theologie.geschichte - Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte

Gutachten und Diskussionsbeiträge zu Lucia Scherzberg, Der Papst und der „Fall Williamson“. Chronologie und Analyse des Konflikts


Übersicht:

Gutachten:

1. Prof. Dr. Hans-Joachim Sander, Salzburg
2. Prof. Dr. Rainer Bucher, Graz

Diskussionsbeiträge:


Gutachten

1. Prof. Dr. Hans-Jochaim Sander, Salzburg

Gutachten zum Aufsatz von Lucia Scherzberg, Der Papst und der „Fall Williamson“. Chronologie und Analyse des Konflikts


Der Aufsatz dokumentiert die Ereignisse und öffentlichen Reaktionen, die sich durch die Aufhebung der Exkommunikation der vier Bischöfe der Priesterbruderschaft Pius X. (im Folgenden: Piusbrüder) ergeben, die Papst Benedikt XVI. am 21. Januar 2009 vorgenommen hat. Der Aufsatz endet mit den Reaktionen auf den Brief des Papstes an die Bischöfe vom 12. März 2009, mit dem er auf die öffentliche Debatte seines Aufhebungsbeschlusses zu reagieren versuchte.

Die hohe öffentliche Aufmerksamkeit auf Vorgänge, die zunächst als rein innerkirchliche Größen auftreten, nimmt Frau Scherzberg zum Anlass, die Entstehung und Entwicklung der sog. Piusbruderschaft detailliert aufzuzeigen, die in der Exkommunikation durch Papst Johannes Paul II. vom 2. Juli 1988 wegen des schismatischen Aktes der Bischofsweihen durch Marcel Lefebvre kulminiert. Ebenso werden die Reaktionen der vatikanischen Behörden bis zu den Entscheidungen des gegenwärtigen Papstes über die generelle Wiederzulassung der tridentinischen Messe sowie seine Veränderung der Karfreitagsfürbitte über die Juden in dieser Liturgie präzise bilanziert.

Die Analysen von Frau Scherzberg sind um zwei Brennpunkte gebaut: den mit der Aufhebung der Exkommunikation öffentlich untrennbar verbundenen Fall der Holocaust-Leugnung durch den Briten Williamson, der als Bischof der Piusbruderschaft in den Genuss dieser Aufhebung gekommen ist, und die öffentliche Anfragen an die katholische Kirche, welchen Stellenwert sie ihrem Zweiten Vatikanischen Konzil nach dem Versöhnungsangebot an ihren früheren traditionalistischen Flügel überhaupt noch gibt. Die Dokumentation und Analysen folgen einer gewissen Konzentrierung auf Deutschland, da hier mit der Reaktion der deutschen Bundeskanzlerin vom 3. Februar 2009 auf die bis dahin nur unzureichende Distanzierung des Papstes von dieser Holocaust-Leugnung die Fiktion von rein innerkirchlichen Angelegenheiten endgültig obsolet geworden war. Spätestens damit war die globalisierte Dimension der Exkommunikation selbst und des Skandals der davon bestärkten Holocaust-Leugnung offen zu Tage getreten. Das ist bei dem Papstbesuch in Israel nach dem Zeitraum, den der vorliegende Text abdeckt, erneut und vertieft deutlich geworden.

Ein Fazit schließt den Text ab, das sich der hier deutlich gewordenen „Ungleichzeitigkeit der Kirche zur modernen Gesellschaft“ stellt und die Motive für die Einladung an die Piusbruderschaft, zur Communio mit dem Papst zurückzukehren, skizziert.


Stärken des Textes

Der Aufsatz von Frau Scherzberg ist eine exzellente Auflistung der Ereignisse, die mit der Aufhebung der Exkommunikation der vier Bischöfe der Piusbruderschaft verbunden sind und die öffentlich geworden sind, sowie der öffentlichen Reaktionen, die durch den Bezug dieser Aufhebung auf die nachfolgende Holocaust-Leugnung durch Richard Williamson entstanden sind. Auch diejenigen, die diese Zeitspanne zwischen Januar und März 2009 aufmerksam verfolgt haben, werden hier bislang nicht wahrgenommene öffentliche Positionen entdecken, die gleichwohl signifikant für die theologische und politische Bedeutung dieser Ereignisse sind. Von daher liegt hier eine Art Standardbericht der öffentlichen Debatte um die Verbindung der Aufhebung der Exkommunikation mit der Leugnung des Holocaust durch Williamson vor.

Der Bericht belegt, wie sehr diese Aufhebung mit jener Leugnung in Zusammenhang steht, und darin liegt das eigentliche Ergebnis des Artikels. Der Zusammenhang ergibt sich nicht aus der Aufhebung; er war damit weder intendiert noch war der Papst – und noch viel weniger die anderen kurialen Akteure – in der Lage, auf dem Boden seines Entgegenkommens gegenüber den Piusbrüdern darauf zu reagieren. Dieser Akt wurde jedoch von der Holocaust-Leugnung in eine Falle einer Gemeinsamkeit gelockt, aus der er öffentlich bis zum Brief des Papstes vom März 2009 nicht mehr herauskam. Das ist ein signifikanter Vorgang über den konkreten Ablauf der Ereignisse und Reaktionen hinaus. Denn in der Öffentlichkeit lassen sich beide Größen – das großzügige Entgegenkommen und die bornierte Leugnung des Holocaust – wegen der Aufmerksamkeit, die der Papst in dem doppelten Sinn des Wortes damit öffentlich den Piusbrüdern zollt, schlichtweg nicht trennen, so sehr sie auch wegen der Intention der Aufhebung nicht vermischt werden dürfen.

Die eindrucksvolle Seite des Artikels von Frau Scherzberg besteht in der Klarheit, mit der deutlich wird, wie sehr jene Aufhebung von dieser Holocaust-Leugnung gleichsam in Geiselhaft genommen wurde und über wie wenig theologisches und politisches Potential sie verfügte, sich von diesem bedrängenden Ort auszulösen. Je mehr von kurialen Stellen, sekundierenden Bischöfen, beispringenden Intellektuellen, politischen Hinterbänklern, bemühten Medienleuten und auch hektisch-besorgten Repräsentanten der Piusbrüder versucht wurde, die Geiselhaft durch ein öffentliches Insistieren, das eine hätte mit dem anderen nichts zu tun, zu lösen, desto tiefer und verstrickter wurde diese Geiselhaft selbst. Das ist auf dem Boden der Datensammlung dieses Artikels geradezu atemberaubend zu beobachten.

Es ist die Konsequenz einer public religion, die sich in der dezidiert positionierten Aufhebung der Exkommunikation in einer gewissen Weise sogar selbst zelebriert hat. Wer den Piusbrüdern in dieser Art die Hand reicht, wie der Papst es mit der vorbehaltlosen Aufhebung der Exkommunikation getan hat, stellt eine religiöse Überzeugung – väterliche Barmherzigkeit steht über gerechtfertigter Kritik – in einen öffentlichen Raum hinein, der diese Vorbehaltlosigkeit unweigerlich auf alle Positionen hin durcharbeitet, die gesellschaftlich und politisch bei denen relevant sind, die davon in aller Öffentlichkeit aufgewertet werden. Die Leugnung des Holocaust ist nun einmal – und nicht nur in Deutschland, wie die Ausweisung Williamsons aus Argentinien belegt – gesellschaftlich und politisch relevant, zumal wenn diese sich wie im Falle der Piusbrüder zu einem traditionellen Antijudaismus gesellen kann.

Damit steht aber die Aufhebung der Exkommunikation in einem sozialen Feld, auf dem Homologien im Habitus nicht einfach künstlich und verantwortungslos herbeigeredet werden, sondern vernünftigerweise vermuten werden können und deshalb unausweichlich öffentlich angefragt werden müssen. Gleich, ob der Papst den piusbrüderlichen Habitus hinter der bornierten Leugnung des Holocaust vorher gesehen und gebilligt hat oder ob er davon peinlich überrascht wurde oder sogar von seinen engeren Mitarbeitern sehenden Auges in einen medialen GAU hineinmanövriert wurde, so musste er sich vernünftigerweise öffentlich daraufhin anfragen lassen, wie sehr, wie entschieden und wie weit jener Habitus, den er mit seinem barmherzigen Akt öffentlich wahrnehmbar gemacht hat, sich von diesem anderen Habitus unterscheidet. Diese Anfrage kann nicht im Stil eines ‚in dubio pro reo’ – oder gar der Unterstellung einer latent-feindseligen inquisitorischen Neigung – abgewiesen werden, weil der Papst selbst die öffentliche Aufmerksamkeit auf Intentionen, Positionen und Aktionen die Piusbrüder erzeugt hat.

Was zuvor bestenfalls ein Randgeschehen des breit diskutierten öffentlichen Religionsproblems war, wurde durch seine Aufhebung der Exkommunikation zu einem zentralen Geschehen von public religion. In gewisser Weise könnte Papst Benedikt XVI. sogar froh über diese öffentliche Aufmerksamkeit sein, weil er sich selbst sowohl vor wie während seines Pontifikats entschieden gegen eine religionslose Säkularität im alten Europa gestellt hat. In der öffentlichen Debatte über den Fall Williamson und seine Bedeutung für die vorherige Aufhebung der Exkommunikation hat man einen Beleg, wie wenig das alte Europa mittlerweile noch in der Gefahr steht, religiöse Fragen aus dem öffentlichen Raum bewusst zu verbannen. Lediglich das Zentrum des Interesses an der gesellschaftlichen Bedeutung von religiösen Vollzügen hat sich in einer Weise verschoben, die für dieses Pontifikat prekär ist.

Damit kommt das zweite wichtige Ergebnis in der Datensammlung dieses Artikels zum Vorschein: die nicht mögliche Abtrennung der ecclesia ad intra von der ecclesia ad extra für die katholische Kirche. Das gilt für sie religionsgemeinschaftlich wie pastoralgemeinschaftlich, weil sie sowohl ein globalen gesellschaftlicher player ist als auch eine öffentliche Aufmerksamkeit auf ihre Glaubenspositionen in gesellschaftlich bedrängenden Fragen anstrebt bzw. erhalten will. Die Debatte, die der Artikel von Frau Scherzberg verhandelt, ist ein Beleg für die Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit, mit der Belange der ecclesia ad intra mit denen der ecclesia ad extra in einer öffentlichen Wechselwirkung stehen. Auf ein innerkirchliches Geschehen – Aufhebung einer vor Jahrzehnten erfolgten Exkommunikation – wurde außerkirchlich aufgrund der Holocaust-Leugnung in einer Weise reagiert, dass dieses innerkirchliche Geschehen darüber nicht erhaben bleiben konnte.

Eine Trennung der ecclesia ad intra von der ecclesia ad extra ist speziell dann nicht möglich, wenn jenes Konzil, dessen elementaren Standpunkte zwischen der katholischen Kirche und der Religionsgemeinschaft der Piusbrüder strittig sind, eben das Zweite Vatikanische Konzil, auf der Wechselwirkung zwischen der ecclesia ad extra und der ecclesia ad intra besteht und basiert. Um diese Polarität ist das Zweite Vaticanum ausdrücklich gebaut, wie sich allein schon an seinen zwei Kirchenkonstitutionen zeigt, der dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen gentium und der pastoralen Konstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes. Die Polarität ist eine Grundeigenschaft seines „Lehramtes von vorrangig pastoralem Charakter“ (Johannes XXIII.).

Man kann deshalb die Trennung der Leugnung des Holocaust, die von Williamson unmissverständlich als Ausdruck seiner kirchlichen Wahrheitsliebe präsentiert wurde und die deshalb zur ecclesia ad extra gerechnet werden muss, von der väterlichen Barmherzigkeit, die von Papst Benedikt XVI. ausdrücklich innerkirchlich auf die unter der langen Exkommunikation leidenden Personen angesetzt wurde, nur dann ernsthaft verteidigen, wenn man die Wechselwirkung der ecclesia ad intra mit der ecclesia ad extra leugnet und abweist. Dann aber übernähme man exakt einen elementaren religiösen Standpunkt der Piusbrüder und dann hätte man – nolens volens – ihre Kritik am Zweiten Vaticanum akzeptiert. Das aber ist einem Papst, der sich selbst von den Inhalten dieses Konzils nicht distanziert und die Kirche ausdrücklich nicht zu deren Revision auffordert, nicht möglich. Dieser Subtext ist in den von Frau Scherzberg gesammelten Daten vorhanden und auch seine Entwicklung ist darin atemberaubend zu beobachten.

Der Brief des Papstes vom März 2009 ist der abschließende Beleg dafür, dass diese Trennung nicht mehr möglich ist. Das ist für diejenigen, denen es um die Lehrstandpunkte dieses Konzils zu tun ist, ein erfreuliches Ergebnis dieses Artikels. Ob die Konsequenz ausreicht, die der Papst selbst in seinem Brief gezogen hat, nämlich die Kommission der Ecclesia Dei der Glaubenskongregation zu unterstellen, wird sich zeigen müssen. Von Haus aus hat die Glaubenskongregation einen Fokus auf die ecclesia ad intra. Man wird künftig auf ihre konziliare Kompetenz zurück schließen können, wie weit sie die religiöse Problematik der Piusbrüder unter den Gesichtspunkten der ecclesia ad extra verhandeln kann. Aber das ist eine Frage jenseits des Themas des Artikels von Frau Scherzberg.


Schwächen des Textes

Neben diesen Stärken treten an drei Stellen des Artikels Schwächen zu Tage. Es sind die Stärken des Textes, die diese Schwächen sichtbar machen. Sie ergeben sich an solchen Stellen, an denen die Wechselwirkung von Religion und Politik, von gesellschaftlich Bedeutsamen und religiös Entschiedenem einflussreich ist, aber nicht aufgegriffen wird oder zu wenig weiter verfolgt wird. Das ist besonders in der Analyse der Piusbruderschaft zu beobachten. Wie der Aufsatz zu Recht herausstellt, gilt nach deren Selbstzeugnis für die Liturgie: „Die Alte Messe ist katholisch und predigt das Christkönigtum; die Neue Messe ist ökumenisch und demokratisch.“ Die Zuordnung von katholisch versus ökumenisch und Christkönigtum versus Demokratie stellt strukturell die Verbindung von Religion und Politik heraus, an der sich die öffentliche Debatte entlang entwickelt hat und auf der auch der Aufsatz von Frau Scherzberg selbst basiert. Aber es wird nicht ausgeführt, welche politische Vorstellung bei den Piusbrüdern mit dem Christkönigtum verbunden ist. Sie ist offenkundig anti-demokratisch und sie ist ebenso ablehnend zu den Menschenrechten. Die Frage, welche Rolle Menschenrechte für die strittige Frage nach der richtigen Form der Liturgie spielen, hätte aufgegriffen werden müssen, weil sie nicht zuletzt für den Williamson-Skandal signifikant ist. Die Erinnerung an die Shoa ist ein Menschenrecht der Opfer, speziell den Tätern gegenüber. In der Piusbruderschaft wird diese Erinnerung dem Christkönigtum geopfert. Diese Opferung wird von Frau Scherzberg latent unterschätzt. Entsprechend wirft sie die Frage nach Nähe oder Distanz der Christozentrik des gegenwärtigen Papstes zu diesem Christkönigtum nicht auf. Eine Antwort auf diese Frage wäre weiterführend.

Der zweite Punkt betrifft die Verbindung von Religionsdialog und Religionspolitik. Die Religionsdialoge, die Johannes Paul II. besonders mit dem Judentum und in den Religionstreffen von Assisi geführt hat, wird durch die Piusbruderschaft entschieden abgelehnt. Ihr Distriktoberer für Deutschland bemüht dabei die Tradition des Gottesmordvorwurfs gegenüber den Juden und das hat er im Skandal um Williamson nur unwesentlich modifiziert. Frau Scherzberg weist auf die Repräsentanz dieser Position für die Piusbruderschaft zu Recht hin. Sie kommentiert das mit einem Hinweis auf die strukturelle Nähe zu US-Evangelikalen: „Er [der Distriktobere] dokumentiert mit diesen Aussagen eher eine Nähe zu rechtsradikalem Gedankengut als zur Lehre der katholischen Kirche und zeigt mehr Ähnlichkeiten mit fundamentalistischen Christen aus dem ihm so verhassten protestantischen Spektrum. Den Platz des Biblizismus dort nimmt bei der Piusbruderschaft der Traditionalismus ein – wie sich dort die Auslegung der Bibel allein auf den Wortlaut beruft (allerdings auch nur, wo es zum eigenen Denken passt), so berufen sich die Traditionalisten auf eine wörtlich fixierte Tradition, die sich, wenn sie die Höchstform erreicht hat, nicht mehr weiterentwickeln könne“. Die Austauschbarkeit von Biblizismus und Traditionalismus ist ein Argument, das sich jedoch erst ad extra erschließt; ad intra sind es lediglich die alten Fronten aus der Kontroverstheologie der Neuzeit. Ad extra ziehen dagegen beide daraus politische und gesellschaftliche Konsequenzen, die einen unmittelbaren Machtanspruch darstellen. Dieser Machtanspruch wird von Frau Scherzberg nur beiläufig ausgeführt; sie fokussiert sich dabei auf die Kirchenpolitik im Umgang der Piusbrüder mit dem Vatikan. Aber der Anspruch ist viel weiter gefasst, wofür die Parallele zum Fundamentalismus der US-Evangelikalen in der Tat sehr sprechend ist. Die ‚one nation under God’ der US-Evangelikalen und die Herrschaft der ‚wahren Religion’ der Piusbrüder beinhalten dieselben Dominanzansprüche religiöser Wahrheitsbehauptungen gegenüber der Ordnung heutiger Gesellschaften. Sie können beide die Ohnmacht nicht ertragen, dass ihr jeweiliges Wahr-Sagen auf biblizistischer und traditionalistischer Basis für eine übergroße Mehrheit nicht überzeugend ist; deshalb transformieren sie es in Politiken des Ressentiments. Es ist in diesem Zusammenhang markant, dass die Piusbrüder für ihre Ablehnung der Menschenrechte von Homosexuellen, wie sie etwa bei Christopher-Street-Days ergriffen werden, die Tradition des Widerstands gegen den Nationalsozialismus bemühen. Die Erhabenheit des eigenen Wahr-Sagens soll demonstriert werden, indem dessen latentes Gewaltpotential einfach der gegnerischen Position unterschoben wird. Dieser Etikettenschwindel wird religiös begründet, weil er politisch nicht diskursiv überzeugend eingebracht werden kann. Politik wird dabei zur Verlängerung der Religion mit anderen Mitteln. Es wäre im Aufsatz spannend gewesen, diese Verlängerung zu beobachten.

Der dritte Punkt hat es mit dem Umstand zu tun, dass die Kommission Ecclesia Dei nach ihrer eigenen Erklärung nicht nach den politischen Positionen der Piusbrüder geforscht hat, weshalb ihr die Tradition der Holocaust-Leugnung durch Richard Williamson entgangen sei. Diese Positionen wurden, wie Frau Scherzberg belegt, vom damaligen Leiter der Ecclesia Dei als „politische Meinungen“ angesehen, also als religiös nicht einschlägiges oder wenigstens drittklassiges Material. Frau Scherzberg geht darauf nur insofern weiter ein, als sie hier mangelnde Sorgfalt am Werk sieht, die beim kurialen Screening für neu zu berufene Theologie-Professorinnen und –Professoren nicht auftritt. Sie hat mit dem Hinweis recht, dass es ein leichtes gewesen wäre, sich über diese ‚Meinungen’ ein Bild zu machen, was ja vom Papst in seinem Brief auch anerkannt worden ist. Interessant wäre es, warum Ecclesia Dei diese Nachforschungen unterließ. Womöglich kommt hier etwas Verschwiegenes zum Vorschein, worauf die Kennzeichnung einer Holocaust-Leugnung als bloße ‚Meinung’ hinweist. Damit wird die öffentliche Bedeutung dieser Leugnung relativiert; aus ihr wird ein persönliches Problem dessen, der sie äußert. Diese Relativierung ist ein signifikanter Vorgang, weil sie der schlimmsten der vielen Relativierungen des 20. Jahrhunderts, eben derjenigen der Shoa, öffentlichen Raum lässt.

Der Widerstand zu Relativierungen in der gegenwärtigen Zivilisation ist das erklärte Pontifikatsprogramm von Benedikt XVI. Ecclesia Dei hat darunter offensichtlich nicht die Relativierung des Holocaust verstanden, die sie zudem noch personalisiert und damit aus der öffentlichen Positionierung von Kirche heraushalten will. Daraus ergibt sich eine markante Gemeinsamkeit mit den Piusbrüdern, die sich auf die Trennung von Innen und Außen in Sachen Relativierung von Wahrheiten bezieht. Größen außerhalb der Kirche können keine elementare Bedeutung für innerkirchliche Positionen gewinnen; diese ruhen in sich, weil sie Wahrheit besitzen. Relativierungen des Holocaust berühren dann die kirchliche Lehre nicht, weil sie nicht den Ort einer innerkirchlichen Wahrheit besitzen. Innerkirchliche Wahrheitsbehauptungen sind dagegen stets in der Lage, sich außerkirchlich als gesellschaftliche Forderungen zu präsentieren, besonders gegenüber Relativierungen von Forderungen an die Gesellschaft, die aus dem Glauben heraus erhoben werden. Aber keine außerkirchlich positionierte Relativierung gesellschaftlicher Wahrheiten durch die Repräsentanten der Kirche kann eine Relativierung der eigenen Wahrheit des Glaubens darstellen.

In gerade dieser Weise steht hinter Bischof Williamsons Relativierung des Holocaust ein Wahrheitsanspruch, der integral für den christlichen Glauben auftritt und der die eigene Tradition auf alle öffentlich relevanten Fragen bezieht. Der Anspruch ist gegenüber der katholischen Kirche und gegenüber jeder Gesellschaft totalitär, was Frau Scherzberg überzeugend herausarbeitet. Von diesem Wahrheitsanspruch sind die Piusbrüder auf die Kirche hin beseelt, weshalb sie von Frau Scherzberg kirchlich als revolutionär charakterisiert werden: „Das ständige Reden von der Tradition kaschiert, dass es sich hier nicht um eine konservative, sondern um eine umstürzlerische Strategie in der paradoxen Form eines „Papismus gegen den Papst“ handelt; die Priesterbruderschaft ist von ihrem strategischen Vorgehen her nicht eine bewahrende Gruppe, sondern eine totalitär ausgerichtete revolutionäre Avantgarde.“ Das Selbstverständnis einer Avantgarde bleibt bei der Kirche nicht stehen. Sie will ihre Utopien auf alle ausdehnen und dafür die Disziplinierungspotentiale nutzen, die im Wahr-Sagen von religiösen Überzeugungen vorhanden sind. Diese Ausdehnung ist jedoch an ein Wahr-Sagen gekoppelt, das nicht falisfiziert werden kann, weil es als umfassende Tradition bereits feststeht; außerkirchlichen Größen können dabei nicht die Autorität eingeräumt werden, innerkirchliches Wahr-Sagen zu falsifizieren. Sie bieten lediglich den Raum, dieses Wahr-Sagen für alle sichtbar zu machen und seine Überlegenheit vor allen zu demonstrieren. Das ist die alte Strategie der societas perfecta, die nichts, was sie zu ihrer Existenz benötigt, von außerhalb nehmen muss, weil sie alles Nötige bereits in sich zur Verfügung hat. In ihr war es die hervorragende Aufgabe der Hierarchie, diese Unabhängigkeit allen gegenüber, besonders den Konkurrenten und Gegnern, sichtbar zu machen. Diese Strategie benötigt einen Traditionsbegriff, der als eine eigenständige, von anderen loci theologici vollkommen unabhängige Quelle der Offenbarung angesehen wird, insbesondere vom locus theologicus alienus Geschichte. Die Einsicht in die Falschheit dieser Utopie von Tradition ist eine der elementaren Leistungen des letzten Konzils.

Die Frage ist, ob diese Utopie in der Aussöhnungsabsicht mit den Piusbrüdern erneut auftritt und in den vatikanischen Reaktionen auf die öffentliche Debatte darüber wieder vorhanden ist. Diese Gemeinsamkeit mindestens zwischen Ecclesia Dei und den Piusbrüdern auf den Traditionsbegriff hin wäre eine eigenen Betrachtung wert gewesen, weil sie ein Grundproblem in der beabsichtigten Aufhebung des Schismas aufzeigt. Die aus seiner solchen Tradition resultierende Communio bestätigt sich in sich selbst und aus sich selbst; sie leitet den eigenen Wahrheitsanspruch aus sich selbst ab und wendet ihn gegenüber allen möglichen anderen an. Weil sie in der Lage ist, ein Schisma zu überwinden, wenn es dazu kommt, empfände sich diese Communio aus sich selbst heraus bestärkt und fähig, den öffentlichen Relativierungen im Außen ihrer selbst zu trotzen. Die Anfragen an diese Communio könnten dann als unwesentlich abgetan werden, weil sie nichts mit der Tradition zu tun haben, die diese Communio auszeichnet und vor allen anderen auszeichnet. Die Aufhebung des Schismas wäre eine Selbstbestätigung der societas perfecta von Kirche und eine Bestätigung der umfassenden Bedeutung der Utopie ihrer Selbstbegründung. Auf diese Utopie hin hätte man den Aufhebungstext der Exkommunikation, die Reaktionen von Ecclesia Dei auf die Debatte und die öffentlichen Positionierungen zur Verteidigung des Papstes gewichten können. Den öffentlichen Widerspruch zur Leugnung des Holocaust kann eine societas-perfecta-Kirche nicht garantieren; dafür ist sie auf andere angewiesen. Die Frage an die genannten Positionierungen könnte lauten, ob sie diesen Widerspruch als für sich selbst wesentlich begreifen oder nicht. Im ersten Fall hätten sie eine Art Böckenfördesches Paradoxon für die Kirche anerkannt, dass die Kirche – wie der moderne Staat – von Voraussetzungen lebt, die sie nicht selbst garantieren kann. Im zweiten Fall gälte jenen Positionen der Widerspruch zur Leugnung des Holocaust als unwesentliche Frage für den öffentlichen Ort der Kirche und damit für public religion generell.

Eine weiterführende Frage an den Papst ist in diesem Zusammenhang, ob die öffentliche Relativierung seiner Absicht, das Schisma aufzuheben, durch die Holocaust-Leugnung Williamsons überhaupt eine Bedeutung für die von ihm anvisierte Communio der Kirche hat, deren Bestärkung er verpflichtet ist. Man kann seine Äußerungen in diesem Zusammenhang darauf befragen, ob er diese Leugnung unter die Diktatur des Relativismus rechnet, der sein Pontifikat ja widerstehen soll. Das ist zugleich die Frage, inwieweit überhaupt historisch-politisch unausweichliche Orte, an denen moderne Utopien, die auch die Kirche geteilt hat wie eine christlich beseelte abendländisch-europäische Zivilisation, gescheitert sind, zugleich auch für diese Communio unausweichlich sind; denn immerhin stellen sie markante Relativierungen dar, denen politisch und gesellschaftlich hohe Bedeutung zugesprochen wird. Auschwitz ist ein solcher Anders-Ort, an dem eine ganze Reihe von modernen, auch kirchlich geteilten Utopien scheitert. Im Rahmen der Sachfrage des Aufsatzes kann man sagen, dass Williamsons Holocaust-Leugnung an diesem Ort Auschwitz öffentlich gescheitert ist. Die Frage ist, ob die Utopie einer elementaren Gemeinsamkeit der katholischen Kirche mit der Religionsgemeinschaft der Piusbrüder, also eine wirkliche ekklesiale Communio, die Qualität eines solchen Anders-Ortes überhaupt gewichten kann. Wenn ja, dann gehört die Anerkennung solcher Orte zum Bekenntnis dieser Communio. Dann würde der politisch prekärste Ort der modernen Zivilisation zu einem religiös unausweichlichen Ort für die kirchliche Communio, weil sie hier mit gescheiterten Utopien ihrer eigenen Tradition konfrontiert wird.

Das Fazit von Frau Scherzbergs Artikel umgeht dieses Scheitern an politisch unausweichlichen Orten, wenn der Artikel auf die kirchenrechtlich bedeutsame Communio der gültig geweihten Piusbrüder-Bischöfe mit den Bischöfen in der apostolischen Sukzession abhebt. In der Tat ist nicht der defectus ordinis das Problem der Kirche mit den Piusbrüdern, wohl aber ihr defectus historiae. Der erste besteht nicht, der zweite ist gravierend. Diesem zweiten defectus müsste sich dieser Aufsatz stärker stellen.

Anregung

Daraus ergeben sich die Anliegen der Anregung, die ich diesem Aufsatz geben möchte. Als Rahmenbetrachtung der detaillierten Auflistung bietet sich das Wechselverhältnis von Religion und Politik als eines öffentlichen Problems an, dem sich die Debatte gestellt hat und das sich an der Aufmerksamkeit auf prekäre Orte wie – im vorliegenden Fall – den Vernichtungslagern des Holocaust kristallisiert. Diese Wechselseitigkeit ist an den jeweils neuralgischen Ereignissen und den entscheidenden öffentlichen Reaktionen darauf am Werk. Und sie zeichnet die Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils aus, das zwischen der Kirche und den Piusbrüdern strittig ist. Auf die Bedeutung dieser Wechselseitigkeit für die Communio von Kirche kann dann auch das Fazit erhoben werden. Das würde die Realität stärken, der Frau Scherzbergs Artikel auf der Spur ist: dass es sich bei diesem Abschnitt der zeitgenössischen Kirchengeschichte um eine Schaltstelle für den öffentlichen Ort der Botschaft handelt, für die die Kirche da ist.

 

2. Prof. Dr. Rainer Bucher, Graz

Gutachten zum Aufsatz von Lucia Scherzberg „Der Papst und der ‚Fall Williamson‘. Chronologie und Analyse des Konflikts“


I.
Was passiert ist, wenn etwas passiert ist, merkt man meist erst hinterher und auch das nicht immer. Die Entdeckungsgeschichte der Vergangenheit ist bekanntlich unabgeschlossen, HistorikerInnen leben davon. Dass mit der Aufhebung der Exkommunikation von vier Bischöfen der Priesterbruderschaft Pius X. durch Benedikt XVI. am 21. Januar 2009 wirklich etwas passiert ist, bemerkten freilich sehr viele sofort. Dazu brauchte es eigentlich den auf den ersten Blick eher zufällig, letztlich aber dann doch ganz folgerichtig damit verbundenen „Fall Williamson“ nicht.
Lucia Scherzbergs Artikel fügt sich ein in die Reihe wissenschaftlicher Aufarbeitungen der Vorgänge dieses Frühjahrs [1] rund um die Piusbrüder und stellt einen ersten, detaillierten, primär historiographischen Schritt zum Verstehen der damaligen Ereignisse dar.
Ich möchte aus dem Text Lucia Scherzbergs zwei Hauptlinien hervorheben, zudem drei kleinere Beobachtungen – oft sind ja die kleinen Nebenbeobachtungen am lehrreichsten – notieren und schließlich ein durchaus ermutigendes Fazit ziehen.

II.
Liest man die damaligen Vorgänge im chronologischen Zeitraffer Lucia Scherzbergs, wird man zweier Ebenen gewahr. Zum einen ist da die Ebene der unmittelbaren Ereignisse, der öffentlichen Verlautbarungen und teils hektischen Reaktionen und Gegenreaktionen, wie Scherzberg sie akribisch dokumentiert. Und dann ist da die Ebene einer ganz unbeirrten, lange vor diesem Frühjahr beginnenden und wohl auch noch längere Zeit anhaltenden römischen Politik einer minimalistischen Interpretation zentraler Ergebnisse des II. Vatikanums. Die Ebene der Ereignisse zeigt sich dabei als (von Rom her sicherlich unerwartete) Veröffentlichungs- und Skandalisierungsspitze jener anderen, längeren Bewegung. Dazu braucht es noch nicht einmal ausführliche Studien außerhalb des untersuchten Zeitraums, es genügt der Blick auf die offiziell vorgetragenen Annäherungsargumente, um zu erkennen, dass hier nicht nur die Piusbrüder mit dem Vatikan taktisch umgehen, sondern auch umgekehrt seitens Roms ein Prozess mit mehreren Ebenen und Intentionen abläuft.
Die Hintergrundabsichten dieses Prozesses sind naturgemäß nur schwer zu rekonstruieren. Scherzberg fokussiert als historisch interessierte Dogmatikerin auf das katholische Sakraments-,  Amts- und Kirchenverständnis als römischen Handlungsantrieb, sicher nicht zu Unrecht. Zumindest nahezuliegen scheint mir aber auch der pastoral(-theologisch) noch relevantere Verdacht, dass man jenen „Ortswechsel“ (Bauer/Sander) zurücknehmen will, den die katholische Kirche im II. Vatikanum vor allem mit der Pastoralkonstitution Gaudium et spes vorgenommen hat und der zwischen Kirche und moderner Gesellschaft nicht länger ein institutionell codiertes Innen/Außen-Verhältnis etabliert, sondern ein handlungs- und ortsbezogenes, differenziertes Solidaritätsverhältnis. Mit den Piusbrüdern ernsthaft in Kontakt treten, ihnen gar eine Rückkehrperspektive eröffnen kann nur, wer akzeptiert oder als irrelevant erachtet, was diese nie versteckt haben: ihre abgrundtiefe Verachtung (bis in die Wortwahl) der spätmodernen Gegenwart und der von ihr geprägten Menschen. Beides aber läuft auf eine manifeste Rücknahme eben jenes konziliaren „Ortswechsels“ hinaus. 


III.
Lucia Scherzberg rückt die Haltung der katholischen Kirche zum Holocaust in den Mittelpunkt ihrer Analysen der Vorgänge um die Piusbrüder. Das entspricht Scherzbergs langjährigen Forschungsinteressen. Sie sieht den „tiefere(n) Grund für die Dramaturgie dieses Konflikts“: im „mangelnde(n) Bewusstsein… für die Bedeutung der Erinnerung an den Holocaust und für die Notwendigkeit einer Aufarbeitung des Antisemitismus, auch in der Kirche.“ Jene Bedeutung und diese Notwendigkeit gibt es ohne Zweifel, und sicher auch das angesprochene Bewusstseinsdefizit hier und da in der Kirche, wenn auch der Blick auf Johannes Paul II. zumindest eine gewisse Differenzierung auch für den Vatikan und die römische Position nahelegt. Sehr hilfreich im konkreten vorliegenden Fall ist hier übrigens Norbert Recks 2006 veröffentlichter Rückblick auf die Auseinandersetzung mit dem Holocaust innerhalb der katholischen deutschen Theologie während der letzten drei katholischen Theologengenerationen[2] eine Analyse, die auch hilft, die Position des gegenwärtigen Papstes einzuordnen.
Freilich scheint mir der tiefere Grund für die Dramaturgie dieses Konflikts weniger in der Positionierung der Kirche und der Piusbrüder zum Holocaust zu sein als vielmehr in der Verhältnisbestimmung von Religion und Politik überhaupt. Dass der Holocaust ein Menschheitsverbrechen ungeheuren Ausmaßes war, wird in Rom niemand leugnen, ob er aber etwas darstellt, das, wie andere Menschenrechtsverletzungen auch, den innersten Bereich der Kirche berührt, das ist offenbar umstritten. Die Menschenrechte sind in der Theologie der Piusbrüder im Kern eine widergöttliche Anmaßung, in der Theologie des II. Vatikanums Konsequenzen der religiösen Berufung des Menschen durch Gott. Wer mit den Piusbrüdern verhandelt, muss die Holocaust-Leugnung nicht akzeptieren, und Rom tut dies ja auch nicht. Rom scheint aber zu akzeptieren, dass Menschenrechtsverletzungen etwas nur Politisches und Moralisches sind, aber keine religiöse Bedeutung haben. An dieser Schnittstelle läuft der Konflikt und es ist noch lange nicht klar, wer da wo steht.
Die Reaktionen auf Angela Merkels Intervention etwa lässt hier Zweifel zu. Denn Merkels (für sie natürlich politisch außerordentlich heikle) Wortmeldung war ausdrücklich in der Sorge motiviert, dass durch die Annäherung des Vatikans an die Piusbrüder der Eindruck entstehen könnte, der Holocaust könne in der katholischen Kirche ohne Bedeutung für deren Identität geleugnet werden. Merkel hat nie dem Papst Holocaust-Leugnung unterstellt, was auch absurd gewesen wäre. Sie hat vielmehr die Sicherheit gewollt, „dass es hier keine Leugnung geben kann.“ Das ist mehr und etwas anderes, als die Holocaustleugnung als „dumm“ oder „töricht“ zu verurteilen. Merkels Anfrage zielte im letzten darauf, ob die Verurteilung der Holocaust-Leugnung und das positive Verhältnis zum Judentum für die katholische Kirche von ihr selber her konstitutiv sind oder beides für sie nur eine akzidentielle, politisch-historische Realität darstellt.

IV.
Einige kleinere Nebenbeobachtungen: Was der Pastoraltheologe, dem Kirchenrecht in nachbarschaftlicher Fremdheit von jeher verbunden, schon immer vermutete, wird auch an dieser causa und in Scherzbergs Text bestätigt: Das Interessanteste am Kirchenrecht ist, was man mit ihm machen kann, und das ist offenbar so ziemlich alles. Es mutet jedenfalls fast ein wenig rührend an, wenn man nach diesen Vorgängen Lösungshoffnungen auf das Kirchenrecht setzt. Scherzbergs Artikel, welcher die kirchenrechtliche Logik oder Unlogik und die bisweilen geradezu postmodern anmutende Dissonanz der Vorgänge um die Piusbrüder streift, macht sichtbar: Das Kirchenrecht ist ein innerkirchlicher Konfliktdiskurs mehr, nicht mehr und nicht weniger. Keinesfalls aber ist das Kirchenrecht ein Regelungsdiskurs, an den sich alle halten. Dass die Piusbrüder diesen Diskurs virtuos beherrschen, ist offenkundig und ja auch die Basis, auf der sie sich selbst als legitime Angehörige der römisch-katholischen Kirche sehen und weiterhin tun, was sie „eigentlich“ nicht tun dürfen, etwa Priester weihen, was der Vatikan zwar verurteilt, aber nicht sanktioniert. Das Recht steht in der katholischen Kirche eben noch ein bisschen weniger über der Macht als andernorts.

V.
Bekanntlich haben die Piusbrüder, wie schon manche andere raue und radikale Gesellen in der Geschichte, ihre intellektuellen Bewunderer in Wissenschaft und besonders Feuilleton. Scherzberg verweist mit Gustav Seibt dankenswerterweise darauf hin, dass „angesichts eines so glibberigen geistigen Abgrunds“, wie er bei den Piusbrüdern sichtbar wird, man nach dem Verhältnis dieses Feuilletonkatholizismus „zu dieser Gespensterwelt“ fragen müsse. Da führt eine spannende Fährte weiter. Es mehren sich nämlich die Zeichen, dass die Faszination durch diese Gespensterwelt durchaus anhält. Diese Faszination ist selbst ein „Zeichen der Zeit“, also eine durchaus nicht leicht zu beantwortende Herausforderung, an der sich das Evangelium bewähren muss. Was fasziniert hier? Warum werden Liturgie und Pastoral der Mehrheitskirche so ausgiebig denunziert? Diese Fragen sind offen und können weder durch die bloße noch so richtige Wiederholung der Logik des II. Vatikanums, noch durch Entgegenkommen (da mal eine tridentinische Messe, da mal ein Flirt mit der vorkonziliaren Kirche) beantwortet werden. Diese Herausforderung fordert neue Ansätze.

VI.
Scherzbergs Text schließt seine Chronologie mit dem Brief Benedikts XVI. vom 12. März 2009. Scherzberg referiert einerseits die Zustimmung zu den selbstkritischen Passagen dieses Briefes etwa bei den deutschen und französischen Bischöfen, aber auch die eher konservative Kritik der FAZ (Patrick Bahners), welche darauf hinausläuft zu fragen, wie ein Papst eigentlich so unsouverän und empfindlich sein könne, einen kirchen-politischen Konflikt derart zu personalisieren. Personalisiert man nun diese Beobachtung ihrerseits nicht wieder und ergeht man sich also nicht in Analysen der Person Joseph Ratzinger, dann bedeutet dies die Frage nach der Struktur und Wirkungsweise des Papsttums in einer extrem globalisierten Mediengesellschaft. Schon bei Johannes Paul II. war die virtuose Umformatierung des Papsttums zu einer medial-personalistischen Globalwirklichkeit zu beobachten. Es geht also – wieder einmal – um die Frage, inwieweit Medienrevolutionen religiöse (und innerkirchliche) Verhältnisse grundsätzlich neu konstellieren. Politik wird gegenwärtig in globalem Maßstab zunehmend medial personalisiert, die Trennung von Amt und Person, eigentlich ein Charakteristikum gerade der katholischen Amtstheologie, wird so zugunsten eines gewissen Amtspersonalismus auch in der Kirche zurückgedrängt. [3] Was bedeutet dies für die Zukunft des Papsttums und seine reale Funktion in der Kirche?


VII.
Es bleibt ein tröstlicher Schluss. Man darf dankbar sein für diese Vorgänge. Es deutet sich an, dass die lähmende Zeit der schleichenden Verschiebungen vorbei sein könnte. Wie die meisten Konflikte klärt auch dieser nicht alles, aber viel. Es legt sich der Pulverdampf der Eskalation und der Blick wird frei auf das, worum es geht: um die katholische Kirche der Zukunft, ihre Weichenstellung und ihre Grundlagen.


[1]Vgl.: P. Hünermann, Excommunicatio – Communicatio. Versuch einer Schichtenanalyse der aktuellen Krise, in: Herder Korrespondenz 63(2009) 119-125; Wolfgang Beinert (Hrsg.), Vatikan und Pius-Brüder. Anatomie einer Krise, Freiburg/Br.-Basel-Wien 2009; Alois Schifferle, Die Pius-Bruderschaft. Informationen – Positionen – Perspektiven, Kevelaer 2009.
[2]Norbert Reck, „… er verfolgt die Schuld der Väter an den Söhnen und Enkeln, an der dritten und vierten Generation“ (Ex 34,7). Nationalsozialismus, Holocaust und Schuld in den Augen dreier katholischer Generationen, in: B. Krondorfer/K. v . Kellenbach/Ders. (Hrsg.), Mit Blick auf die Täter. Fragen an die deutsche Theologie nach 1945, Gütersloh 2006, 171-252.
[3]Vgl. dazu etwa Hubertus Lutterbach, Tot und heilig? Personenkult um „Gottesmenschen“ in Mittelalter und Gegenwart, Darmstadt 2008.





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