Gutachten und Diskussionsbeiträge zu Norbert Reck „... daß uns in unseren Tagen ein Kampf verordnet ist“ Eine Relektüre von Predigten Martin Niemöllers „nach Auschwitz“
Übersicht:
Gutachten:
1. Prof. Dr. Michael Hüttenhoff,
Saarbrücken
2. Pfarrer Dr. Peter Noss, Bochum
Diskussionsbeiträge:
Gutachten
1. Prof. Dr. Michael Hüttenhoff, Saarbrücken
Die rechtfertigungstheologische Orientierung der Predigten Martin Niemöllers. Gutachen zu Norbert Reck, „daß uns in unseren Tagen ein Kampf verordnet ist“. Eine Relektüre von Predigten Martin Niemöllers „nach Auschwitz“
2. Reck untersucht Predigten und Äußerungen Niemöllers aus der Zeit von 1937 bis 1946. Nur die von ihm herangezogenen Passagen aus „Vom U-Boot zur Kanzel“, das 1934 erschien, stammen aus früherer Zeit. Bedauerlich ist, dass er die Predigten aus den Jahren 1933-35 nicht einbezieht.[1] Damit bleiben Quellen für Niemöllers Theologie vor dem Kirchenkampf und an dessen Anfang sowie für die Entwicklung von 1933 bis 1937 ungenutzt. Wenn Reck seine Darstellung der frühen Theologie Niemöllers und damit des Ausgangspunktes der von ihm beschriebenen Entwicklung nur auf eine Passage in „Vom U-Boot zur Kanzel“ stützt, so ist das eine äußerst schmale Basis.
3. Als Ergebnis seiner Untersuchung hält Reck fest: „Aus der ihm überkommenen bürgerlichen Theologie der individuellen Heilsvergewisserung wurde nach und nach eine Art europäischer Befreiungstheologie, die die Botschaft des Evangeliums immer konsequenter als Handlungsperspektive in den Konflikten mit dem NS-Regime und den nachfolgenden Schuldverleugnungsstrategien zu sehen verstand.“ Dem Relativsatz ist ebenso zuzustimmen wie den Thesen, dass Niemöller „schrittweise ein politisch-gesellschaftliches Verständnis von Verantwortung und Schuld“ entwickelt habe und dass aus „der anfänglichen Verantwortung gegenüber den ‚Christenbrüdern‘ ... immer klarer eine Verantwortung für alle Menschen, die den eigenen Weg kreuzen“, geworden sei. Zutreffend weist Reck darauf hin, dass in den Dahlemer Predigten Niemöllers „die verfolgten Juden ... keine Rolle“ spielen. Doch nach dem Krieg redete Niemöller konkret von der Schuld gegenüber den Juden, aber auch gegenüber den Kommunisten, deren Einweisung ins Konzentrationslager man hingenommen habe, und gegenüber den ermordeten „Schwachsinnigen und Geistesgestörten“ [2].
Nicht zureichend begründet ist die Klassifikation der Nachkriegs-Theologie Niemöllers als einer „Art europäischer Befreiungstheologie“. Zu der Neuausrichtung der Theologie Niemöllers gehörte zwar, dass er nun schreiben konnte: „Wenn in dieser Welt die christliche Kirche einen Platz hat und gehört wird, dann haben wir als Kirche [!] ein Interesse und eine Aufgabe, daß den Menschen Recht und Freiheit auch im öffentlichen und staatlichen Leben gegeben werde.“ [3] Mit „Der Weg ins Freie“ widmete er einen ganzen Vortrag der persönlichen Verantwortung, die frei macht. [4] Aber genügt das, um die Anwendung des Begriffs „Befreiungstheologie“ zu rechtfertigen? Welche Kriterien muss eine europäische Theologie erfüllen, damit ihre Klassifikation als „Befreiungstheologie“ sachgerecht ist? Muss der Sinn von „Befreiungstheologie“ nicht zur Unschärfe zerdehnt werden, wenn er aus dem ursprünglichen lateinamerikanischen Kontext in den Kontext Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg übertragen wird?
Unklar ist auch die Formel „bürgerliche Theologie der individuellen Heilsvergewisserung“. Dem Ausdruck „bürgerlich“ fehlt an dieser und früheren Stellen im Aufsatz die analytische Schärfe. Er wird hier aufgrund seiner pejorativen Konnotation eingesetzt, um die Theologie individueller Heilsvergewisserung zu diskreditieren. Doch das Interesse an individueller Heilsvergewisserung ist weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart auf bürgerliche Schichten beschränkt. Auch in Niemöllers Nachkriegspredigten lässt es sich nachweisen. Denn in ihnen forderte Niemöller die Einzelnen nicht nur zum Bekenntnis der Schuld auf, sondern ebenso verkündigte er denen, die ihre Schuld bekennen, die Vergebung der Sünde. [5] Den Zusammenhang zwischen der Rede von der Schuld und von der Vergebung hebt Reck mit Recht hervor: „Niemöller spricht ganz offenkundig deshalb so freimütig von Schuld, weil er tief von Gottes Vergebungswillen überzeugt ist.“
Den Bruch mit dem bürgerlichen Christentum scheint Reck in die späte Dahlemer Zeit zu datieren. Aber wann findet er genau statt? Wie ist die von Reck nicht berücksichtigte Polemik gegen Bürgerlichkeit, Spießertum und Privatisierung des Glaubens in den frühen Dahlemer Predigten zu beurteilen? [6] In welchem Traditionszusammenhang steht diese anti-bürgerliche Polemik? Eine derartige Polemik gehörte auch zum Repertoire des Nationalsozialismus. [7] Niemöllers anti-bürgerliche Aussagen scheinen dieser Polemik entgegenzukommen. Wenn Niemöller sich aber bereits in den frühen Dahlemer Predigten von einem bürgerlichen und privatisierten Christentum absetzte, zu welchem Zeitpunkt soll er dann eine bürgerliche Theologie vertreten haben? Ist es angesichts der Nähe antibürgerlicher Sprache zur Polemik des Nationalsozialismus und anderer totalitärer Ideologien überhaupt sinnvoll, als Interpret selbst diese Sprache zu verwenden? Zumindest wäre es nötig, mehr Klarheit zu schaffen und eine schärfere und nüchternere Fassung des Begriffs „bürgerlich“ zu entwickeln.
4. Erläuterungsbedürftig ist auch die Aussage, Niemöllers Theologie habe „sich nie in einem unspezifischen ‚Wir‘ der allgemeinen Betroffenheit verloren“. Diese These irritiert angesichts dessen, dass das „Wir“, in dem Niemöller sich mit seinen Zuhörern zusammenschließt, das dominierende Personalpronomen der Predigten ist. Im „Wir“ erscheint eine den Prediger und die Hörer umfassende Gemeinschaft, die je nach Zusammenhang eine Gemeinschaft der Bekenner, Verfolgten, Notleidenden, Schuldigen, Vergebung Empfangenden usw. ist. Sucht man in Recks Aufsatz nach Belegen für die These, so stößt man auf zwei Stellen: a) In der Einleitung schreibt er: „Es gibt bei Niemöller keine ‚Subjektverbergung‘, kein Sichverstecken hinter einem allgemeinen ‚Wir als Kirche‘ oder ‚Der christliche Glaube sagt ...‘“ Wie ordnet Reck dann aber die oben zitierte Aussage ein, nach der „wir als Kirche“ [8] ein Interesse und eine Aufgabe haben? – b) In der Predigt, die Niemöller Weihnachten 1944 in Dachau hielt, wechselte er vom Wir ins Du und formulierte: „Du brauchst nicht auf die Suche zu gehen nach Gott; du darfst nicht meinen, er sei dir fern und kümmere sich nicht um das, was dich drückt!“ [9] Nach Reck verträgt ein „solcher Satz kein ‚Ihr‘ und kein ‚Liebe Freunde‘ – er ist ein Zeugnis des eigenen Glaubens“. Doch Reck berücksichtigt nicht, dass Niemöller an dieser Stelle seine Hörer nicht direkt anspricht, sondern die christliche Heilsbotschaft sprechen lässt. Ähnlich machte er in seiner letzten Dachauer Predigt am Ostermontag 1945 Christus zum Sprecher des „Du“: „Hast du mich vergessen und bist doch auf meinen Namen getauft?! ... Und ich rede mit dir, jetzt und hier, und ich will dich den rechten Weg führen. Nun steht die Entscheidung bei dir: willst du dich von mir führen, von mir strafen, zurechtweisen, warnen, locken und trösten lassen?“ [10] Die Verwendung der zweiten Person hat an beiden Stellen nicht die Funktion, eine besondere Nähe zwischen Prediger und Hörer herzustellen, sondern den Prediger zurückzunehmen und den Hörer der unmittelbaren Begegnung mit der Heilsbotschaft bzw. mit Christus zu schaffen. – Angesichts der Dominanz des „Wir“ und der Seltenheit und Indirektheit des „Du“ müsste dargelegt werden, wodurch sich dieser Gebrauch des „Wir“ von dem „‚Wir‘ der Betroffenheit“ unterscheidet.
5. Recks Aufsatz schenkt der Kontinuität im Denken Niemöllers zu wenig Aufmerksamkeit. Diese Kontinuität beruht auf der sich durchhaltenden Orientierung an der reformatorischen Rechtfertigungslehre. Niemöller selbst war sich dieser Kontinuität bewusst. Ohne zu bestreiten, dass 1933 und 1945 geschichtliche Einschnitte waren, formulierte er 1945 provozierend: „Tatsächlich ist nichts geschehen, was irgend etwas an dem ursprünglich vorgezeichneten Weg und Auftrag der Kirche zu ändern vermöchte. Passiert ist allerlei, aber eben nur Dinge, die passieren und vorübergehen; aber geschehen ist nichts, denn kirchlich gesehen gibt es nur ein Geschehen, das einen Wandel bringt, nämlich die Vollendung unserer Erlösung durch das Kommen des Christus.“ [11] Als unveränderlichen Auftrag der Kirche sah er das Christusbekenntnis an, das er rechtfertigungstheologisch auslegte. [12] Mit dieser Kontinuität hängt zusammen, dass die individuelle Heilsvergewisserung in Niemöllers Predigten auch nach dem Krieg bedeutsam blieb. Die Kontinuität der rechtfertigungstheologischen Orientierung schloss selbstverständlich nicht aus, dass sich innerhalb dieses Rahmens Entwicklungen vollzogen, wie Reck sie beschreibt. Die Kritik an einem privatistischen Verständnis der Schuld steht nicht im Widerspruch zur Forderung nach einem individuellen Schuldbekenntnis und zur individuellen Vergebungs- und Heilsgewissheit.
6. Aufgrund der rechtfertigungstheologischen Orientierung Niemöllers ist die These, Niemöller deute „Vergebung theologisch als einen umfassenderen Transformationsprozess“ fragwürdig. Unzureichend begründet ist auch, wenn Reck den Dreischritt der römisch-katholischen Bußlehre auf die Nachkriegstheologie Niemöllers anwendet: „Nach der aufrichtigen Reue (contritio cordis) und dem ehrlichen Eingeständnis der Schuld (confessio oris) gehört auch die Bemühung um Wiedergutmachung (satisfactio operis) zum Prozess der Umkehr, dem die Vergebungszusage Gottes gilt.“ Reck ist anscheinend der Auffassung, dass sich der Umgang mit der Schuld der Vergangenheit so vollziehen müsse. Aber sah Niemöller das ebenso? In Recks Aufsatz fehlen Belege dafür, dass Niemöller das strenge Folgeverhältnis von Vergebung und guten Werken, das für die reformatorische Theologie charakteristisch ist, nach dem Zweiten Weltkrieg aufgab. Doch nur unter dieser Voraussetzung könnte die Vergebung als Transformationsprozess verstanden und die Vergebungszusage an die Wiedergutmachung gebunden werden.
7. Niemöllers provozierende Behauptung, es sei nichts geschehen, „was irgend etwas an dem ursprünglich vorgezeichneten Weg und Auftrag der Kirche zu ändern vermöchte“, lässt zweifelhaft erscheinen, dass er selbst der programmatischen Bedeutung der Formel „Theologie nach Auschwitz“ zugestimmt hätte. Er scheint vielmehr die Wandlungen, die sich in seiner Theologie nach dem Zweiten Weltkrieg vollzogen, als Variationen innerhalb eines im Wesentlichen konstanten Rahmens verstanden zu haben. Natürlich steht es einem Interpreten frei, Gedanken Niemöllers in einen anderen theologischen Rahmen zu übertragen. Dennoch scheint sich, wenn man die unter 3. bis 6. geäußerten kritischen Bemerkungen hinzunimmt, der Verdacht zu bestätigen, dass Niemöllers Texte in dem Aufsatz zur Projektionsfläche eigener theologischer Überzeugungen und Abneigungen werden und das kritische Korrektiv historisch-philologischer Interpretation zu wenig zum Tragen kommt.
[1]1933 bis
1935 gehaltene Predigten veröffentlichte Niemöller bereits
1935: M. Niemöller, ... daß
wir an Ihm bleiben! Sechzehn Dahlemer Predigten, 4.-6. Tausend,
Berlin 1935; ders., Alles und in
allen Christus. Fünfzehn Dahlemer Predigten, Berlin 1935.
[2]M. Niemöller, Zur gegenwärtigen
Lage der evangelischen Christenheit (gekürzt) (1946), in: ders., Reden 1945-1954, Darmstadt 1958, S.
43-55, hier: S. 48.
[3]M. Niemöller, Rede auf der
Kirchenversammlung in Treysa 1945, in: ders., Reden 1945-1954, S. 11-15,
hier: S. 15 (Hervorhebung M. H.).
[4]M. Niemöller, Der Weg ins Freie (1946),
in: ders., Was würde Jesus dazu
sagen? Reden – Predigten – Aufsätze 1937 bis 1980, Berlin
1980, S.
40-62.
[5]Vgl. z. B. die Predigt am 19. Sonntag
nach Trinitatis 1945 über Mt 9, 1-8, in: M. Niemöller, Ach Gott vom Himmel sieh darein. Sechs
Predigten, München 1946, S. 5-14.
[6]M. Niemöller, Das auserwählte
Geschlecht (Volksmission 1933), in: ders., ... daß wir an Ihm bleiben!
(s. Anm. 1), S. 56-62, hier: S. 57: „Denn das
können wir unmöglich leugnen, daß es mit unserm
Christentum trotz allem, was wir in den letzten zwanzig Jahren
durchgemacht haben, eine reichlich spießige,
kleinbürgerliche Sache geblieben ist“. Vgl. auch ders., Tod und
Sünde, Gnade und Leben (6. Sonntag nach Trinitatis [1935?]), in:
ders., Alles
und in allen Christus! (s. Anm. 1), S. 63-69, hier:
S. 65. 67. Zur Kritik an der Privatisierung des Glaubens siehe
ders., Das auserwählte
Geschlecht, S. 58 f.
[7]Vgl. z. B. Adolf Hitler, Mein Kampf. Zwei Bände in
einem Band.
Ungekürzte Ausgabe, 78.-84. Aufl., München 1933: „Unser
derzeitiges Bürgertum ist für jede erhabene Aufgabe der
Menschheit bereits
wertlos geworden, einfach, weil es qualitätslos, zu schlecht ist“
(S.
451). „Ihr [näml. ihr Spießbürger] kennt nur eine
Sorge:
euer persönliches Leben, und einen Gott: euer Geld!“ (S. 449).
[8]Vgl. Zitat zu Anm. 3.
[9]M. Niemöller, „... zu verkündigen ein gnädiges
Jahr des Herrn!“ Sechs Dachauer Predigten, München 1946,
S. 9.
[10]Niemöller, a. a. O., S. 59.
[11]M. Niemöller, Das Christusbekenntnis
der Kirche vor der Welt und die Bekenntnisse der Reformation (1945),
in: ders.,
Reden 1945-1954 (s. Anm. 2),
S. 63-82, hier: S. 63. – Niemöller knüpft hier
ausdrücklich an K. Barths berühmte Aussage an, er bemühe
sich, „als wäre nichts geschehen – vielleicht in leicht
erhöhtem Ton, aber ohne direkte Bezugnahmen – Theologie und nur
Theologie zu treiben“ (K. Barth, Theologische
Existenz heute! [1933].
Neu hrsg. und eingeleitet von H. Stoevesandt, München 1984 [TEH
219],
S. 26).
[12]Vgl. den in Anm. 11 genannten Vortrags
insgesamt.
2. Pfarrer
Dr. Peter Noss, Bochum
Gutachten zu: Norbert Reck, „dass
uns in unseren Tagen ein Kampf verordnet ist“. Eine Relektüre von
Predigten Martin Niemöllers
Der Beitrag von Norbert Reck hat seine größte Stärke in der Profilierung Martin Niemöllers als einen evangelischen Theologen, dessen Überlegungen auch in der Gegenwart weiter Beachtung finden sollten. Die Zusammenstellung der Texte aus den Predigten Niemöllers ermöglicht einen kompakten Einblick in dessen theologische Entwicklung. Der Aufsatz ist gut und spannend zu lesen.
Insgesamt ist der Aufsatz von Reck ein wichtiger Beitrag zu einer neuen Rezeption der Theologie derjenigen, die im Kirchenkampf auf der radikalen – oder besser: konsequenten – Seite der Bekennenden Kirche gestanden haben. Mit „Konsequenz“ meine ich in Anlehnung an das Prinzip der sittlichen Urteilsfindung bei Heinz Eduard Tödt[I] die Fähigkeit zum stetigen Überprüfen des eigenen (theologischen und ethischen) Standpunktes, eine prinzipielle Bereitschaft zur Veränderung des jeweiligen Urteils über eine vorgefundene Situation und die Bestimmung eigener Handlungskategorien. Nur wenige Protagonisten der damaligen Zeit waren dazu in der Lage und bereit, auch über 1945 hinaus. Martin Niemöller ist einer von ihnen.
Dass Niemöller eine besondere Rolle gespielt hat und es sich jedenfalls lohnt, seine Predigten mit verändertem analytischem Werkzeug zu lesen, steht außer Frage. Jedoch scheint sich mir der hohe Anspruch des Autors, einen ganz neuen Beitrag zu einer „Theologie nach Auschwitz“ liefern zu können, doch nur bedingt eingelöst worden zu sein. Das meine ich aus folgenden Gründen: alle christliche Theologie seit 1945, besonders in Deutschland, muss immer als eine „Theologie nach Auschwitz“ gelesen werden – auch unter Berücksichtigung der seit der Kirchenkampf- und Widerstandsgeschichtsschreibung sich jeweils verändernden Wissensstände. Insofern kann auch die aus den Predigten geronnene Theologie Niemöllers erst in ihren Ausformungen seit 1945 einen Beitrag dazu leisten. Seine vor 1945 formulierte Theologie belegt dagegen seinen jeweiligen kontextuellen Horizont und ist jeweils das Fundament für weiteren Erkenntnisgewinn. Besonders das Zitat anlässlich seines Besuches in Dachau zusammen mit seiner Frau belegt das sehr eindrücklich (Anm. 24).
Problematisch scheint mir Recks Anspruch einer „Re-Lektüre von Niemöllers Predigten aus der Perspektive unserer Zeit, d.h. ich versuche nicht, den Texten im Horizont ihrer eigenen Zeit gerecht zu werden.“ Das halte ich für unmöglich – und die Ankündigung wird vom Autor auch nicht eingelöst, weil er sehr wohl und richtig die Äußerungen Niemöllers in ihren zeitlichen Kontext stellt und einen klaren Erkenntnisfortschritt durch die verschiedenen Phasen (1933 – 1937 – 1945ff.) beschreibt.
Nicht ganz einleuchtend in diesem Zusammenhang ist auch die Behauptung, man könne in einer der Äußerungen Niemöllers einen klaren, eindeutigen und besonderen archimedischen Punkt erheben, wenn es um ein Beharren auf dem reformatorischen Schriftprinzip geht: Hier reformuliert Niemöller doch nichts anderes als die 1. Barmer Theologische These, also den Grundkonsens der Bekennenden Kirche aus dem Jahr 1934! Dort heißt es: „Jesus Christus spricht: ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. (Joh 14, 6) … Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“ Hier ist Niemöller mit seiner Haltung klar auf dem Boden eines Konsenses, der sich in den folgenden Jahren nach 1934 allerdings nicht durchhalten ließ: während die Vertreterinnen und Vertreter der konsequenten Linie aus dem Bekenntnis von Barmen das Dahlemer Notrecht entwickelten und umsetzten, waren die Vertreterinnen und Vertreter insbesondere der (vornehmlich lutherisch geprägten) sog. Intakten Kirchen und Kirchenprovinzen (z.B. Westfalen) daran nicht interessiert, sondern setzten eher auf Kompromiss und Verständigung mit dem NS-Regime und seinen kirchenpolitischen Ausformungen (Kirchenausschüsse etc.). Niemöller hat auf dem Weg in die Haft und während der Jahre im Gefängnis Moabit und im Konzentrationslager Dachau jedoch den konsequenten Weg nicht verlassen. Sehr wohl aber versuchte er sich während des Krieges aus der Haft freiwillig zur Front zu melden.
Vor dem Hintergrund eines eindeutigen Bezugs auf die biblischen Schriften und dem Prinzip des sola scriptura ist auch zu sehen, dass Niemöller sich während seiner Haft theologisch hauptsächlich mit eben den biblischen Schriften beschäftigt hat: mit der Lektüre des Alten und Neuen Testaments, bei der er jeden Tag in den acht Jahren fünf Kapitel des Novum Testamentum Graece las und das Alte Testament Kapitel für Kapitel mit Hilfe der Erklärungen von Hellmuth Frey studierte. Die daraus erwachsene Kenntnis bildete das Fundament seiner Theologie – und weniger die Lektüre anderer theologischer Werke.[II]
Die Frage, wo denn Gott gewesen sei, als die Türen der Gaskammern hinter ihren Angehörigen verschlossen wurden, beantworten auch jüdische Theologen, die diese Frage gestellt haben, nicht zwangsläufig negativ – denn, so hat es Emil Fackenheim einmal formuliert – dann würde man ja Hitler nachträglich den Sieg schenken.[III] Es handelt sich ja hier auch um theologische Fragen in Form von Klage, die keineswegs zwangsläufig die rechtlichen Konsequenzen für die Täter vermeiden. Niemöllers sich verändernde Theologie lässt sich daher besser als reziprok-reflexiv beschreiben, eine Haltung mit der ständigen Bereitschaft zu Überprüfung und Veränderung – darauf zielt bereits die von Reck zitierte Rede des „lebendigen Gewissens“. Getragen war dies durch die Hoffnung, wie er in einem Brief vom 17.8.1937 an ein Mitglied des Bruderrates schrieb: „… Jawohl, das ist ganz und gar meine Einstellung zu dem, was wir durchleben als Gemeinde Jesu Christi: ‚Wenn nur Christus verkündet wird’ – ‚als ob nichts geschehen wäre’! – Es ist ja auch nichts geschehen als eben seine mir ‚süße Wundertat’, deren Boten wir sind – hier und dort, so oder so! – Und so darf ich Ihnen von mir persönlich sagen: ich leide unter keinen Depressionen und keinen Rachegelüsten, sondern nehme die Prüfung – die mir freilich auch Last ist – als Züchtigung des Vaters, die Stille – die mir freilich auch Versuchung ist – als Gnadenzeit, zu hören und zu beten. Und ich bin innerlich noch jeden Tag tröstlich und zuversichtlich geworden und geblieben. 2. Korinther 4, 17-18 [Denn unsre Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit, uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig.]. Für die Kirche ist Segenszeit! ...“[IV] Hier ist noch einmal deutlich die Verknüpfung mit der erkannten Aufgabe der konsequenten Bekennenden Kirche erkennbar. Differenzierung auch im Blick auf das, was zu schnell immer unter den einen Begriff gebracht wird, tut not. Viele der Briefe Niemöllers aus der Haft zeigen, dass es ihm, wie auch den anderen der „Konsequenten“ nicht nur um die Verkündigung des Evangeliums allein, sondern auch um dessen rechtliche Durchsetzung ging, also sehr wohl auch um ganz konkrete ethische Aspekte wie Hungernde speisen und Gefangene besuchen.
Gern hätte ich konkret gewusst, was bzw. wer mit der folgenden Andeutung genau gemeint ist, denn ansonsten gehören solche Äußerungen nicht in den Text: „Anders als es gegenwärtige Klischees vom Widerstand gegen die Nazis wollen (und die dann manche Autoren zu ‚Enthüllungen’ veranlassen, wenn sie entdecken, dass die Dinge anders liegen) …“
Die Identifikation des Reiches Gott mit dem Reich bzw. den Reichen der Welt ist nach lutherischer Lehre ohnehin nicht möglich, eher war es ja das Problem der etwa von Werner Elert und Paul Althaus vertretenen neulutherischen Interpretation der 2-Reiche-Lehre, dass die strikte Trennung der Reiche dazu führte, dem Reich der Welt die Regulierung seiner Geschäfte und des Rechts selbst zu überlassen – mit der fatalen Folge, dass nach dieser Auffassung das niemand mehr dem Rad in die Speichen fiel. Das NS-Regime wurde von Niemöller sicher immer schon als Teil des „Reiches der Welt“ identifiziert, allerdings bis 1937 vielleicht nicht in ausreichendem Maße problematisiert.
Schließlich könnte man überlegen, die mehrfach verwendete Kategorie „bürgerlich“ durch „nationalprotestantisch“ zu ersetzen. Der Begriff „bürgerlich“ ist zu unscharf und fasst nicht genau das Problem.[V] Interessant wäre hier auch ein Hinweis auf den Bruder, Wilhelm Niemöller, der nicht nur wie sein Bruder Mitglied der NSDAP war, sondern zunächst auch bei den Deutschen Christen.[VI] Beide hatten die gleiche Prägung, ihr Weg verlief aber durchaus verschieden.
In Bezug auf die von Martin Niemöller entwickelte Schuld-Thematik kann sicher von einer Minderheiten-Position gesprochen werden – allerdings handelt es sich wiederum auch nicht um eine singuläre Haltung. Die Komplexität der Debatte sollte doch zumindest angedeutet werden.[VII]
Die im Fazit genannten Veränderungen in Niemöllers theologischer Haltung sind in den drei Thesen gut beschrieben. Die Schlussfolgerungen für eine „Inspiration“ der Theologie Niemöllers für eine „Christliche Theologie nach Auschwitz“ jedoch sind allenfalls im Sinne eines Beitrags zur Diskussion im Umgang mit Schuld und Verantwortung insgesamt zu bejahen. Insofern sollte der Beitrag Recks auch für Pfarrer und Theologen interessant sein, die dies in ihren Predigten thematisieren. Ob der sperrige Niemöller allerdings für „den gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurs über die NS-Zeit“ taugt, bleibt fraglich, so sehr dies zu wünschen ist: Die Tatsache, dass er sich selbst nach 1945 nicht zum Opfer stilisiert hat, sondern sein persönliches Versagen thematisierte, ist eine der herausragenden Aspekte seiner Haltung, die Reck in seinem Aufsatz trefflich herausgearbeitet hat.
[I]Heinz
Eduard Tödt, Perspektiven
theologischer Ethik, München 1988.
[II]Vgl. die Einleitung
von Wilhelm Niemöller zu: Martin Niemöller, Briefe aus der Gefangenschaft Moabit,
Frankfurt a.M. 1975, S. 14.
[III]Vgl. Emil L.
Fackenheim, Die gebietende Stimme von Auschwitz, in: Michael
Brocke/Herbert Jochum (Hg.), Wolkensäule
und Feuerschein. Jüdische Theologie des Holocaust,
Gütersloh 1993, S. 73-110; Ders., Was ist Judentum? Eine Deutung für
die
Gegenwart, Berlin 1999.
[IV]Wilhelm
Niemöller, a.a.O., S. 36.
[V]Vgl. die
Überlegungen zum Begriff in dem von Manfred Gailus und Hartmut
Lehmann herausgegebenen Band „Nationalprotestantische
Mentalitäten in Deutschland (1870-1970). Konturen,
Entwicklungslinien und Umbrüche eines Weltbildes“,
Göttingen 2005.
[VI]Vgl. den Beitrag von
Robert P. Ericksen, Wilhelm Niemöller and the Historiography of
the Kirchenkampf,
in: ebd., S. 433-452.
[VII]Vgl. etwa die
Monographie von Christoph M. Raisig, Wege
der Erneuerung. Christen und Juden: Der Rheinische Synodalbeschluss,
Potsdam 2002. Die Position Niemöllers wird im Kontext der Debatte
hier recht gut
deutlich. In Bezug auf die Spruchkammern im Rahmen der Entnazifizierung
hat Niemöller übrigens eine besondere Position bezogen. Vgl.
dazu:
Clemens Vollnhals, Im Schatten der Stuttgarter Schulderklärung.
Erblast
des Nationalprotestantismus, in: Gailus/Lehmann, a.a.O., S. 379-431.
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