theologie.geschichte - Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte

Yvonne Al-Taie

Gebaute Worte

Zur architektonischen Transformation Celanscher Lyrik bei Daniel Libeskind



„Das Gedicht, das ich meine, ist nicht flächenhaft; daran ändert auch die Tatsache nichts, daß es noch jüngst, so bei Apollinaire und Chr. Morgenstern, das Figurengedicht gegeben hat, das Gedicht hat vielmehr Räumlichkeit und zwar eine komplexe: die Räumlichkeit und Tektonik dessen, der es sich abfordert, und die Räumlichkeit seiner eigenen Sprache, d. h. nicht der Sprache schlechthin, sondern der sich unter dem besonderen Neigungswinkel des Sprechenden konfigurierenden und aktualisierenden Sprache.“    Paul Celan


Wer mit den architekturtheoretischen Texten Libeskinds vertraut ist, dem werden Verweise auf den jüdischen Lyriker Paul Celan bekannt sein. Neben anderen bedeutenden Autoren, wie Walter Benjamin oder James Joyce, ist es gerade Celan, der für Libeskinds Schaffen von zentraler Bedeutung zu sein scheint. Weniger auffällig dürften diese Bezüge all jenen erscheinen, die vornehmlich das architektonische Werk Libeskinds kennen. Am deutlichsten noch tritt der Bezug im Jüdischen Museum Berlin zu Tage, wo die Gestaltung des Bodenreliefs in den Innenhöfen des Neubaus auf einer Radierung von Celans Ehefrau Gisèle Celan-Lestrange beruht, welche wiederum eine Illustration zu Celans Gedichten darstellt.
Der facettenreichen Bedeutung der Lyrik Paul Celans für das Schaffen Daniel Libeskinds sowie den sich aus der Übertragung des dichterischen Werks ins Architektonische ergebenden Schwierigkeiten möchte der folgende Beitrag nachspüren.

Der 1920  in der Bukowina geborene und nach Ende der Naziherrschaft über Bukarest und Wien nach Frankreich emigrierte Lyriker, der die traumatische Erfahrung des Holocaust wie die Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Identität in seinem lyrischen Werk verarbeitet, steht dem 1946 in Lodz geborenen jüdischen Architekten in biographischer wie künstlerischer Hinsicht nahe. So ist es nicht nur Celans Werk sondern auch seine Biographie, die in Libeskinds Architektur eine wichtige Rolle spielt.
Bereits Eric Kligerman hat sich mit den Parallelen zwischen dem Werken Paul Celans und Daniel Libeskinds beschäftigt. Dabei ging es ihm vor allem darum, gemeinsame Strukturmerkmale aufzuzeigen, die sich sowohl in Celans lyrischer wie in Libeskinds architektonischer Auseinandersetzung mit der Shoah finden. Seine Untersuchung stützt er auf den Begriff des Unheimlichen, wie ihn Freud zunächst als psychoanalytischen Terminus prägte und James E. Young ihn zur Qualifizierung einer bestimmten Form des künstlerischen Umgangs mit der Shoah verwendete.[1] Kligerman sieht in Libeskinds Räumen das gleiche Konzept des Unheimlichen nachgebildet, wie es sich in Celans Lyrik findet. Dazu transformiert Kligerman Freuds Konzept des Unheimlichen in das „Unheimliche des Holocaust“. [2] Fest macht er seine These an Beobachtungen zu Brüchen, Leerstellen, Desorientierung und Verschiebung der Wahrnehmung (dislocation of perception), die er sowohl in Celans Lyrik als auch in Libeskinds Architektur nachweist. [3]
So wichtig es auch ist, strukturelle Gemeinsamkeiten verschiedener Künste in der Behandlung des Themas der Shoah aufzuzeigen, so ungenau bleibt diese Methode doch, möchte man das poetische Einzelwerk und seine vielschichtige Bedeutung sowie dessen konkrete architektonische Umsetzung in den Blick bekommen. Letzteres soll in folgendem Beitrag geleistet werden. Dabei sollen auch die Auswirkungen der unterschiedlichen medialen Eigenschaften der verschiedenen Künste auf die Überführung des Bedeutungsgehalts der Celanschen Texte in die Formgestaltung Libeskindscher Architektur untersucht werden.


Paul Celan und der Entwurf für das Jüdische Museum Berlin

Beginnen wir mit der Betrachtung der biographischen Bedeutung Celans für Libeskinds Schaffen: Der Gewinn des Realisierungswettbewerbs für das Jüdische Museum Berlin und die damit verbundene Übersiedlung an die Spree stellt einen Einschnitt in Libeskinds Karriere dar. Nicht nur, dass hiermit sein erstes realisiertes Projekt entstehen sollte, auch beginnt mit dem Entwurf für ein jüdisches Museum, noch dazu in Deutschland, für Libeskind eine künstlerische Auseinandersetzung mit der eigenen jüdischen Identität, die durch das Leben und Arbeiten in Deutschland in vielen folgenden Arbeiten ihren Niederschlag finden wird.
In seinem Projekt des Jüdischen Museums Berlin, welches als Erweiterungsbau des Berlin Museums Räumlichkeiten für eine Ausstellung zur jüdischen Geschichte Berlins bereitstellen soll, beschäftigt sich Libeskind mit dieser jüdischen Geschichte Berlins, ihrer Verflechtung mit der allgemeinen Stadtgeschichte, und ihrer aktuellen Relevanz angesichts des Holocaust.

Ausgehend von einem Stadtverständnis, das Stadt und Stadtgeschichte nicht allein auf ihre materielle Manifestation in Bauwerken, Plätzen und Straßen reduziert, sondern diese erst durch ihre Bewohner und deren je eigene räumliche Organisation und Wahrnehmung gänzlich verständlich werden lässt, sind es für Libeskind die Verbindungen zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Bewohnern Berlins, die den Zusammenhang von jüdischer und allgemeiner Stadtgeschichte erschließen können. Stellvertretend für alle Berliner Bürger wählt er bedeutende Berliner Philosophen, Schriftsteller, Künstler aus, die die Kulturgeschichte der Stadt prägten, um ausgehend von deren (tatsächlichen und geistesgeschichtlichen) Beziehungen untereinander einen Anknüpfungspunkt für die architektonische Gestaltung seines Museumsbaus zu finden. Er ermittelte die Anschriften dieser – jüdischen wie nichtjüdischen – Einwohner Berlins, und bildete Paare, die, ohne sich tatsächlich gekannt haben zu müssen, geistesgeschichtliche Verwandtschaft verbindet. Ganz konkret liefern ihm diese Anschriften geographische Punkte in der Stadt, entlang derer er den urbanen Raum reorganisiert, indem er zwischen den Anschriften dieser Paare Verbindungslinien auf dem Berliner Stadtplan einzeichnet, die – nebenbei bemerkt – die damals noch geteilte Stadt durchschneiden und wieder miteinander verbinden. Neben solchen Denkern, die in Berlin ansässig waren, wählte Libeskind auch die Anschriften von bedeutenden Personen, die nur kürzere Aufenthalte mit der Stadt verbanden. Einer dieser „Berliner“ ist Paul Celan. In diese aus den Verbindungslinien zwischen den Adressen resultierende Linienmatrix schreibt Libeskind seinen berühmten zickzack-förmigen Baukörper ein. Bereits die Idee zu dieser Linienmatrix selbst könnte Libeskind dem für ihn und für dieses Projekt so wichtigen Dichter Celan verdanken. In seinem bedeutendsten zu Lebzeiten veröffentlichten poetologischen Text, der Büchner-Preis-Rede mit dem Titel Der Meridian, denkt Celan über die Bedeutung des Gedichts als Reaktion auf Wirklichkeit und Möglichkeit zur zwischenmenschlichen Begegnung nach, und findet gegen Ende des Textes das Bild einer imaginären Landkarte:

„Ich suche die Gegend, aus der Reinhold Lenz und Karl Emil Franzos, die mir auf dem Weg hierher und bei Georg Büchner Begegneten, kommen. Ich suche auch, denn ich bin ja wieder da, wo ich begonnen habe, den Ort meiner eigenen Herkunft.Ich suche das alles mit wohl sehr ungenauem, weil unruhigem Finger auf der Landkarte – auf einer Kinder-Landkarte, wie ich gleich gestehen muß.
Keiner dieser Orte ist zu finden, es gibt sie nicht, aber ich weiß, wo es sie, zumal jetzt, geben müßte, und ... ich finde etwas!
[...] Ich finde das Verbindende und wie das Gedicht zur Begegnung führende.Ich finde etwas – wie die Sprache – Immaterielles, aber Irdisches, Terrestrisches, etwas Kreisförmiges, über die beiden Pole in sich selbst Zurückkehrendes und dabei – heitererweise – sogar die Tropen Durchkreuzendes -: ich finde...einen Meridian.“[4]

Auch für Celan werden die Orte auf dieser imaginierten Landkarte durch Vertreter der Geistesgeschichte bestimmt, und zugleich bedeutet die Suche nach ihnen die Suche nach der eigenen Identität. Mit dem Bild des Meridian, welches ursprünglich von Nelly Sachs in einem Brief an Celan geprägt wurde, in dem sie schreibt „zwischen Paris und Stockholm läuft der Meridian des Schmerzes und des Trostes“ [5], ist zugleich die gedachte Verbindungslinie zwischen Orten vorgegeben, die durch die Beziehung zwischen zwei Bewohnern dieser Orte – Sachs und Celan – konstituiert wird. Die Vorstellung einer Landkarte und der – geographischen – Verbindungslinie zwischen Orten, die zugleich als Metapher für menschliche Begegnungen und Identitätsfindung dient, muss für den Architekten Libeskind, der auf der Suche nach einer adäquaten Formensprache für die Darstellung des Verlusts jüdischen Lebens in der Stadt Berlin und in Deutschland war, höchst inspirierend gewesen sein.

Ein weiterer Satz, zu finden in poetologischen Aufzeichnungen aus Celans Nachlass, könnte prägend, wenn nicht titelgebend für das von Libeskind Between the Lines genannte Berliner Museumsprojekt gewesen sein, welches die Vorstellung eines „Zwischen den Zeilen Lesens“ ins Räumliche und Zeitliche transformiert:

„Das Gedicht will, wie gesagt, verstanden sein, es bietet sich zur Interlinearversion dar, fordert dazu auf; nicht daß das Gedicht im Hinblick auf diese oder jene Interlinearversion geschrieben wäre; vielmehr bringt das Gedicht, als Gedicht, die Möglichkeit der Interlinearversion mit, realiter und virtualiter; mit anderen Worten: das Gedicht ist, auf eine ihm eigene Weise, besetzbar. Ich gebrauche hier, und möchte dies ausdrücklich betonen, den Begriff der Interlinearversion als Hilfswort; genauer: ich meine nicht die Leerzeilen zwischen Vers und Vers; ich bitte Sie, sich diese Leerzeilen räumlich vorzustellen, räumlich und – zeitlich. Räumlich und zeitlich also [...] stets in Beziehung zum Gedicht.“ [6]

Es ist auffällig, dass das Jüdische Museum Berlin Libeskinds erstes Projekt ist, in dem diese ortsverbindende Linienmatrix angewandt wird. In den folgenden Projekten soll sie sich schließlich zum prägenden Merkmal Libeskindscher Architektur entwickeln, so etwa in seinem Entwurf für das Felix-Nussbaum-Haus in Osnabrück ebenso wie in städtebaulichen Masterplänen.

Neben Walter Benjamin und Arnold Schönberg, die Libeskind zufolge sein Museumsprojekt durch ihre Werke Einbahnstraße und Moses und Aron geprägt haben sollen, ist es doch nur Paul Celan, auf den in der konkreten Baugestalt Verweise zu finden sind. So ist es das bereits erwähnte Bodenrelief in den Innenhöfen des Neubaus, das einer Radierung Gisèle Celan-Lestranges nachempfunden ist, worauf die Besucher durch eine Informationstafel hingewiesen werden. Diese sich über mehrere, voneinander getrennte Hofbereiche erstreckende Bodenformation gipfelt schließlich im sogenannten Paul Celan Hof, wo ein Element des Bodenreliefs zu einer Bank erhöht ist, der eine Paulownia, Celans Lieblingsbaum, Schatten spendet.


Celans Lyrik und das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas

Die wichtigste Celan-Rezeption in Libeskinds Werk stellt aber wohl sein unrealisiert gebliebener Entwurf für das Berliner Mahnmal für die ermordeten Juden Europas dar, das in gewisser Hinsicht als ein Weiterdenken des Berliner Museumsprojekts verstanden werden darf. Ohne den Namen Celans weder in Entwurfszeichnungen noch im Begleittext je explizit zu erwähnen, liefert doch der Titel des Projekts - Steinatem - einen versteckten Hinweis auf eine Celansche Wortbildung, welcher, einmal entschlüsselt, die Bedeutungsübertragung poetischer Metaphern und Chiffren in die architektonische Formsprache des Projekts erschließt.


(Abbildung: copyright Studio Daniel Libeskind)

Das 1997 geplante Projekt greift die bereits für das Jüdische Museum strukturgebenden Voids, jene versiegelten – nicht zugänglichen und doch einsehbaren – Leerstellen, oder, besser gesagt, -räume wieder auf, indem deren Abgüsse, diesmal als betretbare, hoch in den Himmel aufragende, skelettartige Betonsäulen die zentrale Form des Mahnmals bilden.

Die Großstruktur des Mahnmals, das auf dem freien Gelände zwischen Brandenburger Tor, Tiergarten und Reichstag errichtet werden sollte, richtet Libeskind, wie bereits fürs Jüdische Museum Berlin beschrieben, an einer Linienmatrix aus, wobei diese den Standort des Mahnmals mit geographischen Orten der Stadt verbindet, die in inhaltlichem Bezug zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden stehen und damit topographische Lage und inhaltliche Bedeutung des Mahnmals miteinander in Beziehung gesetzt werden soll. Grundstruktur des Mahnmals bildet eine konkav geformte Bodenplatte in Form und Größe des Reichstagsgrundrisses [7], der anhand der Quadriga des Brandenburger Tores, die als Drehachse dient, auf dem Gelände ausgerichtet wird. Eine stählerne Linie innerhalb dieser Bodenplatte soll auf das Jüdische Museum und damit auf die zeitgenössische Präsenz von und Auseinandersetzung mit jüdischem Leben und Kultur in der Stadt verweisen. Die Struktur der Bodenplatte ist bis zum Tiergarten hin weitergeführt, wobei die von der Platte durchschnittenen, urbanen Strukturen in sie integriert und durch sie  hindurch weitergeführt werden – der Tiergarten ebenso wie Straßen und Wege. Diese Platte wird von Libeskind „Pebblewriting“ genannt: eine Platte, in die sich die Menschen durch das Begehen derselben einschreiben. In diese Grundstruktur ist eine vier Meter tief abfallende Schneise eingeschnitten, die auf die Wannsee Villa ausgerichtet ist, [8] wodurch das Zentrum des Mahnmals durch einen – nur auf den Plänen erkennbaren – topographischen Verweis auf den Ort des politischen Beschlusses der Judenvernichtung hingeordnet ist.

In diese Schneise, die das Zentrum des Mahnmals markiert, sind jene sechs geronnenen (solidified) Leerstellen eingestellt, die an die ermordeten Juden Europas erinnern sollen. Diesen geronnenen Leerstellen soll im Folgenden das Hauptaugenmerk gelten, denn sie sind es, die Libeskind eigentlich mit dem aus Celans Lyrik[9] entlehnten Titel Steinatem bezeichnet. Das Offensichtlichere, weil von Libeskind selbst mehrfach betonte Merkmal dieser Struktur besteht darin, dass es sich um die Abgüsse der 6 Voids des ebenfalls von Libeskind erbauten Jüdischen Museums in Berlin handelt, was dem Architekten selbst von Seiten seiner Fürsprecher Kritik einträgt und womöglich als ein Grund dafür gesehen werden kann, dass bisher eine nähere Beschäftigung mit dem Entwurf ausgeblieben ist. [10]

Was hier jedoch interessiert, ist das Verhältnis der architektonischen Form zu ihrem Titel.
Während Kligerman auf die gemeinsamen Strukturmerkmale von lyrischem Text und gebauter Architektur verweist und nach allgemeinen, gattungsübergreifenden Merkmalen für die Behandlung des Holocaust in der Kunst sucht, sollen hier die unterschiedlichen Wirk- und Funktionsweisen der einzelnen Medien aufgrund der ihnen je eigenen medialen Qualitäten durch eine vergleichende Betrachtung der Darstellungsweise und Formensprache bei der Behandlung des gleichen Themas untersucht werden.

Schauen wir zunächst, wie Libeskind selbst seine Struktur mit dem Titel Steinatem charakterisiert und inwiefern der Titel in Bezug zur architektonischen Formensprache gesetzte werden kann. Libeskind schreibt:

„The Stonebreath is constructed by the accretion of horizontal layers of concrete according to a rigorous layering system organized to produce what is not part of it, namely the gap of the Void, a system inscribing its own demise in what is visible.“[11]

Diese von Celan geprägte Metapher des Steinatems bietet die Möglichkeit der architektonischen Ausdeutung, indem sie mit dem Wort „Stein“ eines der Grundmaterialien der Architektur bezeichnet, es zugleich aber über seine materiell-technische Bedeutung hinaus einer lebendigen, menschlich oder gar göttlich deutbaren Metaphorik zuführt, indem er ihm in einem Kompositum den Atem beigibt. Auch im religiösen Kontext ist der Atem eine Grundmetapher, etwa wenn Gott ihn dem noch leblosen Adam einhaucht, und das hebräische Wort „ruah“ heißt nicht bloß Wind, sondern bezeichnet auch den Atem JHWHs und wird in der Bedeutung von „Geist“ verwendet. Somit wird dem üblicherweise mit den Attributen leblos, kalt, hart konnotierten Stein ein völlig neuer Bedeutungshorizont erschlossen. Der Stein, der für das Anorganische, das Leblose steht, wird hier mit Leben aufgeladen. Libeskinds Anliegen ist es, diese Umdeutung des Verständnisses von Stein in seiner Architektur materiell erfahrbar zu machen. In der Architektur werden (mit Steinen) gewöhnlich Schutzräume geschaffen, die abschließen, somit aber auch vor der Außenwelt verschließen. Auf diese Bedeutungsverschiebung spielt er an, wenn er davon spricht, dass die Struktur ihre eigene Auflösung in die Darstellung einschließt. Dazu unterläuft er die Wirkung des Steines, indem die hochaufragenden (in Beton ausgeführten) Wände des Mahnmals durch eine Vielzahl horizontaler Schlitze aufgebrochen sind, und diese Öffnungen, anders als in gewöhnlichen Gebäuden, nicht mit Glas versiegelt sind, sondern als solche bestehen bleiben und sie somit eine direkte Verbindung zur Stadt darstellen:

„Between the clear-cut open spaces of the Stonebreath one sees the play of humanity of the city. [...] In rain as well as in sunlight, in the gray skies as well as the blue summer skies, the memorial inhales the breath of history.“ [12]

Das lebendige Element des Atmens wird durch die Verbindung zur Stadt erfahrbar gemacht, indem Wind, Sonne und Regen, aber auch der Schall der Stadt über die „atmenden Steine“ in das Mahnmal eindringen können.

Libeskind hat aber nicht alleine diese eine Wortmetapher aus Paul Celans Lyrik übernommen, sondern hat die von Celan entwickelte Metaphorik ernst genommen und versucht, die Sprachbilder in architektonische Formen zu überführen. Er war wohl in erster Linie um die Umsetzung der ersten Strophe des Celanschen Gedichts bemüht, welche die Metapher Steinatem enthält:

DAS AUFWÄRTSSTEHENDE LAND,
rissig,
mit der Flugwurzel, der
Steinatem zuwächst. [13]

Mit den Adjektiven „aufwärtsstehend“ und „rissig“ sind zwei Qualitäten materieller Körper beschrieben, die sich zur architektonischen Umsetzung eignen. Architektonisch konkretisiert Libeskind diese in den hochaufragenden, skelettartigen Raumkörpern, durch deren Öffnungen die Luft, das Licht und die Geräusche der Umgebung eintreten können. Die horizontalen Öffnungen in den vertikal aufstrebenden Baukörpern materialisieren gleichsam Risse.

Eine weitere Metapher des Gedichts, die zwar nicht eine ähnlich direkte Übertragung ins Architektonische erfahren kann, wie die Attribute „rissig“ und „aufwärtsstehend“, aber wohl doch von Libeskind eine materiell-räumliche Gestaltung erfährt, ist die der Flugwurzel. Vergegenwärtigen wir uns zunächst, was Celan mit diesem Bild ausdrückt. Die Wurzel, die eigentlich Festigkeit symbolisiert, da sie im Boden sicher verankert ist, wird zur Flugwurzel. Aus ihrer statischen, erdnahen Position des Haltens wird sie in die Luft emporgehoben, sie wird  leicht, sie fliegt. Der Halt des „aufwärtsstehenden Landes“ liegt oben, in der Luft, der sie zustrebt, die Wurzel muss sich nach oben orientieren, um Halt zu finden. Libeskind muss zunächst die Bildgehalte dieser Metapher der Flugwurzel herausdestillieren, ehe er für diese architektonische Ausdrucksformen sucht. Es ist dieses Motiv eines Sich-Öffnens, einer Orientierung auf Zukunft hin, welches auch in Libeskinds Projekt zu finden ist. Eine konkrete, räumliche Umsetzung artikuliert er durch die Verdichtung der Öffnungen im oberen Drittel der Betonelemente. So schreibt er:

„The rhythm of the structure is spaced by vertical gaps connecting the fissures, which inscribe the sky and air into the public space of the surroundings. [...] One sees the future as a structure of permeability in tension with the closure of history.“ [14]

Was aber geschieht mit dem „Land“ als dem zentralen, sinntragenden Wort in Celans Gedicht? Einerseits mag auch ein Land aus physisch-geographischer Perspektive eine materielle Entität sein, dessen Grenzverläufe womöglich nachgebildet werden könnten – in einem solchen Fall hätte man aber notwendig immer schon ein bestimmtes Land bezeichnet. Noch entscheidender aber ist, dass mit dem Wort „Land“ zugleich eine Summe von immateriellen Eigenschaften – etwa Geschichte, Bevölkerung, politische Ereignisse, etc. - transportiert werden, die erst die Bedeutung dieses Wortes im Sinnzusammenhang des Gedichts ausmachen.  Celans Land meint das Land Israel, das in der Geschichte zwar gelitten hat (symbolisiert in den Rissen) aber dennoch „aufwärts steht“, was sowohl bedeutet, dass es souverän und standhaft bleibt, als auch dem Himmel und – metaphorisch – dem Göttlichen zugewandt bleibt. Lydia Koelle hat nachgewiesen, dass in Celans Jerusalem-Gedichten, in denen die Stadt als Metonymie für Israel erscheint und damit zum Symbol für eine Heimat der Juden wird, wiederholt die Metapher des Aufstehens Verwendung findet. Rückgebunden ist dieses Bild an den Jesaja-Vers „Steh auf, Jerusalem, und erhebe dich“ [15]. In seinem Gedicht „Denk dir“, welches als unmittelbare Reaktion auf den Sechs-Tage-Krieg entstanden ist, spricht Celan von einem „wieder ins Leben emporgelittene[n] Stück bewohnbarer Erde“ [16]. Koelle weist darauf hin, dass es in dem Gedicht mittels der Rede von den „Moorsoldaten von Massada“ eine Verbindung zwischen den Schicksalen der Juden aus überlieferter Geschichte und der Juden in den Konzentrationslagern während der Nazi-Diktatur gibt, deren unbedingter Überlebenswille auch die kämpfenden jüdischen Soldaten im Sechs-Tage-Krieg auszeichnet. Celan betrachtet Jerusalem (und damit Israel) in diesem Gedicht ausgehend vom Sechs-Tage-Krieg und verleiht so der biblisch-mythologischen Rede eine politische Dimension.

Die Metapher des Durchhaltens und des Auferstehens aus dem Leid, dieser Hinweis auf ein sich Aufrichten zu einer Zukunft hin, spielt auch in Daniel Libeskinds Entwurf eine entscheidende Rolle. Die Darstellung dieser Verbindung aus historischer Vernichtung und dennoch bleibender Zukunftshoffnung ist das zentrale Motiv, das Libeskind seinem Entwurf inkorporierte. Orientierung für seine Überlegungen scheint er in Celans Lyrik gefunden zu haben, die er ins Medium der Architektur zu übertragen versuchte. Und doch bleibt das zentrale Motiv aus Celans Dichtung – das Land und die mit ihm konnotierte Geschichte des jüdischen Volkes – in der Architektur ab einem gewissen Punkt undarstellbar. So lohnt es sich durchaus zu überlegen, ob diese Struktur in ihrer rein gebauten Form aus hochaufragenden, durch vertikale Schlitze durchbrochenen Betonräume die Spannung zwischen unzugänglicher Geschichte und Öffnung auf Zukünftiges hin in seiner konkreten Bedeutung für die jüdische Geschichte in gleicher Weise verständlich machen kann, wie es der Text Celans vermag.

Rhetorische Tropik und architektonische Formensprache

Betrachten wir genauer, in welchen medialen Qualitäten sich die Architektur von sprachlichen Kunstwerken unterscheidet und wodurch diese die oben genannten Schwierigkeiten bedingen. Der Rückgriff auf die Tropik ist ein wichtiger Aspekt in der künstlerischen Darstellung dieser Überlegungen zum Holocaust. In der Literatur sind wir, anders als in der Architektur, an eine bis in die Antike zurückreichende Tradition der uneigentlichen Rede mit Hilfe der klassischen Tropen gewöhnt. Mag ihre Interpretierbarkeit auch nicht immer leicht fallen oder gelingen, so ist uns das Phänomen als solches doch vertraut und verständlich. So gibt es keinen Zweifel, dass das „aufwärtsstehende Land“ von dem bei Celan die Rede ist, geographisch-physisch betrachtet sich in gewohnter Weise über die Erdoberfläche erstreckt. Anders sieht es in der Architektur aus – wir sind nicht darauf vorbereitet eine gebaute Form als eine Chiffre für einen abstrakten Inhalt zu lesen. Zwar gab es in der Architektur schon immer einen festen Formenkanon, der vor allem bei Gebäuden mit sakraler oder herrschaftlicher Funktion bestimmte Ideen verkörpern sollte – etwa die Imitation der Kreuzform durch Lang- und Querhaus bei Kirchenbauten – jedoch war diese Symbolik der Formen streng festgelegt und kanonisiert. Dass uns Gebäude mit eigenen, über die Form zu vermittelnden Bedeutungsgehalten entgegentreten, ist uns fremd. [17] Was für den Architekten erschwerend hinzukommt, ist der Umstand, dass das Medium der Architektur anders als die Schrift kein System einer Korrelation von arbiträren Zeichen und gegebener Wirklichkeit bzw. abstrakter Vorstellungen ist, sondern sie sich materiell manifestiert und damit die Form als das architektonische Zeichen immer schon auf einer ersten Ebene das Bezeichnete ist. Mittels sprachlicher Metaphern ist es aufgrund der Differenz zwischen Signifikanten und Signifikat möglich, anders als in der Architektur, auch auf schwer darstellbare, abstrakte Begriffe, wie hier etwa „Land“ Bezug zu nehmen. Sollen in der Architektur hingegen Ideen dargestellt und veranschaulicht werden, so muss man immer schon den Weg über die Tropik gehen. Das Problem liegt, wie Eisenman es formuliert hat, darin, dass in der Architektur Signifikant und Signifikat zusammenfallen. [18] So schreibt auch Libeskind über Steinatem: „The perforations are [...] both fragile and structures of their own fragility.“ [19] Soll die Zerbrechlichkeit eines aus der historisch erfahrenen Vernichtung erwachsenden Sich-Öffnens auf Zukünftiges hin architektonisch dargestellt werden, so muss diese Zerbrechlichkeit auch formal eingelöst werden.

Dies ist auch in Zusammenhang mit der Funktionalität von Architektur zu verstehen – die Form denotiert ihre Funktion. Auch die Bedeutungsebene einer Kirche – oder eben eines Mahnmals – leitet sich aus der Funktion ab. Hinzu kommt, dass die Sprache zwei Arten von Worten enthält – es gibt solche, die für Objekte und Erscheinungen der materiellen Natur stehen, darunter fallen Adjektive wie „rissig“ und „aufwärtsstehend“ ebenso wie das Wort „Baum“. Ein Architekt kann solche Eigenschaften und Objekte nicht benennen, er kann sie nur zeigen. Daneben kann man mit Hilfe der Sprache abstrakte Ideen ausdrücken – etwa „Freiheit“, „Hoffnung“, „Trauer“. Nun bietet die Sprache die Möglichkeit, diese ungegenständlichen Vorstellungen entweder durch einen dafür festgelegten Begriff direkt zu benennen oder diese mittels der Tropik auf bildliche Art und Weise zu umschreiben, indem sie Wörter für Konkreta verwendet, die diese Abstrakta denotieren. Der Architektur steht erstere Art von Zeichen für Abstrakta nicht zur Verfügung; möchte ein Architekt Hoffnung darstellen, so muss er eine materielle Form finden, die bildhaft unserer Vorstellung von Hoffnung entspricht. Der Autor kann wählen, ob er das Wort „Hoffnung“ verwendet oder zum Beispiel einen Baum beschreibt, der die Hoffnung symbolisiert. Dem Architekten bleibt nur letztere Möglichkeit – etwa einen Baum zu pflanzen oder zu gestalten – oder eben – wie im Falle Libeskinds – eine neue Ausdrucksform für die Vorstellung von Hoffnung zu finden. Der Architekt ist darauf angewiesen eine konkrete Form zu wählen, die unsere abstrakte Idee symbolisiert; er ist immer schon auf die Methode der Tropenbildung verwiesen.

Es zeigt sich, dass sich das Problem der Bedeutungsvermittlung in der Architektur gerade dann stellt, wenn über die Funktion des Baus eine bestimmte Bedeutung mitgegeben ist. So sind es hier gerade Projekte, die in Bezug zum Holocaust-Gedenken stehen, bei denen Libeskind um eine Interpretation der Shoah mittels der architektonischen Form ringt. Anregungen findet er hierfür in der Literatur, deren Sinngehalte er ins Architektonische zu überführen versucht. Es kann dabei gerade als das Interessante an dem Entwurf gesehen werden, dass die sprachliche Metapher in eine architektonische überführt wird, und damit die Verbildlichung in einem Gleichklang von Signifikanten und Signifikat erzielt werden muss. Die Identität beider macht die Besonderheit des Architektonischen aus. So ist die in Beton gegossene, hochaufragende Sackgasse, die sich doch brüchig und rissig, nach oben hin der Stadt gegenüber öffnet, eine Verkörperung jener Sackgassensituation, die auf eine Zukunft hin durchbrochen werden muss.

Da sich in der Architektur etwas Darzustellendes immer konkret materiell realisieren muss, ist die Vermittlung abstrakter Ideen in der Architektur damit immer schon auf die Tropik verwiesen. Nur bildhaft durch Konkreta können immaterielle Entitäten zum Ausdruck gebracht werden. Die Möglichkeiten einer architektonischen Tropik versucht Libeskind in seinen Werken auszuloten. Wie weit eine solche gelingen kann und wo die Grenzen ihrer Lesbarkeit liegen mögen, müssen wir zunächst als offene Fragen stehen lassen. Das Beispiel der Celan-Rezeption aber zeigt, dass es in Libeskinds Architektur  - anders als man ihm gerne vorwirft - um weit mehr geht als um reine Wortspiele und leere Floskeln, sondern sein architektonischer Gestaltungsprozess von einer tiefgreifenden Auseinandersetzung mit literarischen Werken geprägt ist.


[1] James E. Young, Daniel Libeskind’s Jewish Museum in Berlin: The Uncanny Arts of Memorial Architecture, in: Christa von Braun/ James E. Young, Architektur der Denkräume. Vorträge anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Daniel Libeskind, 30. Oktober 1997, Berlin 1998, S. 15-25.
[2] Vgl. Eric Kligerman, Ghostly Demarcations: Translating Paul Celan’s Poetics into Daniel Libeskind’s Jewish Museum in Berlin, in: The Germanic Review, 80 (Winter 2005), S. 28-49, hier S. 32
[3] Kligerman, Ghostly Demarcations, S. 29f.
[4] Paul Celan, Der Meridian, in: ders.: Gesammelte Werke Bd. 3, hrsg. von Beda Allemann u. Stefan Reichert, Frankfurt am Main 1983, S. 187-202, hier: S. 202
[5] Nelly Sachs, Brief an Paul Celan vom 28. 10. 1959, in: Paul Celan/ Nelly Sachs, Briefwechsel, hrsg. von Barbara Wiedemann, Frankfurt am Main 1993, Nr. 19
[6] Paul Celan: Mikrolithen sinds, Steinchen. Die Prosa aus dem Nachlass. Kritische Ausgabe, hrsg. u. komm. von Barbara Wiedemann und Bertrand Badiou, Frankfurt am Main 2005. S.132
[7] Damit gibt Libeskind einen Verweis auf die Berliner Politik – damals wie heute – und zeigt so, wie das  Mahnmal in vielfältiger Weise mit dieser verwoben ist. Erst die heutige politischen Auseinandersetzung mit den Taten der Vergangenheit hat dieses Mahnmal möglich gemacht.
[8] Vgl. Daniel Libeskind, Steinatem, Stonebreath. Competition for a Memorial for the Murdered Jews of Europe, Berlin, 1997, in: ders.: The Space of Encounter, London 2001, S. 159-160, hier S. 160
[9] Der jüdische Dichter Paul Celan spielt wiederholt in Libeskinds Werk eine Rolle, vgl. z. B. das Jüdische Museum Berlin oder The Garden of Love and Fire, Polderland Garden Alemere, beide in: Daniel Libeskind, The Space of Encounter, London 2001
[10] So handelt selbst James E. Young, einer der Theoretiker, die am ausführlichsten über Libeskind geschrieben haben, den Berliner Mahnmalentwurf mit wenigen, kritischen Sätzen ab:„Libeskinds great broken wall – what he called Stone-Breath – certainly evoked a spectacular vision of irreparability, irredeemable voids, and scarred landscape, but insofar as this seemed to be an extension of the void he had built into his Jewish Museum design, it also appears to be an extension of the Jewish Museum itself, which already had a Holocaust void built into it.“ (James E. Young, At Memory’s Edge: After Images of the Holocaust in Contemporary Art and Architecture, New Haven 2000, S. 202) Diese von James E. Young geübte Kritik in Bezug auf das Selbstzitat, ist vor allem mit Blick auf die rein architektonische Form des Projekts durchaus ernst zu nehmen und nicht unberechtigt. Durch das häufige Wiederaufgreifen der eigenen Formensprache und die wiederholten (topographischen) Referenzen auf eigene Architektur, droht der metaphorisch-inhaltliche Bezug in eine Selbstinszenierung abzurutschen. Dennoch soll dieser problematische Aspekt einmal außer Acht gelassen werden, um der formalen Gestalt und ihrer Bedeutung in diesem Projekt genauer nachzuspüren.
[11] Libeskind, Steinatem, S. 160
[12] Libeskind, Steinatem, S. 160
[13] Paul Celan, Das Aufwärtsstehende Land, in: ders.: Gesammelte Werke Bd. 2, hrsg. von Beda Allemann u. Stefan Reichert, Frankfurt am Main 1983, S. 70
[14] Libeskind, Steinatem, S. 160
[15] Vgl. Koelle, Lydia: Paul Celans pneumatisches Judentum. Gott-Rede und menschliche Existenz nach der Shoah, Mainz 1997, S. 203. Darüber hinaus lässt sich diese Deutung durch den Umstand stützen, dass die von Celan gebildeten Neologismen häufig in klanglicher Verwandtschaft zu bekannten Wörtern stehen, mit denen sie auf diese Weise auch auf der Bedeutungsebene in Beziehung gesetzt werden. Eine solche Beziehung kann hier für „aufwärtsstehend“ und „auferstehend“ angenommen werden.
[16] Paul Celan, Das Aufwärtsstehende Land, S. 70
[17] Vgl. Wolfgang Penth, Schinkels Kuppel und Libeskinds Blitz. Über die Sprachfähigkeit zeitgenössischer Architektur, in: Christa Lichtenstern (Hrsg.): Symbole in der Kunst, St. Ingbert 2002, S. 37-60. Penth unterscheidet zwischen (festgelegter) Symbolik und je neu zu deutender, architektonischer Metapher.
[18] Vgl. Peter Eisenman, Das Diagramm und das Unmotiviert-Werden des Zeichens, in: ders.: Ins Leere geschrieben. Schriften und Interviews II, Wien 2005, S. 159-169, hier S. 159
[19] Daniel Libeskind, Steinatem, S. 160

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