Diskussionspapier:
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Norbert Reck
„... daß uns in unseren Tagen ein Kampf verordnet ist“ Eine Relektüre von Predigten Martin Niemöllers „nach Auschwitz“
„Martin, ich wundere mich,
daß du trotz der wenigen systematischen
Theologie,
die du getrieben hast, doch fast immer das Richtige triffst!“
Karl Barth
„Karl, ich wundere mich,
daß Du trotz der vielen systematischen
Theologie,
die du getrieben hast, doch fast immer das Richtige triffst!“
Martin Niemöller[1]
Zur „Theologie nach Auschwitz“ und ihren Fragen hätte Martin Niemöller einiges beizutragen: Richtungsweisendes und Korrigierendes. Dennoch taucht sein Name in den einschlägigen Werken fast nirgendwo auf – soviel auch sonst über ihn geschrieben wurde. Niemöller wird wahrgenommen als Protagonist des Kirchenkampfs, als mutige und eloquente Stimme der kirchlichen Opposition gegen das NS-Regime, als unbeirrbarer Bußprediger nach dem Krieg, als Vorreiter für eine demokratische Kirchenverfassung, als Weltreisender in Sachen Ökumene und als unermüdlicher Streiter für Frieden und Abrüstung. Kaum aber als Theologe.
Das hat seinen Grund zum einen sicher darin, dass Niemöller so gut wie keine explizit theologischen Texte verfasst hat. Seine Theologie ist in erster Linie die angewandte Theologie seiner Reden und Predigten. Und aus diesen muss sie erst herausgearbeitet werden. Zum anderen fungieren die immer wieder in den Texten auftretenden antijudaistischen Motive und Denkfiguren wie ein Signal, dass Niemöller gerade nicht als Gesprächspartner für die „Theologie nach Auschwitz“ in Frage komme.
Wer sich aber von der Aussicht nicht schrecken
lässt, immer wieder
mit der judenfeindlichen Tradition der christlichen Theologie
konfrontiert
zu werden, und wer sich vom Bedürfnis nach makellosen Helden
verabschiedet,
kann bei Niemöller erstaunliche Entdeckungen machen.
Leonore Siegele-Wenschkewitz, die sich mit Niemöllers
antijüdischen
Auslassungen differenziert auseinandergesetzt hat, meinte mit Recht,
von
seiner familiären, politischen und theologischen Herkunft her sei
Niemöller
eigentlich dazu prädestiniert gewesen, „daß er einer der
Führer
der Deutschen Christen würde“[2].
Das war aber für Niemöller nie eine Versuchung. Bei aller
Zustimmung
zum Nationalsozialismus, dessen Partei er von 1924 bis 1933
gewählt hatte,
weigerte er sich von Anfang an, politische Bewegungen als Ausdruck des
Willens
Gottes zu verstehen. Niemöller beharrte streng auf dem
reformatorischen
Schriftprinzip, wonach durch das Wort Gottes allein – sola scriptura – der Wille Gottes
zu
vernehmen sei:
„Dies Wort ist die Gottesgabe, die unserer Kirche anvertraut ist; und mit ihr allein wird sie allezeit zu dienen haben, damit unser Volk nicht arm werde an ewigem Gut, und damit das gewaltige Werk der völkischen Einigung und Erhebung, das unter uns begonnen ist, einen unerschütterlichen Grund und dauernden Bestand gewinne!“[3]
Hierin scheint mir Niemöllers archimedischer Punkt zu liegen. Von hier aus hat er gedacht und gesprochen, ohne je diesen Punkt zu verraten. Von hier aus war er in der Lage, allmählich eine Distanz zur „völkischen Einigung und Erhebung“ zu entwickeln; von hier aus sah er sich befähigt, furchtlos den Mund aufzumachen; und von hier aus konnte er sein Handeln kritisch beurteilen und seine Schuld bekennen.
Das bedeutet zugleich keineswegs, dass wir bei Niemöller lediglich eine traditionelle und quasi-fundamentalistische Wort-Gottes-Theologie finden könnten. Nach Jahrzehnten der wissenschaftlichen Bibelkritik mag uns Niemöllers Umgang mit der Schrift nicht mehr ohne Weiteres zugänglich sein, doch sein theologisches Denken zeigt währenddessen eine erstaunliche Fähigkeit, genau auf die jeweils konkreten Fragen und Problemlagen seiner Zeit zu antworten. Zudem bezeugt es ein scharfes Bewusstsein für Niemöllers eigene Rolle im Zusammenhang seines Sprechens. Es gibt bei Niemöller keine „Subjektverbergung“[4], kein Sichverstecken hinter einem allgemeinen „Wir als Kirche“ oder „Der christliche Glaube sagt ...“ Er trägt seine Situation und seine Perspektive immer reflektiert in seine Texte ein, und genau darin liegt eine seiner Stärken, die auch für die „Theologie nach Auschwitz“ bedeutsam werden könnte.
Was ich im Folgenden deshalb versuchen möchte, ist eine Re-Lektüre von Niemöllers Predigten aus der Perspektive unserer Zeit, d.h. ich versuche nicht, den Texten im Horizont ihrer eigenen Zeit gerecht zu werden.[5] Mich interessiert vielmehr, ob nicht gerade aus den Fragen der Gegenwart sich Blickwinkel ergeben, die andere Seiten an den Texten zu Tage treten lassen, als man bisher wahrnehmen konnte.
Zu diesen Fragen der Gegenwart gehören für mich in diesem Zusammenhang insbesondere die ungelösten Probleme aller christlichen Versuche, „nach Auschwitz“ eine gegenwarts- und geschichtsbezogene Theologie zu entwickeln. Das betrifft – neben anderem – das grundsätzliche Dilemma, ob und wie angesichts der Verbrechen gegen die Menschheit noch von einem liebenden und allmächtigen Gott zu sprechen wäre: So kommen jene, die versuchen, an einem starken, unerschütterlichen Bekenntnis zu Gott und seiner Heilsgeschichte festzuhalten, schwerlich umhin, die Frage der Überlebenden, wo denn Gott gewesen sei, als die Türen der Gaskammern hinter ihren Angehörigen verschlossen wurden, als falsche Frage abzutun und die Zeugnisse der Opfer letztlich zu relativieren. Jene anderen dagegen, die diese Zeugnisse ernst nehmen und in der Auseinandersetzung damit ihre eigenen Fragen an Gott stellen, erreichen zwar mehr Nähe zu den Opfern, aber in dem Maße, in welchem sie ihre Zweifel und Anklagen vornehmlich an Gott richten, entgehen die irdischen Verursacher der Massenvernichtung ihrer Anklage. Jene schließlich, die darum beide Wege der religiösen Auseinandersetzung ablehnen und die Rede von Gott als sinnlos verabschieden, stehen am Ende vor einem vernichtenden, gleichgültigen Geschichtsprozess, der nur noch – wütend oder melancholisch – zur Kenntnis genommen werden kann.
Wenn ich recht sehe, lässt sich Niemöllers Theologie keiner dieser Positionen zuordnen und könnte gerade deshalb in diesem Zusammenhang von Interesse sein.
Die Anfänge in
Dahlem
Martin Niemöller kam 1931 als Pfarrer nach Berlin-Dahlem,
1933
wurde er auf die 1. Pfarrstelle der Dahlemer St.-Annen-Kirche
gewählt.
Wie er, der in dem eher konservativen Villenvorort zunächst als
„der
nationalsozialistische Pfarrer“[6]
galt, schließlich zum Vorsitzenden des Pfarrernotbundes und zu
einem der wichtigsten Protagonisten der Bekennenden Kirche wurde, muss
hier nicht
nacherzählt werden.[7]
Wichtiger
ist es festzuhalten, mit welcher theologisch-religiösen Haltung er
nach
Dahlem kam.
Einiges davon zeigt Niemöller in seinem autobiographischen Bericht Vom U-Boot zur Kanzel, der 1934 erschien und bald zu einem Bestseller wurde. Darin berichtet er u.a. von einem Gewissenskonflikt im Ersten Weltkrieg. Niemöllers U-Boot-Mannschaft hatte (am 25. Januar 1917) ein französisches Dampfschiff versenkt, und ein französisches Torpedoboot versuchte, die Überlebenden des Dampfschiffs an Bord zu nehmen. Sollten die Franzosen an der Rettung gehindert werden? War es in Ordnung, eine solche Rettungsaktion zu stören? Oder war es sogar eine Pflicht, da die geretteten französischen Soldaten nur weiter gegen Deutschland gekämpft hätten? Niemöller zeigt sich – für einen Moment – als Zweifelnder und reagiert auf diese Situation mit einer knappen theologischen Überlegung:
„Und plötzlich breitete sich das ganze Rätsel ‚Krieg‘ vor unsern Augen aus; mit einemmal wußten wir aus einem Stückchen eigenen Erlebens um die Tragik der Schuld, der zu entgehen der einzelne kleine Mensch einfach zu schwach und zu hilflos ist. [...] Aber das sahen wir, daß es Lagen gibt, wo jede gesetzliche Moral Bankrott macht, wo keine Möglichkeit bleibt, sich ein unverletztes Gewissen zu bewahren. Und wo die Frage, ob wir in Verzweiflung oder Trotz scheitern oder aber mit lebendigem Gewissen durch die Anfechtung hindurchgehen, daran und allein daran hängt, ob wir eine Vergebung glauben! [...] Mir aber ist dieser 25. Januar für mein Leben bedeutsam geworden, weil er mir die Augen öffnete für die Unmöglichkeit eines moralischen Weltbildes.“[8]
Die Versatzstücke eines
bürgerlich-protestantischen Denkens
– enggeführte Derivate der reformatorischen
Rechtfertigungstheologie –
die hier zum Tragen kommen, sind vielsagend: Die Rede von der Tragik,
der
kein Mensch entgehe, klingt ernst und bitter, macht aber jedes ethische
Reflektieren grundsätzlich gleichgültig: Ganz gleich, wie man
sich entscheidet
– es wird unentrinnbar falsch. Die Rede von der Kleinheit,
Schwäche
und Hilflosigkeit des einzelnen Menschen will bescheiden und auf gar
keinen
Fall überheblich sein, aber sie legt vor allem fest, dass der
Mensch
als Einzelner zum verantwortlichen Handeln gar nicht in der Lage ist.
Trotzdem scheint auch ein Wissen von einer Moral auf, die anderes
verlangt.
Niemöller nennt sie „gesetzliche Moral“ und meint in diesem
Kontext
jene Moral, die sich zu eindeutigen Entscheidungen in der Lage sieht.
Zugleich
bezieht sich der polemische Ausdruck „gesetzlich“ auf die
antijüdische
Gegenüberstellung von „Gesetz“ und „Evangelium“. „Gesetzlich“ ist
demnach
das alttestamentliche bzw. jüdische Festhalten an der Tora und
ihren klaren Forderungen – eine Moral, die nur „Bankrott“ machen
könne. Demgegenüber
steht das Evangelium für eine Moral der Liebe, der es mehr auf die
innere
Haltung ankommt als auf die tatsächliche Entscheidung zu einer
Tat.
Wer sich nur ausreichend innerlich zerrissen und angefochten erlebt und
dann
so oder anders oder gar nicht entscheidet, darf auf Gottes Vergebung
hoffen.
Dass diese Sichtweise sowohl Tora als auch Evangelium nur karikaturhaft verzerrt wiedergibt, muss hier nicht diskutiert werden; zu fragen aber bleibt, was ein „lebendiges Gewissen“ sein soll und was dieses dem Menschen tatsächlich sagen kann, wenn in der Pose der Nachdenklichkeit und „Anfechtung“ grundsätzlich alle Handlungsalternativen von vornherein verworfen werden. Ist die Rede vom angefochtenen Gewissen hier nicht bloß eine prätentiöse rhetorische Figur, mit der sich ein Mensch moralisch schmückt, der seine konkreten Entscheidungen aber keinerlei Kritik unterwirft, weil sie allesamt der Tragik des menschlichen Daseins zuzurechnen seien? In dieser Perspektive bleibt wohl tatsächlich nur die intensiv empfundene Hoffnung auf Gottes Vergebung – aber das muss man fast eine andere Religion nennen, denn nach den Evangelien gilt die Zusage der Vergebung Gottes dem reuigen Menschen, der umkehrt von seinen falschen Wegen und sich zuerst mit seinem Bruder versöhnt, bevor er zum Altar tritt (Mt 5,23f); sie gilt nicht demjenigen, der leugnet, dass es ein gerechtes Tun gibt und sich allein auf sein tragisch-subjektives Angefochtensein beruft.
Prononcierter kann man die kurze Reflexion, die Niemöller hier vorträgt, wohl als Herzstück einer Tätertheologie bezeichnen, die den religiösen Ermöglichungsgrund für die Teilnahme an jeder nur denkbaren Art von Taten bereitstellt. Wenn ohnehin jedes Handeln schuldig macht, dann spielt es keine Rolle, an welchen Taten man sich letzten Endes beteiligt. „[W]o alle schuldig sind, ist es keiner“[9], schreibt Hannah Arendt, und dieser Gedanke charakterisiert die Theologie, mit der wir es hier zu tun haben, als eine umfassende Entmoralisierungsstrategie. Zahlreiche NS-Verbrecher haben sich nach der Schoa mit Figuren dieser Tätertheologie – insbesondere mit dem Verweis auf ihren subjektiv guten Willen bei objektiv „tragischen“ Anforderungen – zu rechtfertigen versucht.
Martin Niemöller sah sich in Dahlem indessen mit Anforderungen konfrontiert, die ihn bald weit von diesem Ausgangspunkt seines theologischen Denkens wegtrugen. Mir scheint, dass er den beginnenden Kirchenkampf einerseits zwar als eine sehr ernste Angelegenheit erlebte, andererseits aber als eine Herausforderung zum Bekenntnis, auf die er durchaus freudig zuging. (Auch in dieser Situation hätte er leicht einen Gewissenskonflikt sehen können: Ist es recht, sich mit der staatlichen Obrigkeit anzulegen, wenn man dadurch eventuell Leib und Leben seiner Familie gefährdet? Dieses Mal aber gab es für ihn kein Zögern.)
Am 30. Januar 1937 zieht Niemöller in einem
Gottesdienst eine Bilanz
der ersten vier Jahre der NS-Herrschaft. Er spricht davon, dass in
diesen
vier Jahren „Tausende von evangelischen Christen Bekanntschaft mit der
Polizei
gemacht haben“ und erwähnt offen – wie auch schon in den
Jahren
zuvor –, „daß Hunderte von evangelischen Predigern
kürzere
oder längere Zeit in Gefängnissen und Konzentrationslagern
festgehalten
wurden“ (HJC 109)[10].
Bedrückender
noch als diese erwartbaren Einschüchterungsmaßnahmen sei
für
ihn aber die Tatsache, „daß die Kirche selber in Gefangenschaft
geraten
ist“ (HJC 110), womit er sich auf die Kämpfe um die
Unabhängigkeit der Kirchenleitungen bezieht, die in den
Auseinandersetzungen um die von
der NS-Regierung eingesetzten Kirchenausschüsse einen bitteren
Höhepunkt
erreicht haben.[11]
Zugleich
aber zögert Niemöller nicht, die Situation der Kirche der
Gegenwart
mit der Gefangenschaft des Paulus zu vergleichen: Paulus habe
schließlich aus seiner Gefängnishaft an die Gemeinde von
Philippi geschrieben, dass
Gottes Wort durch Gefängnismauern nicht aufzuhalten sei (Phil
1,12–21).
Aus dem stummen Gefängnis sei ein lautes Zeugnis für das
Evangelium
geworden, und diese einzigartige Gelegenheit zum Zeugnis habe auch die
verfolgte
Kirche der Gegenwart:
„Liebe Gemeinde, wer von uns möchte eigentlich – im Rückblick
auf
die vier Jahre – als Christ wieder in der Zeit vor 1933 leben? Wer von
uns
wüßte nicht etwas von dem Segen dieser Jahre kirchlicher
Gefangenschaft,
die zur Förderung des Evangeliums haben dienen müssen?“ (HJC
115)
Aus diesen Worten ist weniger Tapferkeit als eine gewisse Begeisterung
zu
spüren: Das christliche Leben hat wieder einen Zeugnischarakter,
es
hat nichts mehr gemein mit dem bequemen Kulturchristentum – man muss
für
seinen Glauben einstehen, und das kann nur ein Segen sein.
So ging es für Niemöller in dieser Situation zuallererst um
das
Evangelium, das verkündet werden soll, und das hat Bedeutung in
zweierlei
Hinsicht. Erstens: Der Vorwurf, der gelegentlich gegen die Bekennende
Kirche
erhoben wurde, es sei ihr lediglich um die unbehelligte Fortsetzung der
kirchlich-institutionellen
Arbeit gegangen, ist, zumindest was Niemöller anbelangt, nicht
stichhaltig.
Für Niemöller war das Funktionieren der Institution
keineswegs
das oberste zu bewahrende Gut; das Höchste, dem er dienen wollte
und
dem auch die Kirche zu dienen hätte, war das Wort Gottes allein,
die
Verkündigung des Evangeliums. Und wo diese Verkündigung vom
NS-Staat
behindert wurde, fielen vollkommen klare Worte.
Das heißt aber – zweitens –, dass in jenen Jahren nicht etwa Fragen der Menschenrechte, der Gerechtigkeit und des Schicksals der Verfolgten im Mittelpunkt von Niemöllers Aufmerksamkeit standen. Sein Denken und seine Arbeit drehten sich in erster Linie um die unerschrockene Verkündigung des Evangeliums, d.h. um das Evangelium als Botschaft des Christentums, die angenommen werden sollte, um das Bekenntnis zum Heiland Jesus Christus – nicht zuerst um die Werte des Evangeliums (wie etwa Nackte bekleiden, Hungernde speisen und Gefangene besuchen nach Mt 25).
Aus diesem Grund auch spielen die verfolgten Juden in den Dahlemer Predigten Niemöllers keine Rolle. Als Juden haben sie das Evangelium von Jesus Christus nicht angenommen und teilen somit nicht das, wofür Niemöller bereit ist, alles hinzugeben. Antijüdische Bemerkungen sind dementsprechend in den Texten immer wieder anzutreffen. Allenfalls können Christen jüdischer Herkunft, die als Prediger an der Verkündigung des Evangeliums gehindert werden, auf Niemöllers Unterstützung rechnen.
Anders als es gegenwärtige Klischees vom Widerstand gegen die Nazis wollen (und die dann manche Autoren zu „Enthüllungen“ veranlassen, wenn sie entdecken, dass die Dinge anders liegen), wird man über Niemöller in seiner Dahlemer Zeit sagen müssen: Er sah sich nicht als politischer Gegner des Nationalsozialismus, er war kein Verteidiger der Menschenrechte oder gar der Demokratie – er war ein Verteidiger des Evangeliums.
Eine neue Welle der Verfolgung
Wenige Wochen später ändert sich der Ton von Niemöllers Predigten radikal. Der Bittgottesdienst vom 7. April 1937 markiert einen deutlichen Einschnitt. Mit einem Mal ist nichts mehr zu spüren vom kämpferischen, fast freudigen Geist des Eintretens für das Evangelium. Große Nüchternheit und die Suche nach Trost – nicht mehr im „Sichtbaren“, sondern „allein bei Gott“ – herrschen vor. Den Grund dafür spricht Niemöller offen an: Eine neue Verfolgungswelle hat begonnen. Es kommt vermehrt zu Verhaftungen, Beschlagnahmen kirchlicher Schriften, Enteignungen von Druckereien...
„Und wenn wir heute und gestern und vorgestern in der Zeitung gelesen haben von Prozessen gegen katholische Geistliche, so zeigt uns das nur, daß die Verordnung des Führers vom August vorigen Jahres, nach der in kirchlichen Prozessen keine Hauptverhandlungen stattfinden durften, liquidiert worden ist, und daß die Verfahren nicht nur gegen katholische, sondern auch gegen evangelische Geistliche und Laien wieder in Gang kommen.“ (HJC 181)
Das ist nun nicht mehr das Erwartbare – Angst und Schrecken machen sich breit:
„Wenn heute ein Bote Jesu Christi festgesetzt wird wegen seines Bekenntnisses, dann ist es nicht so, wie noch vor zwei Jahren, daß andere dafür aufstehen, sondern daß die anderen es mit der Angst kriegen. Ich habe Beispiele genug erlebt, noch vor wenigen Wochen, kurz vor meinem Urlaub. Wir hatten einen Mann, der für uns druckte; er wurde verhaftet und nach einer Zeit wieder freigelassen, aber drucken tut er nicht mehr, der Mann wagt es einfach heute nicht mehr. Und darauf hat es der Feind ja abgesehen, daß alles eingeschüchtert wird; das ist ja seine Absicht, das Wort Gottes so zu binden, daß es nicht mehr laut wird.“ (HJC 183)
Niemöllers erste Reaktion auf die veränderte Lage besteht darin, der äußeren politischen Wirklichkeit in einer großen Anstrengung des Glaubens die Wirklichkeit Gottes entgegenzuhalten. Nur „durch ein gewaltiges Aber“ lasse sich „aus der Trübseligkeit des wirklichen Zustandes“ ausbrechen und das Bekenntnis aufrechterhalten, dass Gottes Wort weiterhin nicht gebunden sei (HJC 183). Nicht mehr das mutige Vorangehen, sondern das tapfere Aushalten ist nun gefordert:
„[...] ich meine, es geht heute im gewöhnlichen Alltag unseres Lebens, mitten in dieser Welt, bereits um das eine, um dieses Entweder-oder: ‚Dulden wir?‘ oder ‚Verleugnen wir?‘, und jene Brüder und Schwestern, die um des Evangeliums willen leiden und dulden wie die Übeltäter, verkündigen eben mit ihrem Leiden, daß Gottes Wort nicht gebunden ist, daß es frei und ungebunden waltet, daß Gottes Wort stärker einschließt als eine Gefängnistür und eine Konzentrationslagertür, stärker bindet, als irgendeine irdische Macht binden kann – und wenn sie noch so viel Kerkertüren und Konzentrationslagertore aufmacht! –, weil das Wort Gottes eine Freiheit schafft, die keine Macht der Welt uns zu geben vermag.“ (HJC 185f)
Auf längere Sicht aber können die Appelle zum Durchhalten nicht genügen, besonders wenn, wie Niemöller am 2. Mai 1937 sagt, „es nicht so aussieht, als ob der Kampf leichter würde oder bald von uns genommen würde“ (HJC 194). Hier zeigt sich, dass das, was er der Gemeinde vorträgt, keineswegs allzeit gültige Verkündigung ist, die so oder ähnlich Jahr für Jahr wiederholt werden könnte. Niemöller nimmt seine Gemeinde in ihrer konkreten gegenwärtigen Situation ernst, er behelligt sie nicht mit billigen Existentialismen („In jedem Leben gibt es dunkle Zeiten ...“), sondern versucht, vom Wort Gottes her präzise zur Lage des jeweiligen Tages zu sprechen. Dabei führt er als Pastor nicht die wünschenswerte aufrechte Haltung vor, sondern macht auch aus seiner eigenen Fassungslosigkeit kein Hehl:
„Mich hat doch innerlich seit langem nichts mehr so erschüttert wie das Wort, das ich in der vergangenen Woche aus dem Munde eines einsam gewordenen Amtsbruders hörte, dem ich auf dem Friedhof begegnete. ‚Ach, lieber Bruder‘, sagte er mir, ‚die Barmherzigkeit unter den Menschen ist gestorben.“ (HJC 195)
Nicht nur die zunehmende Verfolgung, sondern auch die voranschreitende Faschisierung der deutschen Gesellschaft findet in diesen Worten ihren Niederschlag. Unbarmherzigkeit breitet sich aus. Zugleich kündigt sich hier bereits leise an, dass neben der Verkündigung Christi auch dessen Werte der Menschlichkeit wichtiger werden. Fast flehend versucht Niemöller nun, der Gemeinde zum Festhalten an Christus und an seiner Liebe Mut zu machen:
„Wir trösten uns leicht mit der Härte dieser Zeit; aber wir sollten uns so nicht über unsern Mangel an Liebe und Barmherzigkeit hinwegtrösten, sondern wir sollten es ruhig eingestehen, daß diese Zeit ganz kräftig dabei ist, uns von der Liebe Christi zu trennen; wir sollten es eingestehen, damit wir umkehren und uns besinnen auf das Wort, das wir vergessen haben, das Wort, das Gott mit uns spricht von der Gnade über den Sünder; wir sollten es eingestehen, damit wir uns neu schenken lassen, was uns verlorenzugehen droht.“ (HJC 196)
Eingestehen: Dieses Wort gehört nicht ins Vokabular der furchtlosen Bekenner oder der verfolgten Opfer. Es ist eine Vokabel der Täterschaft, der schleichenden, bewussten oder unbewussten Einwilligung in die Faschisierung der Gesellschaft. Niemöller nimmt seine Gemeinde der Dahlemer Getreuen davon nicht aus. Die Unbarmherzigen, die immer Barbarischeren, die dem Nationalsozialismus sich immer mehr Angleichenden sind nicht immer nur „die anderen“[12].
Dass man sich sein eigenes Versagen in dieser politischen Situation eingestehen kann, hat zahlreiche Implikationen. Hier werden Keimlinge einer anderen Theologie sichtbar. Das hat nichts mehr zu tun mit dem privaten Eingestehen diverser moralischer Unvollkommenheiten. Wer hier Niemöller folgte, verstand sich bereits als Akteur in einem gesellschaftlich-politischen Verantwortungsgeflecht. Wer sich hier etwas eingestehen konnte, war bereit, in sich erneut Kräfte der Widerständigkeit zu wecken. Zugleich bedeutete das den Abschied von der selbstgewissen Haltung: „Wir sind Christen, wir sind die Anständigen“. Die immer zu schnell gezogene Scheidelinie zwischen Opfern und Tätern wird nun problematisch; die von vielen bereitwillig vollzogene Selbststilisierung als Opfer wird erschwert. Eine neue, realistischere christliche Selbsteinschätzung beginnt, Platz zu greifen. Und die christliche Hoffnung auf die „Gnade über den Sünder“ ist jetzt klar an die Umkehr gebunden.
Niemöller sieht, wie sich darüber das Christsein verändert. Eine Woche später, am 8. Mai 1937, benennt er die Veränderung bereits als eine Art Abschied vom Kulturprotestantismus:
„Das ist wohl das besondere Kennzeichen unserer Tage, und darin unterscheidet sich unser heutiges Christsein von aller Frömmigkeit, von der wir herkommen, daß wir wieder von neuem lernen, wie das Reich Gottes keine friedliche Verschmelzung eingeht mit irgendwelchen Reichen dieser Welt, ob diese Reiche nun auf äußere Macht oder auf geistige Kultur oder auf beides gleichzeitig sich gründen mögen.“ (HJC 198)
Die Identifikation des Reiches Gottes mit „irgendwelchen Reichen dieser Welt“ – und schienen sie noch so kompatibel mit christlichen Werten – ist endgültig unmöglich geworden. In diesem Punkt war Niemöller immer schon zurückhaltend, aber nun entspricht das nicht nur theologischen Grundsätzen, sondern ist dem Gang der Ereignisse selbst zu entnehmen. Das NS-Regime wird nun als „der Feind“ bezeichnet (HJC 183). Und das ist ein ganz grundlegender Schritt.[13] Das Reich Gottes erscheint nun in einem prinzipiell kritischen Kontrast zu allen menschlichen Versuchen, sich in der Welt zu beheimaten. Die bürgerliche Vorstellung, in einer Welt zu leben, die im Großen und Ganzen in Ordnung ist und bestenfalls einiger karitativer Korrekturen bedarf, ist zerbrochen.
„Wir leben heute als Christenmenschen auf dieser Erde nicht mehr in jener naiven Gläubigkeit wie noch vor ein paar Jahren, als ob wir hier eine geruhsame und gesicherte Heimat hätten, aus der es lediglich mit dem Tode auszuwandern gilt in eine noch bessere, noch friedvollere, noch gesichertere Heimat, sondern wir wissen, daß wir mit dem Herrn Christus Gäste und Fremdlinge sind auf Erden und daß es nicht Zufall ist, dass uns in unseren Tagen ein Kampf verordnet ist [...]“ (HJC 199).
Die Sicht der menschlichen Geschichte verändert sich: Die Kämpfe mit den irdischen Mächten sind kein Zufall, sondern die klare Konsequenz aus der Tatsache, dass die „Christenmenschen“ sich als einem Reich zugehörig verstehen, das „nicht von dieser Welt“ ist. Dementsprechend geht es im Christenleben auch nicht mehr um eine möglichst reibungsarme Kontingenzbewältigung, sondern um das entschiedene Zeugnis für das Reich Gottes, um kritische Distanz zu den Reichen dieser Welt, um das tapfere Kreuztragen in der Verfolgung. Dass die Gemeinde Jesu damit „Schmach und Leiden“ auf sich zieht, hat durchaus „seine Richtigkeit“; verheißen ist ja nicht ein bequemes Erdenleben, sondern die Erwartung „eines neuen Himmels und einer neuen Erde“ (HJC 199).
Wo die christliche Gemeinde sich solchermaßen nicht mehr in einem bürgerlichen, sondern in einem widerständigen Paradigma verortet, werden auch die apokalyptischen Töne des Neuen Testaments besser verstehbar: Das angekündigte „Ende aller Dinge“ (1 Petr 4,7) mag für den bürgerlichen Menschen „schreckender Posaunenton des Jüngsten Gerichts“ gewesen sein; nun aber wird es hörbar „als Frohe Botschaft, als tröstliche Antwort“ (HJC 200). Und „angesichts des kommenden Endes“ (HJC 204) gewinnen neben dem „Bekenntnisbetrieb, der nur Betrieb ist“ (HJC 205) auch die Werte der Solidarität wachsende Bedeutung: „die unscheinbare, helfende Tat, das freundlich tröstende Wort, das Offensein für die fragende Not des Bruders“ (ebd.). Christus selbst verbirgt sich „in dem Bruder an unserer Seite“ (HJC 225), dessen Durst und Hunger gestillt werden sollen.
Gewiss: Niemöller hat hier weiterhin primär die „Leiden vieler Christenbrüder“ (HJC 226) vor Augen, angesichts deren er die Gemeinde zur Verantwortung ruft. Andere, nichtchristliche Verfolgte kommen noch nicht explizit in den Blick. Dennoch hat das solidarische Handeln gegenüber der Verkündigung des Wortes Gottes mehr Gewicht bekommen. Und die Wirklichkeit der Welt – die „Königsherrschaft des Todes“, der Hass der Menschen, die Feindschaft der Welt (HJC 221) – soll nun nicht mehr mit Blick auf die Wirklichkeit Gottes relativiert werden, sondern gilt als Betätigungsfeld für die Verwirklichung der Liebe. Und in dem Maße, wie Christsein als Widerstehen gegenüber den Gewaltmächten der Welt entdeckt wird, erschließen sich auch biblische Texte sehr viel unmittelbarer, als das im bürgerlichen Christentum möglich war:
„Ich muß sagen, mir ist in dem Zusammenhang dieser Bibelstelle – die ich doch von Jugend auf kenne – am heutigen Tage erst aufgegangen, daß der Herr Christus der Jüngergemeinde sagt: ‚Ihr werdet geschmäht werden und verfolgt werden, ihr werdet diffamiert werden, und zwar mit Lügen‘, und darauf: ‚Ihr seid das Salz der Erde; ihr seid das Licht der Welt!‘“ (HJC 243)
„Erst in diesen Tagen ist mir klar geworden, erst seit heute verstehe ich, was der Herr Christus meint: ‚Nehmt nicht das Scheffelmaß! Ich habe das Licht nicht angezündet, damit ihr es unter den Scheffel stellt, um es vor dem Wind zu schützen. Weg mit dem Scheffelmaß! Das Licht gehört auf den Leuchter! Es ist nicht eure Sorge, ob das Licht von dem Luftzug ausgelöscht wird.‘“ (HJC 246)
Dass sich im letzten Zitat auch der Abschied von der
Kategorie des Erfolgs
ankündigt, verbindet Niemöller und seine Gemeinde mit vielen
christlichen
Widerstands- und Befreiungsbewegungen in allen Zeiten und Erdteilen.
Tatsächlich
kann es seit Frühjahr 1937 für die bekennenden Christinnen
und
Christen in Deutschland nicht mehr um Erfolg, sondern nur noch um das
Festhalten
an der Wahrheit gehen, denn die Lage ist „so dunkel und unsicher wie
nur
möglich“ (HJC 242); die im Gottesdienst regelmäßig
verlesene Fürbittenliste mit den Namen der von Redeverboten,
Ausweisungen und
Verhaftungen Betroffenen „ist nun erschreckend lang geworden“ (HJC
238);
„[d]ie Bedrängnis wächst“ (HJC 259). Neben zahlreichen
repressiven
Maßnahmen gegen die Bekennende Kirche – u.a. der
Schließung
der Predigerseminare – wurden allein im Jahr 1937 fast 800 Pfarrer
und
Kirchenjuristen der Bekennenden Kirche vor Gericht gestellt.
In seiner vorletzten Gemeindepredigt, bevor er selbst verhaftet wurde,
sprach
sich Niemöller – am 19. Juni 1937 – noch einmal
entschieden
gegen allzu große Leisetreterei und Diplomatie aus (wie sie etwa
in
folgender Redeweise zum Ausdruck komme: „Um Gottes willen, redet doch
nicht
so laut, ihr kommt ja sonst ins Gefängnis“, HJC 247). Ein
bekanntes
Jesuswort deutet er neu im aktuellen Kontext der Verfolgung:
„Die stumme Kirche, die nicht mehr sagt, wozu sie da ist, verleugnet
sich
selbst. Das Wort Gottes laut zu verkündigen, das ist unser Dienst;
aber
daß die Kirche weiterlebt und nicht umgebracht wird, daß
das
Licht nicht ausgepustet wird, Freunde, das ist nicht unsere Sache. ‚Wer
sein
Leben erhalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert
um
meinetwillen, der wird’s finden.‘ Und das gilt vom Leben der Gemeinde
genau
so, wie es im Leben des einzelnen Christen seine Geltung hat. Das
heißt
doch wohl praktisch: ich muß heute noch mal so reden, vielleicht
kann
ich es am nächsten Sonntag nicht mehr; ich habe euch das heute
noch
einmal mit aller Deutlichkeit zu sagen – denn wer weiß, was
am nächsten Sonntag ist!?“ (HJC 247)
Am 1. Juli 1937 wurde Niemöller von der Gestapo verhaftet und ins Untersuchungsgefängnis Moabit verbracht. Nach einer Gerichtsverhandlung am 2. März 1938 wurde er umgehend ins KZ Sachsenhausen eingeliefert; am 11. Juli 1941 erfolgte die Überführung ins KZ Dachau.[14]
Im Konzentrationslager Dachau
Aus den letzten Monaten von Niemöllers Gefangenschaft im Lagerarrest des KZ Dachau (im sog. „Bunker“, nicht im Häftlingslager) sind sechs Predigten überliefert.[15] Natürlich unterschied sich die Situation radikal von jener der Gemeindegottesdienste; die Gemeinde bestand nun aus einer kleinen Gruppe von Mitgefangenen, die kaum Ähnlichkeit mit den bekennenden Christen in Dahlem hatte:
„Ein holländischer Minister, zwei norwegische Reeder, ein englischer Oberst aus der indischen Armee, ein jugoslawischer Diplomat und ein mazedonischer Journalist bildeten die kleine Gemeinde, der ich zum ersten Male seit siebeneinhalb Jahren am heiligen Abend 1944 im Zellenbau (Kommandantur-Arrest) des Lagers Dachau einen Gottesdienst halten durfte. [...] Dabei war unsere Gemeinde fast ebenso reich an Konfessionen wie an Nationen: Calvinisten, Lutheraner, Anglikaner und Griechisch-Orthodoxe fanden sich hier zusammen, fast alle Einzelgänger, die von ihrer kirchlichen Gemeinschaft ebenso abgeschnitten und getrennt waren wie von ihren Familien und Freunden.“ (DAH 3)
Niemöller geht es in den Predigten vor dieser „Gemeinde“ immer darum, möglichst genau auf die Situation der Gefangenschaft einzugehen und darüber vom Evangelium her zu sprechen. Ein wichtiges Thema ist – von Weihnachten bis Ostern – die Gefahr der Verbitterung und des Defätismus. Im Weihnachtsgottesdienst am 24. Dezember 1944 spricht sie Niemöller umgehend an:
„So kommt’s denn, daß wir uns in diesen Tagen unsrer selbst sehr wenig sicher fühlen und eigentlich beständig fürchten, daß wir vor uns selbst die Haltung verlieren könnten. Das Bitterwerden unter der uns aufgelegten Last und das Aufbegehren gegen unser Los sind uns da besonders nahe, und wir haben mit einer ganzen Fülle widerstreitender Gefühle in unsrer Brust zu ringen.“ (DAH 5)
Man kann sich leicht ausmalen, dass in dieser Lage die Versuchung groß ist, zu einem wieder stärker spiritualisierten, aufs Innerliche bezogenen Glauben Zuflucht zu nehmen. Dagegen aber stemmt sich Niemöller mit aller Kraft. Er hält fest, „daß unser Glaube niemals ein bloßes Ruhekissen sein kann und darf“ (DAH 24), und beschreibt den tätigen Weltbezug als ein unverzichtbares Konstitutivum des christlichen Glaubens:
„Deshalb ist ein Christentum, das sich selber isoliert, das der bösen Welt ihren Lauf läßt und sich damit begnügt, auf ein besseres Jenseits zu hoffen, nicht mehr als ein Zerrbild, eine törichte Karikatur. – Das Erdenleben Jesu selber wie das Wirken seiner Apostel erweist es, wie das Evangelium eine Kraft Gottes ist, die immer vorwärts drängt zur Tat, zum Wirken, solange es Tag ist; und wo jemals wirklicher, lebendiger Christusglaube gewesen ist, da ist Arbeit geleistet worden [...]“ (DAH 24)
Wie aber können KZ-Häftlinge tätig sein? Der Zweck ihrer Haft besteht ja gerade darin, sie von weiterem Tätigsein abzuhalten. Heißt nicht „das Los, das Gott uns zugewiesen hat, Einsamkeit“? Niemöller will das nicht gelten lassen. Er sieht darin eine Gefahr:
„Es wäre verhängnisvoll für uns, wenn wir uns in diese Überzeugung hineinverrennen würden, um damit alle Verantwortung von uns zu werfen und auf Gott zu schieben, der uns in diese Lage gebracht hat. – In Wirklichkeit sind wir ja doch von Gott gerufen zu seinem Dienst, und keiner von uns macht da eine Ausnahme [...] “ (DAH 25)
Dies ist in meinen Augen einer der bewegendsten Gedanken in den Dachauer Predigten: Eine der zerstörerischsten Gefahren für den politischen Gefangenen liegt darin, den Sinn für die eigene Verantwortung zu verlieren und stattdessen mit Gott zu hadern und ihm die Verantwortung für die persönliche Lage zuzuschieben. Auf diese Weise wird aus dem Widerstandskämpfer, der genau wusste, warum er sich an oppositionellen Aktivitäten beteiligte, und der die Gefahr der Verfolgung bewusst auf sich nahm, schließlich doch noch ein Opfer – ganz im Sinne seiner Verfolger.
Niemöller kämpft hier darum, sich und seine Mitgefangenen nicht zu Opfern machen zu lassen. Der Kampf geht dahin, im Widerstand zu bleiben, sich nicht dem Fatalismus zu ergeben, aus dem heraus man dann nur noch die Theodizeefrage wälzen kann. Die Theodizeefrage ist hier ein Kennzeichen von Fatalismus und Viktimisierung. Dem darf man – wenn es irgend möglich ist – nicht nachgeben. Es ist eine Frage des Überlebens. Sobald der Gefangene es nicht mehr schafft, sich als handelndes Subjekt zu verstehen, schwinden seine Kräfte des Standhaltens.
Selbst in der Holocaust-Literatur – d.h. selbst mit Blick auf die als Juden Verfolgten, die nicht wegen oppositioneller Aktivitäten, sondern wegen ihrer Abstammung verfolgt und deportiert wurden – spielt die Frage des Subjekt-bleiben-Könnens eine Rolle. So wird man beispielsweise Imre Kertesz’ Roman eines Schicksallosen als einen großen Text des Widerstehens gegen die Annahme einer Opferrolle, eines Schicksals, lesen dürfen: Der jugendliche Ich-Erzähler legt auf jeder Seite des Buchs den größten Wert darauf, kein passives Opfer gewesen zu sein, sondern ein Handelnder, ein mit Anstand Handelnder. Nach seinem Erleben „war es nicht einfach so, daß die Dinge ‚kamen‘, wir sind auch gegangen. [...] Jeder hat seine Schritte gemacht, solange er konnte: auch ich, und das nicht nur in der Kolonne in Birkenau, sondern schon hier zu Hause. [...] Ich und kein anderer hatte meine Schritte gemacht, und ich behaupte, mit Anstand.“[16]
Dieses Beharren darauf, auch im KZ seinen Weg „mit
Anstand“ gegangen zu
sein, ist ein verbissenes Festhalten an der eigenen Subjekthaftigkeit
in
einer Situation, die darauf abzielt, einen zum Opfer zu machen. Es ist
Widerstand
dort, wo die Möglichkeit, Widerstand zu leisten, kaum mehr
erkennbar
ist.
Gewiss hatten viele KZ-Häftlinge nicht diese Chance, sich als
Handelnde
zu verstehen und so den Opferstatus abzuwehren, deshalb darf der Kampf
gegen
die Viktimisierung nicht zur moralischen Forderung erhoben werden.
Wichtig
ist es aber zu sehen, dass solche
Kämpfe von vielen Gefangenen in den Lagern tatsächlich
geführt
wurden.
Niemöller führt in Dachau diesen Kampf auch auf dem theologischen Feld: indem er gegen die Vorstellung predigt, es sei sinnvoll, Gott für das „Schicksal“ der eigenen KZ-Haft verantwortlich zu machen und anzuklagen. Denn das wäre die Einwilligung ins Opferdasein. Gott sei nicht anzuklagen, mit Gott sei nicht zu „rechten“ – vielmehr solle Gottes Ruf weiterhin gehört werden: Jener Ruf, der ihn und seine Mitgefangenen bereits in Widerstandsaktivitäten hineingeholt habe, sei auch weiterhin wahrzunehmen. Deshalb gebe es auch im KZ etwas zu tun. Im oben begonnenen Zitat fährt Niemöller fort:
„In Wirklichkeit sind wir ja doch von Gott gerufen zu seinem Dienst, und keiner von uns macht da eine Ausnahme [...] So einsam sind wir in unserer Isoliertheit ja doch nicht, daß wir nicht noch den christlichen Bruder an unserer Seite hätten, an den wir als an unsern Nächsten durch Gottes Gebot gewiesen sind, auf daß wir ihm zur Förderung und nicht etwa zum Hemmnis für seinen Glauben werden sollen; und selbst dann, wenn wir wieder in strenger Einzelhaft wären, Gottes Ruf an uns bliebe in Kraft.“ (DAH 25)
So stellt Niemöller gegen den drohenden Fatalismus den Ruf in die Verantwortung. Gegenüber den verschiedenen Formen der Theodizeefragen, der Verunsicherung, des Haderns mit Gott zeigt er sich ablehnend, weil er um ihre verhängnisvollen Auswirkungen weiß. Es geht ihm dabei aber nicht bloß um eine Überlebensstrategie, sondern um ein theologisches Problem.
Die Gefühle der Gottverlassenheit kennt er selbst und äußert sie auch. Er spricht vom Schweigen Gottes („Er antwortet kein Wort“, DAH 39) und davon, dass „Gott oft so unendlich ferne zu sein scheint, daß wir meinen, er kümmere sich um unseren Planeten nicht. Es sieht ja auch in der Tat so aus, als hätte er diese Welt sich selbst überlassen, damit die Menschen sie vollends zugrunde richten.“ (DAH 6) Seine theologischen Bedenken dagegen, bei diesen zermürbenden Gedanken allzu lange zu verweilen, dürften etwas zu tun haben mit seinem Abschied vom bürgerlichen Christentum, den er in Dahlem vollzogen hat.
Christentum ist eben in seinen Augen nicht mehr ein „bloßes Ruhekissen“, es ist nicht Kontingenzbewältigung und Hoffnung auf ein noch angenehmeres Leben nach dem Tode. Es ist nicht die Verheißung eines rundum behüteten Lebens, weshalb es auch nicht darum gehen kann, Gott den eigenen Vorstellungen von einem guten Leben dienstbar zu machen. Christentum ist das Antworten auf Gottes Ruf und in der Folge das Verlassen aller bürgerlichen Sicherheiten. Wer sich darauf einlässt, muss auf Schmähungen, Verleumdungen und Verfolgung gefasst sein: auf das Kreuz. In dieser Perspektive erscheint es als widersinnig, Gott wegen unterwegs erfahrener Widrigkeiten anzuklagen. In solcher „Kritik Gottes“ setze man zudem den „eigenen Begriff von Gerechtigkeit gegen die grund- und uferlose Liebe Gottes, von der wir doch allein selber leben können“ (DAH 31). Es gelte deshalb, nicht auf halbem Wege umzukehren und seine Ansprüche einzuklagen, sondern weiter auf dem Weg zu Gott zu bleiben und zu erkennen, dass seine Gnade und Liebe bereits eine Brücke zu uns gebaut haben.
„Die Brücke zwischen Gott und mir stürzt ein, wenn ich mich auflehne, wenn ich Gott für sein Tun oder Lassen zur Rechenschaft zu ziehen versuche und mich so zu seinem Richter mache. Und diese Brücke bleibt unbegangen und darum nutzlos, wenn ich resigniere, wenn ich aus Gottes Schweigen oder Reden ein endgültiges Nein heraushöre, um mich dann dahineinzufinden und mich von ihm zurückzuziehen.“ (DAH 41)
Es ist deutlich, dass Niemöllers Kritik der Theodizeefragen sich aus seiner Perspektive als politischer Häftling ergibt: aus der Ablehnung eines bürgerlichen Christentums und aus dem Widerstand gegen den Fatalismus im KZ. Andere Gefangene, die etwa im Holocaust ihre Angehörigen verloren haben, würden sich von seinen Gedanken womöglich nicht davon abhalten lassen, ihre Klagen und ihre Verzweiflung vor Gott zu bringen. Zudem zeigt auch die alttestamentliche Tradition, die ja eindrucksvolle Gestalten des Protests gegen Gott kennt, dass Niemöllers Position hier keineswegs Universalisierbarkeit beanspruchen kann. Sie kann nur sinnvoll gewürdigt werden, wenn sie in ihrem partikularen Kontext gelesen wird, den Niemöller ja auch immer angibt. Niemöllers Thema sind die Christen, die (wie in Dahlem) zu Mittätern werden können, wenn sie nicht widerstehen; sein Thema sind auch die Gefangenen, die (wie in Dachau) zu Opfern werden können, wenn sie nicht im Widerstand bleiben. Sein Thema sind hier nicht die Opfer: die Überwältigten ohne Handlungsspielraum.
Was Niemöller anstelle von Klagen und
Theodizeefragen vorschlägt,
bewegt sich nicht auf der Ebene der schlüssigen Argumentation.
Eher
ist von einem Gegenentwurf zu sprechen. Gegen die Empfindung der Ferne
oder
des Schweigens Gottes stellt er seinen Mithäftlingen anheim, sich
der
Botschaft des Weihnachtsevangeliums zu öffnen:
„Du brauchst nicht auf die Suche zu gehen nach Gott; du darfst nicht
meinen,
er sei dir fern und kümmere sich nicht um das, was dich
drückt!
– Er ist da und ist dir nahe in dem Manne, der als ein Kind in Windeln
gewickelt
in der Krippe lag. [...] er wird endlich der Mann der Schmerzen, der
von
seinem eigenen Jünger verraten, von keinem seiner Freunde
verstanden
und selbst von Gottes Hand im Stich gelassen, sein irdisches Leben am
Kreuz
beschließt, und das heißt am Galgen: ‚Sehet, welch ein
Mensch!‘
[...] Aber Gott hat seine eigene Überschrift über dieses
Leben
gesetzt; er läßt uns von diesem Kinde sagen: ‚Euch ist heute
der
Heiland geboren, welcher ist Christus der Herr!‘“ (DAH 9f)
„Du brauchst nicht auf die Suche zu gehen nach Gott ...“ – so etwas
kann
man nur im Singular aussprechen, so, wie man zu einem einzelnen Freund
spricht.
Ein solcher Satz verträgt kein „Ihr“ und kein „Liebe Freunde“ – er
ist
ein Zeugnis des eigenen Glaubens. Man liest leicht über solche
Sätze
hinweg, so traditionell klingen sie zunächst. Aber hier spricht
ein
KZ-Häftling im achten Jahr seiner Gefangenschaft, einer der in der
Haft
selbst Zeiten der Verzweiflung kennen gelernt hat[17], einer, der eben noch von der
Gottesferne
in der Isolation der Einzelhaft gesprochen hat. Und wie er nun das
Weihnachtsevangelium
entfaltet, korrespondiert jedes Detail mit dieser Situation: Jesus ist
– ähnlich
wie die Gefangenen in Dachau – der Verratene, Unverstandene, von
Gott
Verlassene, vom Tode bedrohte und schließlich Ermordete. Jesus
ist
der Andere und doch nahe.
Dass das schutzlose Kind und der am Kreuz zu Tode Gefolterte nun der „Heiland“, der Retter der Welt sein soll, entbehrt jeder Plausibilität – aber in der fehlenden Plausibilität liegt auch der springende Punkt. Niemöller weiß, dass das nicht argumentativ entwickelt werden kann, und er weiß, dass man um eine solche Sicht der Dinge ringen muss, nach ihr greifen muss – sie legt sich nicht nahe. Sie ist das Gegenteil aller Plausibilitäten dieser Welt, aller Herrschaft durch Gewalt. Sich dieser Sicht zu öffnen ist ein Akt des Widerstands gegen die Mächte dieser Welt. Es ist ein aktives Erfassen, nicht ein bloß zustimmendes Nicken zu etwas Einleuchtendem, zu dem Niemöller ermuntern möchte, ein Akt des Widerstehens, der einen bewahren kann, zum Opfer zu werden: „Wer das im Glauben fassen kann, der ist auch im Gefängnis und im Sterben nicht verlassen ...“ (DAH 9). Glaube ist demnach auch etwas anderes als die gehorsame Zustimmung zu den von der Kirche vorgelegten Sätzen; „es bleibt in allen Fällen etwas besonderes um diese Erkenntnis; sie kommt nicht wie ein Naturereignis und zwingt sich den Menschen auf, ob sie wollen oder nicht, sondern sie kommt als eine Frage, die eine persönliche Antwort von jedem Einzelnen will“ (DAH 19).
Niemöller rät also nicht zu einem Ausweichen
in die Innerlichkeit
oder in den Mythos, sondern zum geistigen und spirituellen Widerstehen.
Konsequenterweise
führt das dann auch dazu, selbst noch im Gefängnis sich
anderswo
beheimaten zu können: am Abendmahlstisch der Kirche Christi, wie
Niemöller am Gründonnerstag, dem 29. März 1944,
ausführt:
„Zu dieser großen Gemeinde derer, die den Tod ihres Herrn als
frohe
Botschaft verkündigen, gehören am heutigen Abend auch wir,
die
wir hier zu seinem Tische kommen: eine kleine Schar, ein jeder von uns
herausgerissen
aus seiner irdischen Heimat und dem Kreis der Seinen, wir alle der
Freiheit
beraubt und im Ungewissen über das, was uns der nächste Tag
oder
gar die nächste Stunde bringt; und trotz alledem: wir sind daheim!
Wir
essen und trinken am Tisch unseres himmlischen Vaters und dürfen
getrost
sein: es gibt nichts mehr, was uns von ihm losreißen und trennen
könnte [...]“
(DAH 51)
Die Predigten 1945 und 1946
Als Niemöller nach der Befreiung[18] im Sommer 1945 zu seiner Familie und im Herbst besuchsweise nach Dahlem zurückkehrte, überkam ihn selbst das Hadern mit Gott. Er hatte eine Tochter und einen Sohn verloren, ein zweiter Sohn war in Kriegsgefangenschaft, und in den Trümmern von Dahlem waren viele frühere Freunde nicht mehr anzutreffen. 1946 spricht er darüber in einer Predigt:
„Als sich mir das auf die Seele legte, da habe ich
gehört und gespürt,
wie mein Herz seufzte, wie es murrte: Mein Gott, war es noch nicht des
Leidens
und der Prüfung genug? [...] Mußte das auch noch sein,
daß
die Stunde der Rückkehr in meine irdische Heimat mir die Augen
dafür
auftun mußte, daß ich eine irdische Heimat nicht mehr habe?
[...]
Als ich sah, wie ich mein liebes deutsches Volk wiederfand, mein Volk,
an
dem ich gehangen habe und noch hänge mit jeder Faser meines
Herzens,
dies Volk, das nicht nur in der Tiefe der Not und im Abgrund des Elends
saß, sondern das obendrein bedeckt ist mit Schmach und Schande
vor aller Welt,
da hat mein Herz wiederum geseufzt und gemurrt und hat geschrien zu
Gott.“[19]
Aus diesen Eindrücken entwickelt sich in den Predigten,
Vorträgen
und Reden, die Niemöller seit Sommer 1945 an vielen Orten hält[20], nach und nach seine
theologische
Position weiter. Sein „Murren“ schlägt dabei weiterhin nicht in
ein Verzweifeln
an Gott und seiner Gerechtigkeit um, sondern rückt bald die
Begriffe
Sünde, Schuld und Vergebung ins Zentrum der Überlegungen.
In seinen Predigten versucht Niemöller, die Sache seinen
Zuhörern
und Zuhörerinnen so annehmbar wie nur möglich zu machen,
kommt
ihnen mit antijüdischen Klischees (von den „vielen Opfern und
Sühnevorschriften
des mosaischen Gesetzes“, GvH 8) entgegen, um ihnen den Gedanken von
der
christlichen Vergebung nahe zu bringen. Zugleich lässt er keinen
Zweifel
daran, dass ohne Anerkenntnis der eigenen Schuld auch in christlicher
Sicht
nicht von Vergebung geredet werden kann. Davon rückt er nirgends
ab,
damit macht er sich vielerorts unbeliebt und erntet Proteste.[21] Unbeirrt durch
zahlreiche
Schmähungen als Eiferer und Fanatiker hält er an seiner
Position
fest – und steht damit in der deutschen Nachkriegslandschaft ziemlich
einsam
da.
Niemöllers Argumentation ist jedoch keine schlichte Moralpredigt; sie ist komplexer, als es zunächst den Anschein hat. Er situiert die Verantwortung des Einzelnen in einem differenzierten Geflecht von Opfern, Tätern, Mitläufern und Zuschauern und achtet immer darauf, die Kategorien nicht zu vermischen. Er hat nun wieder zumeist Christen und Christinnen in evangelischen Kirchengemeinden vor sich und knüpft theologisch an Überlegungen an, die ihm im Frühjahr 1937 in Dahlem wichtig geworden sind: Fragen an die persönliche Verantwortung in einer sich zunehmend gewaltförmig ausrichtenden Gesellschaft, Fragen nach Werten wie Nächstenliebe und Barmherzigkeit, nicht mehr allein nach tapferer Verkündigung des „Evangeliums an sich“.
Nach der Rückkehr aus dem Konzentrationslager aber ist seine Perspektive umfassender und radikaler: Die Solidarität allein unter Christen genügt ihm nicht mehr. Er bezieht sich auf die Lage seiner Zuhörer, aber seine Gedanken gehen dann weit darüber hinaus. So spricht er zunächst davon, „daß wir Menschen so heimatlos geworden sind“ (GvH 35); selbst diejenigen, die ihr Haus und ihre Heimat nicht verloren haben, „haben Teil an der allgemeinen Heimatlosigkeit, denn wir sind wurzellos geworden. Zwischen heute und einst klafft ein Abgrund, und keine Brücke führt mehr hinüber. Unsere Wünsche sind in Nichts zerronnen, unsere Hoffnungen liegen in Scherben, unser Glaube ...“ (Gvh 36); „nun stehen wir vor Trümmerhaufen, wie sie die Weltgeschichte noch nicht gesehen hat“ (GvH 44), „in Schande und Schmach, in Jammer und Elend“ (GvH 45).
Wer bereit ist, dies zu sehen, ist bereits einen Schritt weiter als jene, die so tun, „als ob sich gar nichts ereignet hätte und als ob es nur darum eben ginge, das Zusammengestürzte wieder aufzubauen, so, wie es zuvor gewesen ist“ (GvH 20f). Um aber aus dieser Einsicht heraus nicht in den eigenen Leiden hängen zu bleiben oder sich vornehmlich als Opfer der Geschichte zu stilisieren, richtet Niemöller den Blick auf den weiteren Horizont:
„Wir denken an das Leid um uns her, das grauenhaft ist, und wissen zugleich: Es ist ja nur ein winziger Ausschnitt des gesamten Leides, in dem Menschen heute versinken zu Hunderttausenden und Millionen, in dem Menschen gestern versunken sind zu Millionen und Abermillionen.“ (GvH 39)
Nur von hier aus, d.h. in Anbetracht der Leiden der Menschen in ganz Europa und darüber hinaus, ist es dann auch legitim, an die Leiden der verfolgten Christen zu erinnern. Das geschieht nicht mit der Absicht, einen christlichen Opfermythos zu installieren, sondern um den Nichtverfolgten das Grauen der NS-Verfolgung deutlich vor Augen zu führen – und nicht ohne den Hinweis, dass gewiss nicht alle Christen solche Erfahrungen machen mussten:
„Christenbrüder und -schwestern wanderten zu
Hunderten ins Gefängnis,
nur weil sie Christen waren, Christenmenschen wurden hingerichtet und
umgebracht,
nur weil sie sich zu ihrem Herrn bekannten. – Ja, [...] wahrhaftig, man
hat
grausig Theater mit uns gespielt bis hin zu jenem katholischen
Priester,
dem die SS-Soldateska eine Dornenkrone aufs Haupt drückte und ihn
dann
niederknien und beten hieß. –
Wir haben diese Schmach und Trübsal nicht alle in der gleichen
Weise
zu schmecken und zu tragen bekommen; es hat auch in diesem
Leidensabschnitt
ruhigere Abschnitte gegeben; aber mit daran getragen haben wir alle,
offen
oder insgeheim.“ (GvH 17f)
Von seinen eigenen Erlebnissen in der Haft erzählte Niemöller nie.[22] Es war ihm wichtig, sich nicht als NS-Opfer oder gar als Held des Widerstands darzustellen, sondern gerade seine Versäumnisse und seine eigene Schuld zu thematisieren. Immer wieder berichtete er von einem Besuch im ehemaligen KZ Dachau einige Monate nach der Befreiung:
„Ich stand mit meiner Frau vor dem Krematorium in Dachau, und an einem Baum vor diesem Gebäude hing ein weißgestrichenes Kistenbrett mit einer schwarzen Inschrift. Diese Inschrift war ein letzter Gruß der Dachauer Häftlinge, die in Dachau zurückgeblieben sind und am Ende dort von den Amerikanern angetroffen und später befreit wurden. Es war ein letzter Gruß dieser Menschen für ihre ihnen im Tod vorangegangenen Kameraden und Brüder, und dort stand zu lesen: ‚Hier wurden in den Jahren 1933–1945 238 756 Menschen verbrannt.‘[23] [...] Was mich in diesem Augenblick in einen kalten Fieberschauer jagte, das [...] waren die anderen zwei Zahlen: ‚1933–1945‘, die da standen. Und ich faßte nach meinem Alibi und wußte, die zwei Zahlen, das ist der Steckbrief des lebendigen Gottes gegen Pastor Niemöller.
Mein Alibi reichte vom 1. Juli 1937 bis zur Mitte 1945. Da stand: ‚1933–1945‘. Adam, wo bist du, Mensch, wo bist du gewesen? Ja, ich weiß, Mitte 1937 bis zum Ende hast du dein Alibi. Hier, du wirst gefragt: ‚Wo warst du 1933 bis zum 1. Juli 1937?‘ Und ich konnte dieser Frage nicht mehr ausweichen. 1933 war ich ein freier Mann. 1933 – in dem Augenblick, dort im Krematoriumshof fiel es mir ein –, ja 1933, richtig: Hermann Göring rühmte sich öffentlich, daß die kommunistische Gefahr beseitigt ist. Denn alle Kommunisten, die noch nicht um ihrer Verbrechen willen hinter Schloß und Riegel sitzen, sitzen nun hinter dem Stacheldraht der neu gegründeten Konzentrationslager. Adam, wo bist du? Mensch, Martin Niemöller, wo bist du damals gewesen? so fragte Gott aus diesen beiden Zahlen. [... D]aß diese Menschen, die ohne Gesetz, ohne Anklage, ohne Untersuchung, ohne Urteil, ohne vollstreckbares Urteil, einfach ihrem Beruf, ihrer Familie, ihrem Leben weggenommen, der Freiheit beraubt wurden, daß diese Menschen eine Frage Gottes an mich waren, auf die ich im Angesicht Gottes damals hätte antworten müssen, daran hab ich nicht gedacht. Ich war damals kein freier Mensch. Ich hatte mich damals bereits meiner wahren Verantwortung begeben.“[24] (WiF 18f)
Dieses persönliche Schuldbekenntnis ist aufrichtig. Es ist nicht bloß eine rhetorische Ermunterung der Zuhörer, nun auch die eigene Schuld zu bekennen. Erkennbar ist Niemöllers ernste Auseinandersetzung insbesondere mit seiner ursprünglichen Gleichgültigkeit gegenüber den verfolgten Kommunisten, die er im KZ dann als seine „kommunistischen Brüder“ (WiF 20) kennen- und respektieren lernte. In ähnlicher Weise sprach er nach der Befreiung auch den einzigen Überlebenden einer jüdischen Familie als Bruder an (WiF 27). Insofern verbirgt sich in dieser Episode die Erfahrung, dass wahre Verantwortung sich keineswegs auf die verfolgten Mitchristen beschränken dürfe. Sie muss jedem Menschen gelten, „der als Mensch meinen Weg, meinen Menschenweg kreuzt“ (WiF 8).
Des Weiteren wird hier aus Niemöllers Nachdenken über sein fehlendes Alibi deutlich, was er jetzt unter Schuld versteht: nämlich ein persönliches Versäumnis oder Versagen, wo die konkrete Möglichkeit bestand, anders zu handeln (und keine „Tragik“, der letztlich niemand entgehen kann). Vorstellungen von einer „Kollektivschuld“ erscheinen ihm anthropologisch und theologisch unsinnig.[25] Schuldig wird man demnach nicht aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Nation, sondern allein aufgrund eigenen Tuns oder Lassens dort, wo das Gewissen etwas anderes verlangt hätte.
Von seinen Zuhörern und Zuhörerinnen erwartet Niemöller deshalb nicht, sich unter dem Mantel einer „deutschen Schuld“ zu versammeln; er will vielmehr zu einer echten Gewissenserforschung ermuntern, die den Einzelnen hilft zu erkennen, wo sie etwas hätten tun können, aber ihrer Verantwortung nicht nachgekommen sind. Es ist der Weg der Konkretion, den er vorschlägt – jenseits von Kollektivschuld einerseits und Opferpose andererseits. Nur jenseits von Pauschalisierungen lasse sich auch wieder Verantwortungsübernahme lernen. Deshalb führt er in seinen Predigten Täter, Mitläufer und Zuschauer vor Augen. Und auch in diesem Zusammenhang spricht er wiederum von seiner eigenen Schuld:
„Menschen unserer Tage, Menschen, die mit uns eine Sprache sprechen, Menschen, die neben uns lebten, sind zu wahren Unmenschen geworden, haben alles, was uns und unseren Vorfahren seit Jahrhunderten heilig war, außer Geltung gesetzt, haben ohne Scheu gestohlen, geschändet, gemordet, gelogen, noch und noch, und haben dabei die Stirne gehabt, große Reden zu halten: ‚Wir bauen eine neue, bessere Welt!‘ – Sünde? – Jawohl: Sünde über Sünde. Welches Gebot wurde nicht wissentlich und willentlich außer Kraft gesetzt, wo trat nicht der menschliche Götze an die Stelle des lebendigen und heiligen Gottes? – Und wir? Nun, was sollten wir tun: Wir haben geschwiegen und uns geduckt, in der Hoffnung, der Sturm möchte vorübergehen. Wir haben so getan, als gehörten wir auch zu ihnen, damit sie wenigstens uns verschonten. Wir haben unser Gewissen mit dem Gedanken beruhigt, vielleicht wäre an diesem Neuen doch noch etwas Gutes. – Sünde? Jawohl: Sünde über Sünde.“ (GvH 6f)
Sünde über Sünde: So muss das Geschehene benannt und theologisch qualifiziert werden, niemals pauschal, immer konkret. Dabei ist es wichtig, Sünde nicht mehr als bloß individuelle Verfehlung im bürgerlich-privaten Rahmen zu sehen, sondern als ein Verhalten, das politische und gesellschaftliche Auswirkungen hat und das Leben anderer Menschen beeinträchtigt oder zerstört. Dies gilt für ideologische Täter, die die Welt verändern wollten, ebenso wie für diejenigen, die geschwiegen haben und sich aus Furcht dem Gang der Dinge angepasst hatten.
Den Einwand, man habe nicht aus Bosheit, sondern aus
Furcht vor Sanktionen
nicht entschiedener gehandelt, lässt Niemöller nicht als
Entschuldigung
gelten. Furcht ist für Niemöller, der ja die Repressionsmacht
des
NS-Staates am eigenen Leibe erlebt hat, eine Sünde, die den
Menschen
quasi götzendienerisch an Gottes Stelle setzt. Er macht es
deutlich,
wenn er bekennt: „Wir haben uns vor Menschen mehr gefürchtet als
vor
Gott.“ (GvH 7)
Auch andere Einwände gegen die Anerkennung von
Schuld spricht Niemöller
an. Ein zentraler Punkt ist für ihn – wiederum – die
Vorstellung,
dass Gott als Herrscher der Welt für Krieg und Völkermord
verantwortlich
sei. Er hält dies für eine Einflüsterung des Teufels,
die
er folgendermaßen umschreibt:
„Wenn es einen Gott überhaupt gibt, dann ist er sicher nicht der
Gott
der Liebe, von dem ihr träumt; denn wie soll es sich vertragen,
daß
ihr von einem Unglück immer nur ins andere stürzt, daß
er
ein Völkermorden nach dem andern über euch bringt!“ (GvH 27)
Wer also Gott für Völkermorde und Krieg anklagen will, tut
dies
wohl zum Zweck der Abwehr der Schulderkenntnis. Für Niemöller
ist
klar, dass hier nicht Gott, sondern die Menschen anzuklagen sind, unter
ihnen
nicht zuletzt die Christen, die theologisch sich allzu leicht auf die
Rechtfertigung
von Kriegen verstanden hätten:
„Nein, Gott will den Krieg nicht. Sein Gebot steht eindeutig und klar
vor
uns, die wir sein Wort kennen, und es heißt: Du sollst nicht
töten,
und es heißt: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus,
Weib,
Knecht, Magd, Vieh, noch alles, was dein Nächster hat! [...] Wer
Gott
hier verantwortlich machen will, der kennt Gottes Wort nicht, oder will
es
nicht kennen. Freilich, das ist eine andere Frage, ob nicht wir
Christen
ein gut Teil Schuld an den ewigen Kriegen tragen? Und von dieser Frage
kommen
wir so leicht nicht los; man hat mit Recht darauf hingewiesen,
daß
bis in unsere Tage hinein die Kirchen selten ein Wort gefunden haben,
um
deutlich zu sagen, daß Kriege kein erlaubtes und von Gott
gebilligtes
Mittel sind, um noch so gute und berechtigte Ziele zu erreichen; man
kann
mit gleichem Recht daran erinnern, daß sich christliche Kirchen
Jahrhunderte
hindurch immer aufs neue dazu hergegeben haben, Kriege, Truppen und
Waffen
zu segnen und daß sie in ganz unchristlicher Weise für die
Vernichtung
der Kriegsgegner gebetet haben. Alles das ist unsere Schuld und die
Schuld
unserer Väter; aber gewiß nicht Gottes Schuld.“ (GvH 27)
Was Menschen angerichtet haben, darf nicht zu Gottes Schuld
erklärt
werden. Das liefe auf eine Zerstörung der Ethik und auf ein
Verharren
des Menschen in der Unmündigkeit hinaus. Ebenso wenig macht – auch
das
eine beliebte Figur der Schuldabwehr – der Hinweis darauf, dass andere
auch
Verbrechen begangen hätten, aus der eigenen Schuld Unschuld:
„[W]as nützt es uns, daß oder ob andere auch schuldig
geworden
sind? Davon wird der Berg von Sünde und Schuld, der uns belastet
und
erdrückt, ja nicht geringer und leichter; wir müssen dennoch
darunter
ersticken, denn wie sollen wir ihn los werden? Allein die 51/2
Millionen
gemordeter Juden?“ (GvH 53f)
An dieser Bemerkung lässt sich auch erkennen, dass Niemöller
keineswegs
durch die Lande zog, um andere schuldig zu sprechen. Er sah, daß
die
Menschen unter dem Berg der angehäuften Schuld ersticken
müssten,
und deshalb trat er auf als einer, der einen Ausweg anzubieten hatte:
das
ehrliche Bekenntnis konkreter Schuld und die Umkehr. Deshalb war es
notwendig,
die Ausflüchte und Abwehrargumentationen der Reihe nach zu
destruieren:
Verharrte man in der Abwehr, war der geistige Erstickungstod gewiss.
Das gilt auch für jenes Argument, das mit wachsendem zeitlichem Abstand von der NS-Zeit an Glaubwürdigkeit gewinnt: dass man nichts mitbekommen habe von den Verbrechen. Zu Anfang des Jahres 1946 war das Bewusstsein vom öffentlichen Charakter der Judenverfolgung noch nicht verwischt, und Niemöller kann die Ausrede mit einer knappen Bemerkung parieren:
„Nach einer Planke können wir allenfalls noch
greifen; ich kann sagen:
Ich war unschuldig an dem allen; doch ich glaube das ja selber nicht,
habe
ich doch die Synagogen mit meinen eigenen Augen brennen sehen; ich
wollte
nur nichts sehen und nichts wissen; ich wollte auf mein Gewissen nicht
hören
und habe es selber zum Verstummen gebracht.“ (GvH 54)
Anstatt auf Ausflüchten zu beharren, die man schon selber nicht
glaube,
meint Niemöller, könne man sich doch sein Versagen und seine
Schuld
eingestehen, und dies umso leichter, als für die offene
Anerkenntnis
die Zusage von Gottes Vergebung gelte. Niemöller spricht ganz
offenkundig
deshalb so freimütig von Schuld, weil er tief von Gottes
Vergebungswillen
überzeugt ist. Und das offene Sprechen davon, das klare
Ansichtigwerden
des eigenen schlechten Gewissens ist für ihn als Schritt
notwendig,
damit Gott seinen Vergebungswillen zum Zuge kommen lassen könne.
Das
Leugnen von Schuld verhindert Vergebung, Gott aber warte auf unsere
Schulderkenntnis.
„Und wenn wir mit schlechtem Gewissen an die Vergangenheit zurückdenken, weil wir uns gedrückt haben vor dem klaren Bekenntnis und dem offenen Widerspruch gegen den Teufel und sein Werk in unserer Mitte, weil wir nicht wirklich mitgelitten haben mit den Brüdern, die unter die Mörder fielen, weil wir das Leiden scheuten, weil wir mit Gott gehadert haben, daß er es uns so schwer machte: Gott hat uns trotzdem nicht verworfen; Gott will uns immer noch unsere Schulden vergeben, die nun so lange schon auf uns lasten. [...] Ja wir sprechen ohne Rücksicht auf die Menschen und ihr Urteil von unserer Schuld und freuen uns seiner Vergebung und bitten ihn, daß er uns durch seinen heiligen Geist erneuern wolle, daß wir alle Menschenfurcht dahintenlassen und uns ganz ihm zu eigen geben.“ (GvH 19)
Dies aber darf nicht verwechselt werden mit der
Vorstellung, dass Gott
nach Art einer ödipalen Vaterfigur von den Menschen Unterwerfung
fordere,
damit die Welt wieder gemäß seinen Richtlinien weiterlaufen
könne:
„[...] eben diesen Weg geht Gott nicht: es geht ihm nicht darum,
daß
die Welt richtig funktioniert und die Menschen sich, wenn auch
widerwillig,
seinem Machtwort fügen; es geht ihm darum, daß wir Menschen
innerlichst
zurechtkommen und dann uns selber daranmachen, unser Leben miteinander
in
dieser Welt in Ordnung zu bringen. Gott will andere Menschen haben, und
damit
faßt er das Übel an der Wurzel an.“ (GvH 29)
Niemöllers Verständnis von Vergebung ist damit inzwischen etwas anderes als die „Rechtfertigung“ des Sünders, der aus seiner Tragik der sündigen Existenz nicht herauskäme. Es ist mehr als die Vorstellung, dass Gottes Vergebung einfach alles auslösche, was gewesen ist, und sodann ein unbeschwertes Fortfahren ermögliche. Niemöller deutet Vergebung theologisch als einen umfassenderen Transformationsprozess: als eine Erfahrung von Gottes Liebe, „die alle Welt zur Umkehr und zum Glauben ruft“ (GvH 33), und als eine Entdeckung des Werts der Gerechtigkeit als Grundlage für ein besseres Zusammenleben aller Menschen:
„Es kann keinen dauerhaften Frieden und kein echtes Verstehen unter uns Menschen geben ohne Gerechtigkeit; es geht nicht anders, wenn wir zueinander finden wollen, als daß das Unrecht, das sich zwischen uns schiebt, aufgedeckt wird.“ (GvH 30)
Deshalb
ist
die Vergebung Gottes kein Schlusspunkt unter ein böses Kapitel der
Vergangenheit,
sondern ein Doppelpunkt, der überhaupt erst den Weg freimacht zur
Aufarbeitung
des Geschehenen und zu einer Beseitigung des vorgefallenen Unrechts.
Traditionell
gesprochen: Nach der aufrichtigen Reue (contritio
cordis) und dem ehrlichen Eingeständnis der Schuld (confessio oris) gehört auch
die
Bemühung um Wiedergutmachung (satisfactio
operis) zum Prozess der Umkehr, dem die Vergebungszusage Gottes
gilt.[26]
Fazit
Niemöllers Theologie, die in seinen Predigten zutage tritt, nimmt sich auf den ersten Blick eher traditionell und unspektakulär aus. Bei genauerem Hinsehen aber zeigt sich, dass diese Theologie als präzise Antwort auf die jeweiligen Problemstellungen in seinen jeweiligen Gemeinden Schritt für Schritt weiterentwickelt und radikalisiert wurde. Was Leonore Siegele-Wenschkewitz über Martin Niemöller als Person sagte, nämlich dass er „in ungewöhnlicher Weise fähig und bereit war, sich mit einmal erworbenen Ansichten und Überzeugungen kritisch auseinanderzusetzen, wenn sie ihm für die Wahrnehmung und Bearbeitung von Wirklichkeit nicht mehr stimmig erschienen“[27], gilt ebenso für seine Theologie. Aus der ihm überkommenen bürgerlichen Theologie der individuellen Heilsvergewisserung wurde nach und nach eine Art europäischer Befreiungstheologie, die die Botschaft des Evangeliums immer konsequenter als Handlungsperspektive in den Konflikten mit dem NS-Regime und den nachfolgenden Schuldverleugnungsstrategien zu sehen verstand.
Drei Elemente von Niemöllers Theologie haben sich im Laufe der Jahre entscheidend verändert:
1) Aus dem privatistischen Verständnis einer
menschlich-tragischen
„Schuldverhangenheit“ entwickelte sich schrittweise ein
politisch-gesellschaftliches
Verständnis von Verantwortung und Schuld.
2) Die Verkündigung des Heilands
des Evangeliums wurde erweitert zu einem Eintreten für die Werte der Solidarität und
Gerechtigkeit,
wie sie dieser Heiland verkörpert.
3) Aus der anfänglichen Verantwortung gegenüber den
„Christenbrüdern“
wurde immer klarer eine Verantwortung für alle Menschen, die den
eigenen
Weg kreuzen.
Ihr Kraftzentrum hat diese Theologie in der differenzierten Reflexion über die eigene gesellschaftliche Position: Sie weiß im Geflecht von Tätern und Opfern, Mitläufern und Zuschauern, aus welcher Perspektive sie spricht und zu wem sie spricht. Sie hat sich nie in einem unspezifischen „Wir“ der allgemeinen Betroffenheit verloren und destruiert so den Rechtfertigungsdiskurs der Täter nachhaltiger als andere Theologien. Deshalb es ist eine Theologie, die die Subjekthaftigkeit und Verantwortung der Menschen auch angesichts der Übermacht der NS-Täter nie aus den Augen verloren hat. Deshalb ist es eine Theologie, die auch in ausweglosen Situationen noch einen Ruf zur Widerständigkeit wahrnehmen konnte. Und deshalb kam sie auch nie in Versuchung, die Schuld an den katastrophalen zwischenmenschlichen Verhältnissen Gott in die Schuhe zu schieben.
Im Gegenteil: Das entschiedene Festhalten am Glauben an Gott läuft bei Niemöller nie auf die Verabreichung eines billigen Trostes hinaus, der über die Zeugnisse der Opfer der Schoa kühl hinwegginge. Gott ist nie pauschaler Tröster oder pauschaler Richter, aber in der jeweiligen konkreten Situierung der Rede, die Niemöller immer leistet, erhalten Trost wie Gericht ihre je eigene, spezifische Schärfe.
Für die christliche „Theologie nach Auschwitz“ in der Gegenwart könnte Niemöllers Theologie darum eine wertvolle Inspiration sein, über die Identifikation mit den Opfern und die damit verbundene Haltung der betroffenen Unschuld einen entschiedenen Schritt hinaus zu machen und die Schuld der Einzelnen wie auch die Schuldanteile der christlichen Tradition mit allem theologischen Ernst zu thematisieren. Gerade in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskursen über die NS-Zeit, in denen die menschliche Verantwortung und die realen Handlungsmöglichkeiten trivialisiert werden zugunsten einer pauschalen Ohnmachtsvermutung, könnte von hier aus der Weg zu einer allgemeinen Opfermythologie verstellt werden. Dabei könnte sich herausstellen, dass dort, wo Menschen lernen, für ihr Handeln Verantwortung zu übernehmen, anstatt sie an einen abwesenden, verborgenen oder vermissten Gott zu delegieren, auch die Nähe Gottes wieder neu erfahren werden kann: als befreiende Liebe und Gnade, die zugleich Herausforderung und Inpflichtnahme ist, als befreiende Kraft, die mit den Widerständigen ist.
Eine persönliche Bemerkung zum Schluss: Die Literatur über Niemöller hat dessen erstaunliche Wandlungen im Laufe seines Lebens immer wieder kommentiert – oft auch mit einer stillen Genugtuung darüber, dass dieser Mann schließlich zu jener Vernunft gekommen ist, der man sich selbst längst zurechnet. Als ich mir im Verlauf dieser Untersuchung versuchte vorzustellen, man würde heute in einer christlichen Gemeinde in Deutschland z.B. zu Fragen der globalen Gerechtigkeit so predigen wie Niemöller es im Frühjahr 1937 in Dahlem tat, verging mir jedes herablassende Kommentieren: So könnte man heute in einer deutschen Gemeinde nicht reden – die Hörerinnen und Hörer würden es kaum ertragen. Niemöller und seine Dahlemer Gemeinde waren entschieden weiter, als wir es heute sind. Die unpolitisch-individualistische Seelenheilreligion beherrscht wieder weitgehend das Feld, und ich fürchte, dass der Nationalsozialismus und die diskulpierende Vergangenheitsbewältigung schlimmere Zerstörungen im Christentum hinterlassen haben, als uns im Allgemeinen bewusst ist.
[1] Zit.
nach: Barth 1952,
9.
[2] Siegele-Wenschkewitz
1994,
264. Zu Niemöllers Antijudaismus vgl. auch Stöhr 2007.
[3] Niemöller 1934,
211.
[4] Vgl. hierzu Krondorfer
2001,
bes. 15f.
[5]Unternommen hat einen
solchen
Versuch Conway 1986. Er beschränkt sich allerdings weitgehend
darauf,
Niemöllers politisch-theologische Positionen im Kontrast zu seinen
deutschnationalen
Anfängen aufzuzeigen; von den dahinter stehenden Reflexionen ist
wenig
zu erfahren.
[6] J. Schmidt 1971, 455,
Anm.
136.
[7] Siehe hierzu etwa J.
Schmidt
1971, D. Schmidt 1983; Schreiber 2008; Siegele-Wenschkewitz 1994.
[8] Niemöller 1934,
57f.
[9] Arendt 2006, 65.
[10] Niemöller 1946e
(im Text abgekürzt HJC mit Seitenzahl).
[11] 1935 erließ
Hans
Kerrl, der Reichsminister für die kirchlichen Angelegenheiten, die
„5. Verordnung
zur Durchführung des Gesetzes zur Sicherung der deutschen
evangelischen
Kirche“, wonach sämtliche Kirchenleitungsbefugnisse allein von den
neu
gebildeten Kirchenausschüssen auszuüben seien. Sowohl die
Deutschen
Christen als auch die Bekennende Kirche wurden zur Mitarbeit
aufgefordert.
In der Bekennenden Kirche (BK) konnte man sich über den Umgang mit
den
Kirchenausschüssen nicht einigen. Niemöller und andere
verweigerten
jede Zusammenarbeit mit den Kirchenausschüssen und erkannten
allein
die in der Synode von Dahlem vom 19./20. Oktober 1934 eingesetzten
Bruderräte
als Leitungsgremien an, die seit Kerrls Verbot vom 20. Dezember 1935
„illegal“
galten. Die Spannungen traten insbesondere auf der 4. Bekenntnissynode
17.
–22. Februar 1936 in Bad Oeynhausen zu Tage. Die Bekennende Kirche
zerbrach
in einen gemäßigten und einen radikalen Flügel, der
sich
konsequent an den Beschlüssen von Dahlem orientierte und daher der
„dahlemitische“ Flügel genannt wird. Dieser unterstützte nach
der Synodaltagung
die Bildung einer „Vorläufigen Kirchenleitung II“. Hingegen trat
der
„bischöfliche Flügel der BK“ gemeinsam mit den Bischöfen
der
„intakten“ Landeskirchen (Bayern, Hannover, Württemberg) dieser
„Vorläufigen
Kirchenleitung II“ nicht bei, sondern strebte eine Verständigung
mit
den Kirchenausschüssen an. Vgl. Mehlhausen 1994, 60–61; siehe auch
W. Niemöller 1960.
[12] Vgl. im Kontrast
dazu
die Haltung in vielen innerfamiliären Nachkriegsdiskursen, wonach
die
Nazis immer „die anderen“ waren: Welzer 2002, 150ff.
[13] Gewiss kann man hier
den gewachsenen Einfluss Karl Barths auf Niemöller
heraushören,
doch der Blick auf Barth lässt möglicherweise etwas
Interessanteres
übersehen: die Tatsache, dass Niemöller gerade in einer
Situation
der zunehmenden Bedrohung diesen theologischen Paradigmenwechsel
vollzieht
– als Antwort auf diese Situation. – Bemerkenswert ist hier des
Weiteren,
dass es im Jahr 1937 geschieht, dass der Nationalsozialismus ganz
grundsätzlich und öffentlich als Feind bezeichnet wird. Die
Mehrheit der Deutschen
entdeckte ihre Gegnerschaft zum Nationalsozialismus bekanntlich erst,
als
die Hoffnungen auf einen Sieg im Krieg sich verflüchtigten.
[14] Für eine knappe
Darstellung der Details siehe z.B. Schreiber 2008, 78ff.
[15] Niemöller 1946g
(im Text abgekürzt DAH mit Seitenzahl).
[16] Kertesz 2001,
282–284.
[17] Vgl. Schreiber 2008,
85ff.
[18] Zu den
Umständen
der Befreiung siehe z.B. Schreiber 2008, 92f.
[19] Oeffler 1987, 116.
[20] Vgl. Niemöller
1946b;
1946d; 1946f; 1946h. Ich konzentriere mich bei den folgenden Analysen
vor
allem auf die Predigtsammlung Ach Gott vom Himmel sieh darein (im Text
abgekürzt
GvH mit Seitenzahl).
[21] Aufschlussreich sind
etwa die Proteste der Insassinnen des Frauenlagers 77 in Ludwigsburg
(SS-Helferinnen,
KZ-Aufseherinnen, Mitglieder von NS-Frauenschaft und BDM) gegen die
Predigt,
die Niemöller dort am 1. Juli 1946 gehalten hat. Vgl. hierzu von
Kellenbach
2006, bes. 246ff.
[22] „Ich erzähle
grundsätzlich
nichts von meinen Erlebnissen. Ich könnte greuliche Dinge
erzählen.
Es genügt mir zu sagen: Keine Feder, kein Film reicht aus, um das
zu schildern. Und wenn man mich fragt: War es wirklich so schlimm?,
dann kann
ich nur sagen: Es war tausendmal schlimmer.“ – Niemöller 1946d, 7.
[23] Die Opferzahl des KZ
Dachau ist anfänglich so angegeben worden – ob aus einer
Fehleinschätzung
der vorliegenden Häftlingsakten oder aus Gründen der
reeducation,
die auf die Wirkung möglichst erschreckender Zahlen setzte, kann
nicht
mehr festgestellt werden. In der aktuellen Forschung über das KZ
Dachau werden Opferzahlen zwischen 32.000 und 42.000 erwogen. Vgl. dazu
Zámecník
2007.
[24] Niemöller,
1946c,
18f (im Text abgekürzt WiF mit Seitenzahl).
[25] Vgl. hierzu etwa
eine
Bemerkung Niemöllers, zit. bei Mochalski 1962, 44. Des Weiteren:
Niemöller
1946a.
[26] Dazu
ausführlicher:
von Kellenbach 2006, 277–297.
[27] Siegele-Wenschkewitz
1994, 261.
Literatur
Arendt, Hannah, 17.Aufl. 2006: Macht und Gewalt, München
Barth, Karl, 1952: Barmen, in: Joachim Beckmann/Herbert Mochalski (Hg.), Bekennende Kirche. Martin Niemöller zum 60. Geburtstag, München, 9–17
Conway, John S., 1986: The Political Theology of Martin Niemöller, in: German Studies Review 9, Heft 3, 529–546
Kellenbach, Katharina von, 2006: Schuld und Vergebung. Zur deutschen Praxis christlicher Versöhnung, in: Björn Krondorfer u.a., Mit Blick auf die Täter. Fragen an die deutsche Theologie nach 1945, Gütersloh, 227–313
Kertesz, Imre, 4.Aufl. 2001: Roman eines Schicksallosen, Reinbek
Krondorfer, Björn, 2001: Abschied von (familien-)biographischer Unschuld im Land der Täter. Zur Positionierung theologischer Diskurse nach der Shoah, in: Katharina v. Kellenbach u.a. (Hg.), Von Gott reden im Land der Täter. Theologische Stimmen der dritten Generation seit der Shoah, Darmstadt, 11–28
Mehlhausen, Joachim, 1994: Art. Nationalsozialismus und Kirchen, in: TRE, Bd. 24 (hg. G. Müller), Berlin, 43–78
Mochalski, Herbert u.a. (Hg.), 1962: Der Mann in der Brandung. Ein Bildbuch über Martin Niemöller, Frankfurt am Main
Niemöller, Martin:
— 1934: Vom U-Boot zur Kanzel, Berlin
— 1946a: About Questions of Guilt, in: Christianity and Crisis, 8. Juli
— 1946b: Ach Gott vom Himmel sieh darein. Sechs Predigten, München
— 1946c: Der Weg ins Freie, Stuttgart
— 1946d: Die Erneuerung unserer Kirche, München
— 1946e: Herr ist Jesus Christus. Die letzten achtundzwanzig Predigten, gehalten in den Jahren 1936 und 1937 in Berlin-Dahlem, Gütersloh
— 1946f: Über die deutsche Schuld, Not und Hoffnung, Zürich
— 1946g: „... zu verkündigen ein gnädiges Jahr des Herrn!“ Sechs Dachauer Predigten, München
— 1946h: Zur gegenwärtigen Lage der evangelischen Christenheit, Tübingen
Niemöller, Wilhelm: Die vierte Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche zu Bad Oeynhausen, Göttingen 1960
Oeffler, Hans Joachim u.a. (Hg.), 1987: Martin Niemöller. Ein Lesebuch, Köln
Schmidt, Dietmar, 1983: Martin Niemöller. Eine Biographie, Neuausg. Stuttgart
Schmidt, Jürgen, 1971: Martin Niemöller im Kirchenkampf, Hamburg
Schreiber, Matthias, 2.Aufl. 2008: Martin Niemöller, Reinbek
Siegele-Wenschkewitz, Leonore, 1994: Auseinandersetzungen mit einem Stereotyp. Die Judenfrage im Leben Martin Niemöllers, in: dies. (Hg.), Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus. Theologische und kirchliche Programme Deutscher Christen (Arnoldshainer Texte, Bd. 85), Frankfurt am Main, 261–291
Stöhr, Martin, 2007: „…habe ich geschwiegen“. Zur Frage eines Antisemitismus bei Martin Niemöller, Martin-Niemöller-Stiftung, 19. 1. 2007, unter: http://www.martin-niemöller-stiftung.de/4/zumnachlesen/a100.
Welzer, Harald u.a., 2.Aufl. 2002: „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main
Zámecník, Stanislav, 2007: Das war Dachau, Frankfurt am Main
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