.
[44] 20.8.1924.
[45] 4.7.1924; zu „sta up“: niederrheinisch „steh auf“.
[46] „Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind“, Goethe, Faust, erster Teil, Studierzimmer, Nacht.
[47] Vgl. Alois Dämpf, Sacrum Imperium. Geschichts- und Staatsphilosophie im Mittelalter und der politischen Renaissance, 4. Aufl., München/Wien 1973; Gert Wendelborn, Gott und Geschichte. Joachim von Fiore und die Hoffnung der Christenheit, Leipzig 1974; Matthias Riedel, Joachim von Fiore. Denker vollendeter Menschheit, Würzburg 2004.
[48] Vgl. Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1961; Eric Voegelin, Die neue Wissenschaft der Politik, München 1959, S. 162ff; Norman Cohen, Das Ringen um das Tausendjährige Reich. Revolutionärer Messianismus im Mittelalter und sein Fortleben in den modernen totalitären Bewegungen, Bern 1961; Walter Schmitthals, Die Apokalyptik. Einführung und Deutung, Göttingen 1973.
[49] Sämtliche Werke, Bd. 5, hrsg. von Georg Brandes, Berlin 1899, S. 74.
[50] Martin Wust, Das dritte Reich. Ein Versuch über die Grundlagen individueller Kultur, Wien 1905; Gerhard Mutius, Die drei Reiche. Ein Versuch philosophischer Bestimmung, Berlin 1916.
[51] Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a. M. 1980, S. 698.
[52] Rudolf Bahro, Logik der Rettung, Stuttgart 1897, S. 451, 698.
[53] Breslau 1923, 3. Aufl., S. 103, 253ff.
[54] Ders., Aus meinem Leben, Erinnerungen von Johannes Schlaf, Halle 1941, S. 64.
[55] Hermann Burte, Wiltfeber. Der ewige Deutsche. Die Geschichte eines Heimatsuchenden, Leipzig 1912, S. 64ff, 89, 150.
[56] In: Alfred Rosenberg, (hrsg.), Dietrich Eckart. Ein Vermächtnis, 2. Aufl., München 1935, S. 111.
[57] Ebd., S. 66.
[58] Ebd., S. 111.
[59] In: Auf gut Deutsch. Wochenzeitschrift für Ordnung und Recht, hrsg. von Dietrich Eckart, Nr. 19/20, 1919, S. 296.
[60] Vgl. Tagebücher, Neue Edition, hrsg. von Elke Fröhlich, Teil 1, Aufzeichnungen 1923-1941, München 2000, S. 19, 117, 120, 162, 354.
[61] Ebd., 24.1.1924.
[62] Joseph Goebbels, Lenin oder Hitler?, Zwickau 1926, S. 26.
[63] Ebd., S. 26, 36.
[64] Joseph Goebbels, Lenin oder Hitler?, Zwickau 1926, S. 29.
[65] Joseph Goebbels, Wege ins Dritte Reich. Briefe und Aufsätze für Zeitgenossen, München 1927, S. 5.
[66] 1. Aufl., München 1929, hier zitiert nach der Auflage aus dem Jahre 1934, S. 12, 27, 52, 83, 88, 106, 121ff., 127, 129 und 147ff.
[67] Joseph Goebbels, Denker oder Prediger, in: Die zweite Revolution, Zwickau 1926, S. 59.
[68] Ders., Die Revolution als Ding an sich, in: Wege ins Dritte Reich, München 1927, S. 48.
[69] Ders., Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern, München 1929, S. 116.
[70] Joseph Goebbels, Wege ins Dritte Reich, München 1927, S. 48.
[71] Ders., Die Führerfrage, in: Die zweite Revolution. Briefe an Zeitgenossen, Zwickau 1926, S. 7.
[72] Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., Tübingen 1985, S. 140.
[73] 19.4.1926.
[74] Goebbels, Michael, S. 82.
[75] Ebd., S. 57.
[76] Ebd., S. 58.
[77] Goebbels, Michael, S. 57.
[78] Ebd., S. 58.
[79] Ebd., S. 82.
[80] Ebd., S. 58.
[81] Ebd., S. 82.
[82] Ebd., S. 104.
[83] Ebd., S. 155.
[84] Ders., Idee und Opfer, in: Die zweite Revolution, S. 19.
[85] Ebd., S. 21.
[86] Ders., Wege ins Dritte Reich, S. 63.
[87] Ebd., S. 55.
[88] Ebd., S. 56.
[89] Goebbels, „Zuchthaus“, in: Wege ins Dritte Reich, S. 58, 59.
[90] Ebd., S. 60.
[91] vgl. Michael, S. 82.
[92] Es existiert seitens der christlichen Kirchen keine theologische Rechtfertigung oder außerhalb der Dogmata auf der Exegese des Neuen Testamentes begründete Argumentation.
[93] Tagebücher, 26.6.1926.
[94] 1. Brief des Johannes, 4; 2, 3.
[95] Luther zum Beispiel, charakterisierte den Bischof von Rom, also den Papst als Antichrist.
[96] Goebbels, Lenin oder Hitler?, S. 24.
[97] Goebbels, Tagebücher aus den Jahren 1942 – 1943, hrsg. von Louis P. Lochner, Zürich 1948, 14,2,1942.
[98] Ebd., 27.3.1942.
[99] vgl. Offenbarung des Johannes, Kapitel 16ff; Kapitel 20 („Tausend jähriges Reich“).
[100] vgl. Parteiprogramm der NSDAP, Ziffer 24; „Die Partei als solche vertritt den Standpunkt eines positiven Christentums. … Sie bekämpft den jüdisch-materialistischen Geist in uns und außer uns“.
[101] Hitler, Mein Kampf, S. 421.
[102] „Die ‚heilige Vereinigung’ (polarisch bedingt doch unvermischt) von Gott und Natur ist der Urgrund unseres Wesens.“
[103] Alfred Rosenberg, Mythus des 20. Jahrhunderts, S. 246.
[104] „Heute erwacht aber ein neuer Glaube: der Mythus des Blutes, der Glaube, mit dem Blute auch das göttliche Wesen der Menschen überhaupt zu verteidigen. Der mit hellstem Wissen verkörperte Glaube, dass das nordische Blut jenes Mysterium darstellt, welches die alten Sakramente ersetzt und überwunden hat.“, ebd., S. 114.
[105] 2, 49-61; 4, 153-162; 3, 98; 3, 11; 2, 87, 91; 5, 70; 3, 21, 113, 114, 181, 183; 5, 13.



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