theologie.geschichte - Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte

Alister E. McGrath

Dogma, Identität und soziale Existenz:

Kritische Reflexionen über die soziale Funktion der christlichen Dogmatik in der Aufrechterhaltung von Gruppenidentität

Abstract
The paper considers the cultural and sociological pressures that lead to the generation of theological formulations as a means of identifying social groups, requiring to be distinguished from other such groups by theological means. Without in any way calling into question the legitimacy of doctrinal formulations as an intellectually defensible means of self-definition, it is argued that it is unrealistic to deal with the emergence and development of doctrine without considering its social functions. A study of the development of doctrine at critical junctures within church history reinforces the importance of considering this aspect of doctrine, and enables a helpful and fruitful engagement with otherwise puzzling phenomena – such as the manner in which, in recent ecumenical debates, doctrines once held to be the cause of confessional divergence can still be maintained as „true“, while no longer entailing division.

Braucht das Christentum die Dogmatik? Wäre es den christlichen Gemeinschaften nicht anzuraten, dogmatische Glaubenssätze als veraltete, der zeitgenössischen kulturellen Situation unangemessene Irrelevanzen aufzugeben? Vielfach wird gesagt, dass allein schon die Idee des Dogmas authentischen Formen des Christentums, insbesondere der frühen ‚Jesus-Bewegung’, fremd sei. Die Herausbildung der Dogmatik in der späteren patristischen Epoche ist einer Anzahl möglicher Faktoren zugeschrieben worden, darunter den rationalisierenden Tendenzen der hellenistischen Philosophie und der Notwendigkeit, ein christliches Gegenstück zur Ideologie des römischen Reiches zu entwickeln.[1]

Dieser Aufsatz legt ein Verständnis der sozialen Funktion des Dogmas dar, das die Frage aufwirft, ob ein ‚dogmenfreies Christentum’ tatsächlich möglich ist. Zwar gibt es gegen die Idee eines von dogmatischen Formulierungen völlig freien Christentums erhebliche intellektuelle Einwände, doch eigentlich geht es darum, dass man das Christentum nicht einfach als eine Anhäufung von Ideen denken darf, die von einzelnen Gläubigen vertreten werden; es stellt eine soziale Realität dar, eine Gemeinschaft oder Gruppe, die sich deshalb den normalen Belastungen sozialer Existenz ausgesetzt sieht – einschließlich des Bedürfnisses sich selbst zu definieren. In diesem Aufsatz sollen daher mittels einer kritischen Untersuchung der Geschichte der christlichen Kirche Argumente geliefert werden für ein Verständnis von Dogma als logischer Konsequenz des sozialen Wesens des Christentums.

Der Mensch existiert als ein soziales Wesen in Gemeinschaft. Eine solche soziale Weise des Daseins bringt eine neue Reihe von Belastungen mit sich. Eine der grundlegendsten ist dabei die Rolle von Gruppen bei der Gestaltung von Selbstidentität, Überzeugungen und Werten.[2] Seine persönliche Identität zieht der Mensch sowohl aus den Gruppen, denen er angehört, als auch aus seinen zwischenmenschlichen Beziehungen und Selbstverständnissen.[3] Und von Anfang an haben Christen sich in einem komplexen Netz sozialer Beziehungen eingebunden gesehen – mit dem Judentum, den verschiedenen Gruppen der späten Antike, der säkularen Kultur im Allgemeinen, und mit einer wachsenden Anzahl von Gruppen, die die allmähliche Herausbildung des Begriffes der ‚Häresie’ notwendig und angemessen machte. Um ein Gefühl von Gruppenidentität zu bewahren, waren diese frühchristlichen Gruppen zunehmend gezwungen, sich dogmatischen Methoden der Selbstdefinition zu bedienen.[4] In der gegenwärtigen fragmentierten Welt sind diese Belastungen so stark wie zu neutestamentlichen Zeiten, und dies weist hin auf die fortwährende Bedeutung von Dogma als einem Abgrenzungsfaktor sozialer Identität.

Dogmen haben somit nicht nur propositionalen Charakter, indem sie sagen, was ‚wahr ist’; sie bilden sich in einem sozialen Kontext heraus und erfüllen eine soziale Funktion, die für das Überleben der christlichen Kirchen als eigenständige soziale Einheiten essentiell ist. Zum Beispiel definieren christliche Dogmen gemeinschaftlich niedergelegte ‚Glaubensaussagen’, die sich herausgebildet haben nach einer längeren Periode der Reflexion über die grundlegenden Ressourcen und Erfahrungen der christlichen Gemeinde.[5] Man kann sie sich als Kennzeichen von Gruppenidentität denken, als konsensuelle soziale Konstrukte, die versuchen, religiöse Erfahrung und einzelne Überzeugungen zu systematisieren. Ihr Fortdauern beruht teilweise auf Gründen der Mitgliedschaft und des Konservatismus und teilweise darauf, dass sie indirekt etwas ausdrücken, das von tiefer liegender Bedeutung sein mag.

Mag die Bekräftigung der besonderen Identität von Gemeinschaften auch eine Notwendigkeit sozialer Existenz sein, ist sie doch nicht immer eine Tugend. Die Betonung des Besonderen kann leicht zum Konflikt führen, speziell wenn Gemeinschaften ihre besondere Identität bedroht sehen.[6] Ein Grund für die Ablehnung des Dogmas im Zuge der Aufklärung war, dass es entweder selbst als exklusivistisch oder als gefährlich exklusivistische Haltungen widerspiegelnd gesehen wurde und dadurch soziale Spannungen oder letztlich Gewalt fördern oder legitimieren könnte. Die Erinnerung an die zerstörerischen europäischen Religionskriege spielte keine geringe Rolle für die Entstehung und das Fortbestehen dieser Bedenken.[7] In jüngerer Vergangenheit jedoch haben Versuche, christliche Besonderheit zu eliminieren, viel von ihrer ehemaligen Glaubhaftigkeit eingebüßt, teils aufgrund der Abnahme der Furcht vor religiösen Konflikten, teils aufgrund einer Neubewertung der Bedeutung gemeinschaftlicher Identität in einer Zeit weit reichender sozialer Fragmentierung.

Mit Sicherheit kann die Botschaft Jesu von Nazareth als Anregung zur Reduktion von Konflikten zwischen Gruppen gesehen werden,[8] und man mag sagen, dass dies die Minimierung von Kriterien sozialer Abgrenzung erfordert. Nichtsdestoweniger musste die besondere Identität der aufkommenden ‚Jesus-Bewegung’ bewahrt werden mittels eines Prozesses der Abklärung ihres Verhältnisses zur Welt im allgemeinen und zu anderen jüdischen religiösen Gruppierungen der Zeit. Es gibt Belege, die darauf hindeuten, dass dieser Prozess der Selbstidentifikation zunächst pragmatisch gewesen sein mag und sich mehr auf die Praxis der Eucharistiefeier als auf theoretische Reflexion konzentrierte.[9] Dennoch war dogmatische Selbstdefinition von Anfang an Teil dieses Prozesses, der sich dann aber beschleunigte, als sich neue soziale Belastungen herausbildeten, die solche Definition immer notwendiger machten.

Die Aufrechterhaltung einer eigenständigen gemeinschaftlichen Identität war dann besonders wichtig, wenn sich die christliche Gemeinde von der Assimilation durch eine breitere kulturelle Bewegung bedroht sah. Ein hervorragendes Beispiel für das Schicksal einer Gemeinschaft, die den Sinn für ihre besondere Identität verliert, bietet der Fall der jüdischen Gemeinde in der ägyptischen Stadt Elephantine, deren Ursprünge bis ins fünfte Jahrhundert v. Chr. zurückverfolgt werden kann. Diese Gemeinde erlitt eine radikale Erosion ihrer Besonderheit, anscheinend ohne jeden Versuch des Widerstands, bis sie schließlich nicht mehr als eigenständige Einheit bestand.[10]

Die Glaubenslehre dient der Definition und Erhaltung der Identität von Gemeinschaften im öffentlichen Raum. Wie der amerikanische Anthropologe Clifford Geertz betont hat, bestehen signifikante wechselseitige Beziehungen zwischen Glaubenslehre, Symbol- und Repräsentationsschemata und Gemeinschaftsidentitäten.[11] Das Dogma hat somit eine soziale Funktion in der Definition und Verteidigung der Identität einer christlichen Gemeinde. Jedoch ist das Verhältnis dieser sozialen Funktion einer dogmatischen Aussage zu ihrem wahrgenommenen Wahrheitsgehalt keines der Spannung. Diese zusätzliche Funktion geht hervor aus den Gegebenheiten sozialer Existenz, insbesondere dem Prozess des Konstruierens christlicher Gemeinden als sozialer Realitäten, der ein Mindestmaß an Beschreibung bedingt. Am allerwichtigsten ist, dass soziale Existenz nach der Fähigkeit verlangt, eine Gemeinschaft von einer anderen zu unterscheiden – anders gesagt, die Identität einer Gruppe zu konsolidieren durch Hervorhebung dessen, was diese soziale Gruppe von anderen differenziert.[12]

Die soziale Funktion eines Dogmas ergibt sich somit zusätzlich und nicht alternativ zu seinem theologischen Wahrheitsgehalt. Die soziale Funktion von Dogmen erwächst aus den historischen Besonderheiten der Situation, in der sich die Gemeinschaft befindet. Nun mag diese kulturelle Situation es für das Überleben jener Gemeinschaft einmal erforderlich machen, dass sie sich von einer anderen Gemeinschaft absetzt. An diesem Punkt spielt die soziale Funktion des Dogmas eine große Rolle. Zu anderen Zeiten in der Geschichte dieser Gemeinschaft wird dasselbe Dogma dann weiterhin bejaht und geglaubt, ihm wird aber keine entscheidende soziale Rolle mehr zugeschrieben.

Wenn man anerkennt, dass zumindest bestimmte Aspekte der Geschichte der christlichen Dogmengeschichte sozial konstruiert sind, lässt sich auf viel plausiblere und verantwortbare Weise verstehen, warum bestimmte Lehren sich auf bestimmte Weisen entwickelt haben, bestimmte Funktionen zu bestimmten Zeiten, nicht aber zu anderen, erfüllt haben und für bestimmte Gruppen von Christen, nicht aber für andere, von Wert waren. In diesem Aufsatz sollen die ekklesialen Funktionen christlicher Lehre ausgelotet werden in Hinsicht sowohl auf das Dokumentieren einiger empirisch beobachtbarer Trends innerhalb der christlichen Geschichte als auch auf das Erklären dieser Trends.

Wie wichtig Selbstdefinition für religiöse Gruppen ist, ist augenfällig. Im Falle der frühchristlichen Kirche wurde die Gruppenidentität durch eine Anzahl von Faktoren aufrechterhalten, von denen nur einige mit Dogmatik zu tun hatten. Die Herausbildung von spezifisch dogmatischen Kennzeichen christlicher Identität ist ein wichtiges Anzeichen für Veränderungen hinsichtlich sozialer Bedeutung und sozialen Bedingungen der christlichen Gemeinden in der Welt der Spätantike. Diese Gemeinden gerieten von innen und von außen zunehmend unter den Druck, von sich selbst Rechenschaft zu geben angesichts der Infragestellungen ihrer Identität sowohl seitens der säkularen Kultur als auch seitens verschiedener häretischer Bewegungen, die sich selbst als ‚christlich’ identifizierten, mit der Urkirche aber keine geschichtliche und intellektuelle Kontinuität nachweisen konnten. Dogmatische Selbstdefinition wurde essentiell, damit die christlichen Kirchen als eigenständige, kohärente Einheiten überleben konnten. So wächst dem Dogma eine eigenständige Rolle zu innerhalb eines sozialen Systems, das von den Teilnehmern einer bestimmten Kultur oder Gesellschaft erfunden oder konstruiert ist; diese Rolle ist in gewissem Maße unabhängig von der engeren theologischen Aufgabe der Verkörperung göttlicher Realität und ergänzt jene. Diese soziale Rolle existiert, weil sie sich durch den sozialen Prozess herausgebildet hat. Sie stellt eine Antwort dar auf das soziale Bedürfnis verschiedener Gruppen einerseits sich voneinander zu unterscheiden, und andererseits ein verstärktes internes Identitäts- und Zweckgefühl zu entwickeln.[13]

Es sollte noch einmal betont werden, dass die Erkenntnis, dass die christliche Lehre bestimmte soziale Funktionen erfüllt oder anderweitig mit der sozialen Realität der christlichen Tradition verbunden ist, den Wahrheitsgehalt der jeweiligen Doktrin nicht in Frage stellt. Die soziale Rolle eines Glaubenssatzes wird von einem komplexen Geflecht sozialer Faktoren geformt; von keinem aber lässt sich gerechtfertigterweise sagen, dass er ein anti-realistisches Verständnis christlicher Lehre nach sich ziehe. Die soziale Funktion eines Glaubenssatzes ist ein Aspekt seiner wirklichen Identität – ein Aspekt aber, der abhängt von den kulturellen und historischen Gegebenheiten der jeweiligen Zeit, und den man nicht überall, zu allen Zeiten oder für alle Menschen für identisch halten darf.[14]

Während die Rolle christlicher Dogmatik bei der Gestaltung von Spiritualität, Doxologie und Ethik innerhalb der christlichen Gemeinde gründlich untersucht worden ist,[15] ist der externen Funktion von Dogma bei der Abgrenzung der christlichen Tradition von konkurrierenden Ideen deutlich weniger Aufmerksamkeit zuteil geworden. Doch zeigt die Geschichte der christlichen Tradition, dass dies ein praktisch dauernder Bestandteil der Dogmenentwicklung war. Wie Niklas Luhmann bemerkt hat, wächst der Dogmatik eine besonders wichtige Rolle zu, wenn die Identität einer religiösen Tradition – ganz besonders durch andere religiöse Gemeinschaften – bedroht ist.[16] Daher muss man die Dogmatik als ein Mittel betrachten, mit dessen Hilfe die christlichen Traditionen ihr Verhältnis zur Welt regulieren, sei dies neutral oder feindselig, und auch das zu anderen christlichen Traditionen.

Somit definiert Dogmatik Diskursgemeinschaften – jene Art von sozio-linguistischen Gemeinschaften, die in der einflussreichen aber zutiefst problematischen Analyse des Wesens der Dogmatik, wie sie von dem amerikanischen Theologen George Lindbeck unternommen wurde, eine prominente Rolle spielen.[17] Dogmatik strukturiert nicht nur die konzeptuellen Bezugssysteme und spezifischen Diskursmodi dieser Gemeinschaften; sie definiert sie als soziale Einheiten und grenzt sie ab von anderen sozialen Gruppierungen. Sie dient der Schaffung eines sozialen Identitätsempfindens, indem sie die Anschauungen einer Gemeinschaft formt und ihre eigenständige, fortdauernde Existenz angesichts konkurrierender Gemeinschaften mit vergleichbaren Zielen rechtfertigt. Sie hilft bei der Definition der Grenzen einer Gemeinschaft sowie der Bedingungen der Mitgliedschaft. Für effektiven sozialen Zusammenhalt müssen Grenzen festgelegt und ein Gefühl von Gruppenidentität gepflegt werden.[18] So unterstützt die Dogmatik das Identitätsgefühl einer Gruppe und ermöglicht ihre Unterscheidung von anderen Gemeinschaften. Andere mit den christlichen Gemeinden assoziierte Mittel sozialer Abgrenzung (wie die Sakramente) haben ebenfalls eine klare dogmatische Komponente.[19]

Es geht also (extern) um die Abgrenzung einer christlichen Tradition von Alternativen einschließlich der Klärung ihres gegenseitigen Verhältnisses und (intern) um das Hegen eines gemeinsamen Identitäts- und Zweckgefühls innerhalb dieser Tradition. Um dies weiter zu untersuchen, sollen nun einige historische Faktoren diskutiert werden, die diese Themen illustrieren.

Dogma und Abgrenzung vom Judentum

Die erste größere Herausforderung, die sich den aufkommenden christlichen Kirchen stellte, war die Klärung ihrer intellektuellen und sozialen Beziehung zum Judentum. Die Christen wollten die kultischen Rituale des Judentums (wie Speisegesetze, Sabbatobservanz und Beschneidung), die der Identifizierung von Juden inmitten einer heidnischen Gemeinde dienten, nicht annehmen; andererseits gewann aber auch Marcions Vorschlag, dass das Christentum als ganz und gar verschieden vom Judentum erklärt werden sollte, keine Unterstützung.[20] Der Beziehung von Christentum und Judentum wohnte eine offensichtliche Polarität inne. Als Folge davon richtete sich die christliche Selbstdefinition anfangs auf die Klärung des Verhältnisses von Christentum und Judentum und konzentrierte sich auf die Identität Jesu und dann auf die Rolle des alttestamentlichen Gesetzes.[21] (Auch die Bedeutung der Person Jesu von Nazareth in der Herbeiführung einer Bifurkation von Christentum und Judentum unterstreicht ja seine Funktion als die grundlegende Legitimationsquelle des Christentums.) Mit Recht lässt sich daher behaupten, dass die paulinische Lehre der Rechtfertigung durch den Glauben  eine theoretische Legitimation bietet für die Abspaltung heidenchristlicher Gemeinschaften vom Judentum; hier lässt sich die offensichtliche soziale Funktion der Dogmatik ablesen.[22] Doch lässt dies nicht den Schluss zu, dass die paulinische Lehre der Rechtfertigung durch den Glauben bloß ein soziales Epiphänomen ist. Ihre ekklesiale Funktion stellt ein soziales Konstrukt dar – aber geht man das Thema kritisch-realistisch an, kommt die Implikation, dass seine Lehre deshalb erfunden oder unwahr sei, nicht in Frage. Es geht einfach darum festzuhalten, dass diese Lehre eine entscheidende Rolle in der Abgrenzung von Gemeinschaften spielen sollte.

Dogma und Abgrenzung von der Welt

Schon im Neuen Testament lässt sich die Herausbildung einer scharfen Unterscheidung zwischen ‚Kirche’ und ‚Welt’ beobachten. Anfangs wurde diese Unterscheidung zumindest teilweise als Trennung von der Welt verstanden. Womöglich ermutigt durch die Erwartung eines baldigen Endes aller Dinge scheinen die ersten Christen Gemeinschaften gebildet zu haben auf der Basis gemeinsamer Loyalitäten und spezifischer Bekenntnisse und nicht expliziter theoretischer Ideen. Den frühchristlichen Gemeinden scheinen präzise, ausgefeilte dogmatische Formulierungen für ihre Selbstdefinition nicht essentiell gewesen zu sein, insofern sie sich von der Welt bereit durch Teilnahme an Zusammenkünften und gemeinsamem Gottesdienst unterschieden. „Wie genau auch ihre dogmatische Unterschiedlichkeit definiert gewesen sein mag, so wurde sie bekräftigt, getragen und vielleicht sogar überschattet von ihrer soziologischen Unterschiedlichkeit als von der Welt quasi abgesonderte Gruppen.“[23] Laut eines Ansatzes zum Verständnis der johanneischen Gemeinde sah diese Gruppe ihre Gesondertsein von der Welt als erklärt und legitimiert durch die Berichte von Jesu Worten und Taten, wie sie im vierten Evangelium überliefert sind.[24] Zwar teilten die ganz frühen christlichen Gemeinden offensichtlich eine Wittgensteinsche ‚Familienähnlichkeit’ aufgrund ihrer Glaubensanschauungen bezüglich Jesus von Nazareth, benötigten jedoch keine dogmatischen Formulierungen, um sich von der Welt zu unterscheiden: diese Unterscheidung war ihnen von der Welt bereits aufgezwungen, insofern sie als sichtbare und klar identifizierbare Gruppen isoliert waren.[25] Christ zu werden hieß (zumindest potentiell), eine sichtbare Veränderung der sozialen Position durchzumachen, und das reichte schon aus; zusätzliche Diskriminanten wurden zur Abgrenzung von der Gesellschaft nicht benötigt.

Und doch waren sozialen und physischen Abgrenzungsstrategien Grenzen gesetzt. Im Gegensatz zu den Essenern zogen sich die frühen Christen nicht in die Wüste zurück; in der Welt der Städte und Institutionen verbleibend entwickelten sie Mittel, in der Welt zu existieren, ohne in ihr aufzugehen.[26] „Wir Christen,“ so schrieb Tertullian an seine heidnische Zuhörerschaft, „leben mit Euch, essen mit Euch, tragen die gleichen Kleider, führen das gleiche Leben und verspüren die gleichen Bedürfnisse wie Ihr.“[27] Wie also unterschieden sie sich von anderen Gemeinschaften dieser Zeit? Immer mehr wurde die Dogmatik zum Mittel, mit dessen Hilfe Christen und christliche Gemeinden von der sie umgebenden Welt unterschieden werden konnten – um so mehr, als die Anschauungen, Werte und Handlungsweisen der Christengemeinde konvergierten. Streitigkeiten mit gnostischen und anderen Gemeinschaften zwangen die christlichen Gemeinden dazu, ihr Verständnis von Selbstdefinition zu vertiefen und brachten vermehrten Druck, Glaubensbekenntnisse und andere autorisierte Glaubensaussagen zu entwickeln.[28] Irenäus leistet einen entscheidenden Beitrag zu diesem Prozess, doch auch Tertullians Bedeutung im Drängen nach Selbstdefinition und der Aufrechterhaltung von Selbstidentität innerhalb der christlichen Gemeinden darf nicht übersehen werden. Man einigte sich auf Maßstäbe – etwa den Kanon des Neuen Testamentes oder die Befolgung der apostolischen Glaubensregel -, anhand derer die Ansprüche von religiösen Gemeinschaften, christliche Kirchen zu sein, überprüft werden konnten.[29] Dogmatik wurde immer wichtiger, um die Kirche gegenüber der säkularen Kultur im Ganzen abzusetzen, und um im Inneren ein Identitäts- und Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken.

Wenn die Dogmatik nun zur Abgrenzung der Kirche in einer heidnischen Kultur wichtig ist, was geschieht, wenn diese Kultur selbst christlich wird und keine Notwendigkeit mehr besteht, zwischen Kirche und Gesellschaft zu unterscheiden? Mit der Herausbildung des Begriffs der Welt als Christenheit erlangte dieses Thema Bedeutung, und dem wollen wir uns nun zuwenden.

Die Überflüssigkeit von Abgrenzung: die Welt als Christenheit

Die Bekehrung des römischen Kaisers Konstantin stellte einen Wendepunkt im Wesen des westlichen Christentums dar.[30] Mit dieser Bekehrung bekam das Christentum einen neuen Stellenwert im Römischen Reich und dogmatische Formulierungen erlangten zunehmend politische Bedeutung. War Konstantin im Donatistenstreit (313-316) bloß dazu aufgerufen zu entscheiden, welche von zwei rivalisierenden sozialen Gruppierungen sich legitimerweise als wahre Kirche bezeichnen durfte, so brachte der Streit um den Arianismus die schwierigere Aufgabe zu bestimmen, welche von zwei rivalisierenden Doktrinen die wahre Lehre der katholischen Kirche verkörperte.[31] Mit der kaiserlichen Lösung der arianischen Krise gewann der Begriff der ‚Lehre’ rasch den Charakter von ‚legal sanktionierter Ideologie’ – ein Konzept, das man vielleicht korrekterweise als ‚Dogma’ bezeichnet. Der relative Pluralismus eines früheren Verständnisses von Dogmatik (als Übereinkunft im Blick auf die Kernideen und die in Lehre, Predigt und theologischer Reflexion zu gebrauchenden Texte) spiegelte die ungleichmäßige Sozialstruktur der christlichen Kirche dieser Zeit wider; die beginnende Zentralisierung in der Zeit Konstantins brachte nun die Idee der Kirche als einer institutionellen Einheit, die zur Aufrechterhaltung ihrer neu entdeckten sozialen Funktion und ihres sozialen Status dogmatischer Uniformität bedurfte.

Zu Beginn des Mittelalters war der Unterschied zwischen ‚Kirche’ und ‚Gesellschaft’ so gering geworden, dass formale Distinktionen sich oftmals schwierig gestalteten.[32] Der Begriff der Christenheit barg einige Ungewissheiten, zum Beispiel die Frage nach der weltlichen Macht der Kirche. Doch grundlegend ging es hierbei um die Idee eines christlichen Raumes, der sozial und politisch durch die Autorität der Kirche definiert wurde. Mit diesem Entwicklungsschritt erlosch die wesentliche soziale Rolle der Dogmatik. Entscheidenderweise waren die Häresien, die in der Christenheit aufkamen, primär als Infragestellung kirchlicher Autorität definiert anstatt wesentlich als theologische Bewegungen – und somit legal, nicht theologisch, definiert.[33] Deshalb darf man nicht vergessen, dass die meisten mittelalterlichen Häresien zu ihrer Zeit tatsächlich politisch interpretiert wurden (als Infragestellung der päpstlichen Autorität), und nicht theologisch (als Infragestellung orthodoxer Lehre).

Leicht lässt sich zeigen, dass mit der Existenz der Christenheit das Interesse an Dogmatik deutlich nachgelassen hat. Seelsorge, die legalen Rechte und Pflichten der Kirche und die beständigen Aufgaben der internationalen Diplomatie wurden als die natürlichen Anliegen der Kirche angesehen. Ein interessantes Ergebnis dieser Loslösung von dogmatischen Themen war, dass die römisch-katholische Kirche auf die dogmatischen Debatten, die im sechzehnten Jahrhundert infolge der Reformation aufkamen, schlecht vorbereitet war. Wie Giuseppe Alberigo in seiner maßgeblichen Studie der italienischen Bischöfe während des Konzils von Trient vermerkt, war theologische Kompetenz in den oberen Rängen der Kirche ganz klar seit geraumer Zeit nicht als Priorität angesehen worden.[34]

Das Aufkommen der Reformation lässt sich als Wendepunkt in der Geschichte der sozialen Funktion der christlichen Dogmatik ansehen, und wir wollen uns dem nun genauer zuwenden.

Die Reformation: Dogmatik und die Abgrenzung der christlichen Traditionen

Eine der dramatischsten Auswirkungen der Reformation war die Schaffung einer Reihe von ekklesialen Gemeinschaften in ganz Westeuropa, die sich in Gegenüberstellung zur mittelalterlichen katholischen Kirche identifizierten. Luthers evangelische Fraktion in Wittenberg, Calvins reformiertes Genf und verschiedene Täufer-Gemeinschaften suchten sich von der Kirche, von der sie sich abgespalten hatten, zu unterscheiden. In diesem Prozess waren bestimmte Kernlehren ausschlaggebend, vor allem die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben allein, die sich schnell zum Markenzeichen protestantischer Gemeinden entwickelte.[35]

Doch erfolgte dieser Prozess nicht sofort; es ist wichtig, einige Einzelaspekte dieser Situation zur Kenntnis zu nehmen. Ungefähr ein Jahrzehnt lang (1515-1525) schritt die Reformation in der östlichen Schweiz gemäß dem aus dem Mittelalter übernommenen Modell voran. In dieser Region sahen sich die Reformatoren – wie etwa Joachim von Watt in St. Gallen und Huldrych Zwingli in Zürich – als Schöpfer einer erneuerten Christenheit durch eine Reformation des Lebens und der Sitten nach der sittlichen und institutionellen Vision des Neuen Testaments.[36] Dogmatik wurde nicht als wichtiges Thema angesehen; und tatsächlich stammt die Vision einer Reformation der Lehre der Kirche von Luther und nicht von der ersten Generation der Schweizer Reformatoren. Die englische Reformation war ebenfalls im Kern eine Staatshandlung, durch die die Autorität des Papstes durch die des englischen Monarchen ersetzt wurde. Anfangs waren keine dogmatischen Veränderungen vorgesehen; deren Notwendigkeit war eine spätere Einsicht. Die reformatorische englische Kirche stand nicht unter dem Druck, sich im Verhältnis zu anderen ekklesialen Körperschaften im Lande zu definieren, da keine existierten. Die Weise, wie sich die englische Reformation anfangs entfaltete, verlangte nicht nach dogmatischer Selbstdefinition, insofern die Kirche in England in sozialer Hinsicht vor wie nach der Reformation von denselben sozialen und institutionellen Parametern definiert war, welche politischen Veränderungen auch eingeführt worden sein mochten. Es lag kein Bedürfnis nach theologischer Abgrenzung vor; einiges spricht sogar dafür, dass eine solche Abgrenzung der Vision einer Nationalkirche, die Heinrich aufrechterhalten wollte, abträglich gewesen wäre.

Das heißt nun nicht, dass es in England zur Zeit der Reformation keine theologischen Debatten gab;[37] vermerkt sei lediglich, dass ihnen in Bezug auf die Selbstdefinition der Heinrichschen englischen Kirche kein ausschlaggebender Stellenwert beigemessen wurde. Sie wurden nicht als identitätsstiftend angesehen. Die lutherische Kirche in Deutschland war zur Definition und Verteidigung ihrer sozialen Existenz und ihrer Grenzen durch explizit dogmatische Kriterien gezwungen, gerade weil sie sich von der mittelalterlichen katholischen Kirche abgespalten hatte; doch die Heinrich’sche Kirche in England wies auf institutioneller und sozialer Ebene eine Kontiguität und Kontinuität mit der mittelalterlichen Kirche auf, was eine adäquate Selbstdefinition sicherstellte, ohne sich explizit dogmatischer Kriterien zu bedienen. Die englische Kirche war als ein soziales Gebilde mit ausreichender Klarheit definiert, und benötigte daher keine weitere Definition auf dogmatischer Ebene.

Auf dem europäischen Festland aber wurde die religiöse Vielfalt zur Institution, was mit einem Bedürfnis nach ekklesialer Abgrenzung einherging. Zwischen 1530 und 1560 erschienen eine Reihe von protestantischen ‚Bekenntnisschriften’ mit dem Ziel, die aufkommenden protestantischen ekklesialen Gemeinden von der mittelalterlichen Kirche abzugrenzen. Die primären Unterscheidungsmerkmale waren dogmatischer Art, vor allem in Bezug auf die Rechtfertigungslehre. Wurden solche Bekenntnisse auch als der Heiligen Schrift und den alten Glaubensbekenntnissen der Christenheit untergeordnet angesehen, sahen die Gemeinden, denen sie entsprangen, sie doch als verbindlich an. Das Konzil von Trient, das einberufen worden war, um der protestantischen Herausforderung zu begegnen, sah sich nun vor einer neuen Situation. In der Vergangenheit oblag es solchen Konzilien lediglich, die Ansichten von Häretikern zu definieren und zurückzuweisen. Nun aber war die Kirche aufgefordert, sowohl ihre eigene Lehre zu definieren, als auch die alternativen Auslegungen des Christentums, die aus Nordeuropa kamen, zu entkräften.

Politische Entwicklungen machten die Situation immer komplexer und führten zur graduellen Erosion des im Augsburger Religionsfrieden (1555) niedergelegten Prinzips cuius regio eius religio, das festlegte, dass bestimmte Formen des Christentums in bestimmten Regionen Deutschlands als Staatsreligion zu sehen waren. Jeder Fürst sollte bestimmen, ob Luthertum oder Katholizismus in seinem Territorium anzunehmen waren. War jemand unwillig sich zu bekehren, durfte er auswandern, und die freien Reichsstädte hatten das Recht, sowohl Katholiken als auch Lutheranern die Ausübung ihrer Religion zu gewähren. Der wachsende Einfluss des Calvinismus wurde nicht berücksichtigt. 1560 war klar, dass die Situation instabil wurde: sowohl Luthertum als auch Calvinismus fassten in Deutschland Fuß, und das Ergebnis war, dass zwei rivalisierende protestantische ekklesiale Gemeinden in der Region um Anhänger wetteiferten.

Der Ausgang war unvermeidlich: dogmatische Aspekte ekklesialer Selbstdefinition wurden verstärkt akzentuiert. Diese wachsende Betonung dogmatischer Abgrenzungskriterien ist ein fester Bestandteil der ‚Konfessionalisierung’, die für die Geschichte dieser turbulenten Zeit so typisch ist.[38] Der Druck zur Unterscheidung lutherischer und reformierter ekklesialer Gemeinden kam sowohl von innen als auch von außen: von innen, weil für jede Gemeinde die Stärkung ihres Identitäts- und Solidaritätsgefühls notwendig war, und von außen, weil für politische und soziale Zwecke zwischen diesen beiden Parteien klares theologisches Wasser liegen musste. Als Folge erfuhren bestimmte existierende dogmatische Unterschiede – wie etwa das Thema der Prädestination[39] - eine exzessive Betonung; dies spiegelte das Bedürfnis wider, Unterschiede zwischen den Gemeinden zu identifizieren und hervorzuheben. Dieser Abgrenzungsdruck führte dazu, dass Unterschieden, die zwar real aber nicht außergewöhnlich waren, ein Profil und Stellenwert zugemessen wurde, die der sozialen Situation anstatt den theologischen Problemen entsprangen. Die soziale Funktion einer Doktrin ist somit standortgebunden und abhängig von den jeweiligen Aspekten der sozialen Situation, der sich ekklesiale Gemeinschaften zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte gegenüber sehen. Ändern sich die geschichtlichen Umstände, so kann sich diese soziale Funktion ändern oder mag gar ganz erlöschen. Diese Einsicht liegt den ökumenischen Annäherungen der jüngeren Vergangenheit zugrunde, denen wir uns nun zuwenden wollen.

Ökumene: die Überflüssigkeit von Abgrenzung

Eines der Themen, die George Lindbeck Anlass zum Staunen gaben, war, wie es möglich sei, dass Lehren, die im sechzehnten Jahrhundert zu Spaltungen zum Beispiel zwischen Katholiken und Lutheranern führten, dies zu späteren Zeitpunkten womöglich nicht mehr tun. Hieß das nicht, den Wahrheitsgehalt dieser Lehren fahren zu lassen, oder zumindest, in fragwürdiger Weise freizügig damit umzugehen?[40] Wie, so mag man fragen, kann sich zwischen Lutheranern und römischen Katholiken in Bezug auf die Lehre der Rechtfertigung durch den Glauben Übereinstimmung erreichen lassen, wo sich doch an dieser Doktrin traditionell die Kirchen geschieden haben?[41] Müssten sie hierzu nicht ihre Glaubensanschauungen ändern, was undenkbar ist?

Wenn man akzeptiert, dass bestimmte Lehrsätze der sozialen Abgrenzung ekklesialer Traditionen dienen, und dass diese Funktion historisch situiert ist, eröffnet sich ein neues Verständnis der Möglichkeiten ökumenischer Annäherung. Der Wahrheitsgehalt bestimmter Dogmen wird nicht geleugnet oder heruntergespielt; was für nicht länger gültig erklärt wird, ist eine soziale Funktion dieser Lehren, die spezifisch einer vergangenen Zeit entsprach. Ökumenische Übereinstimmung hinsichtlich der Rechtfertigungslehre beinhaltet die Erkenntnis, dass man dogmatischen Fragen, die als historische Kontingenz für die Selbstdefinition des Luthertums oder des römischen Katholizismus zur Reformationszeit essentiell waren, diese Funktion nicht länger zusprechen muss. Die Selbstidentität des Luthertums wird nicht mehr als von dieser Lehre gestaltet angesehen. Nicht länger muss diese Lehre als Trennungsmerkmal für diese beiden ekklesialen Gemeinschaften dienen.

Die Anerkennung der sozialen Funktion von Dogmen schwächt deren Wahrheitsgehalt in keiner Weise. Spezifische historisch kontingente Umstände schaffen den Eindruck, dass eine bestimme Doktrin für die Selbstdefinition einer Gemeinschaft in jener Situation von normativer Bedeutung ist. Die jeweilige Identifizierung einer Lehre und ihrer Schwerpunkte als Kriterium ekklesialer Abgrenzung muss als standortgebunden gesehen werden; sie ist mit einem bestimmten Gefüge historischer Umstände verbunden. Wandeln sich diese Umstände, erodiert ihre soziale Funktion – möglicherweise bis zu dem Punkt, an dem sie keine signifikante Rolle mehr spielt. Im Kern moderner ökumenischer Diskussion steht die Tatsache, dass Glaubenslehren, die in der Reformationszeit – oder zu anderen Zeiten, die für die Identität der jeweiligen ekklesialen Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung sind – als soziale Abgrenzungsfaktoren fungierten, diese Funktion verloren haben, teils durch einen historischen Erosionsprozess, teils aufgrund einer in der jüngeren Vergangenheit auftretenden Bereitschaft, im Interesse der Einheit der Christenheit auf diese Funktion zu verzichten. Keine ekklesiale Körperschaft, die sich vollständig oder hauptsächlich in Bezug auf ein Gefüge historischer Umstände definiert, kann im Laufe der Zeit Verschiebungen der Parameter ihrer Selbstidentität vermeiden. Die theologische Kategorie von ‚Wahrheit’ steht in einer kontingenten Beziehung zur sozialen Kategorie eines ‚Abgrenzungsfaktors’. Lehraussagen, die ehemals Gemeinschaften gespalten haben, müssen das nicht länger tun und können dennoch ‚wahr’ bleiben.

Was sind nun die Implikationen dieser Reflexionen über die soziale Funktion der Dogmatik? Wenn diese Analyse korrekt ist, dann hängt die Bedeutung, die der dogmatischen Reflexion und Selbstdefinition in einer Kirche zukommt, letztlich ab von der sozialen Situation, der diese Kirche ausgesetzt ist – und wird daher je nach Epoche und Kultur unterschiedlich ausfallen. Aus der wechselhaften Dynamik der globalen Situation folgt, dass Kirchen, die dogmatische Selbstdefinition in der Vergangenheit nicht als wichtig ansahen, dazu gezwungen sein könnten, ihre Positionen in Antwort auf eine neue Situation zu überdenken. Die steigende Bedeutung des Islam wird ein weiterer Katalysator für diesen Prozess sein, sowohl aufgrund der wachsenden Präsenz des Islam in traditionell christlichen Ländern als auch aufgrund christlicher Expansion in bisher islamisch dominierte Gebiete.

Ein gutes Beispiel für diesen Trend soll zum Schluss kurz angesprochen werden. Der Anglikanismus ist von seinem englischen kulturellen Kontext zutiefst beeinflusst. Da es in England keine echte religiöse Konkurrenz zum Anglikanismus gab, folgerten anglikanische Theologen unklugerweise, dass eine gewisse Indifferenz gegenüber dogmatischen Fragen Teil der ‚Essenz des Anglikanismus’ war. Doch stellte sich heraus, dass dies nicht für den Anglikanismus selbst charakteristisch war, sondern für die religiöse Situation in England. Im Zuge seiner Expansion in Afrika und Asien begegnete der Anglikanismus alternativen Glaubenssystemen – beispielsweise islamischen, buddhistischen und katholischen Gemeinden -, die verlangten, dass der Anglikanismus sich als soziales Gebilde von ihnen unterscheide. Infolgedessen wurden sich expansionistische Formen des Anglikanismus der Bedeutung dogmatischer Selbstdefinition zunehmend bewusst und strebten danach, ihr ursprüngliches Erbe der neuen Situation anzupassen. Seit dem sechzehnten Jahrhundert hat der Anglikanismus sich radikal gewandelt, und obwohl dabei auch soziologische Veränderungen in England selbst mitspielten, verdankt sich dies primär seiner Expansion in signifikant andere kulturelle Situationen.

Diesem Aufsatz ging es um die Begründung der These, dass das Dogma das unvermeidliche Ergebnis der Realitäten sozialer Existenz ist. Die Aufklärung hat Dogmen einfach als Ideen betrachtet und ihre soziale Funktion nicht gesehen, und das hat zu einigen unklugen und vorschnellen Einschätzungen hinsichtlich der Zukunft der Dogmatik geführt. Das Christentum existiert in einer Welt sozialer Konstrukte und hat auch seinerseits zu diesen Konstrukten beigetragen. Wie in diesem Aufsatz immer wieder betont wurde, verleugnet oder minimiert die Anerkennung der sozialen Funktion der Dogmen ihren Wahrheitsgehalt in keiner Weise: erstere ergänzt letzteren. Doch stellt diese Sichtweise ein wichtiges und hilfreiches Interpretationswerkzeug dar, das es dem Historiker ermöglicht, einige ansonsten seltsame Aspekte der Geschichte der christlichen Kirche einleuchtend zu erklären und behutsame Vorhersagen hinsichtlich der Zukunft der Dogmatik zu wagen. Die Dogmatik weiß sich zu behaupten – und wird dies auch in der absehbaren Zukunft tun.

Anmerkungen

[1]Siehe z.B. Josef Finkenzeller, Glaube ohne Dogma? Dogmenentwicklung und kirchliches Lehramt, Düsseldorf 1972; Peter Hünermann, Glaubenssätze und der je größere Gott. Zur Problematik christlicher Glaubenssätze und ihrer Folgerungen, in: Theologische Quartalschrift 169 (1989) 56-67; Eberhard Hahn, Darf man heute noch dogmatisch sein? Zur Bedeutung von Dogma und Dogmatik in der Gegenwart, in: Christian Herrmann / Eberhard Hahn (Hg.), Festhalten am Bekenntnis der Hoffnung, Erlangen 2001, 41-56; Reinhard Hütter, ‘After Dogmatics?’ Beobachtungen zur evangelischen systematischen Theologie in den USA und in Deutschland an der Jahrhundertschwelle, in: Theologische Literaturzeitung 125 (2000) 1103-1122.
[2] John. C. Turner, Rediscovering the social group. A self-categorization theory, Oxford 1987; Michael A. Hogg, Social categorization, depersonalization and group behaviour, in: ders. / R. Scott Tindale (Hg.), Blackwell Handbook of Social Psychology, Oxford 2001, 56-85.
[3] Eine hervorragende Diskussion und Illustrationen dieses Punktes finden sich in Erwin Orywal, Die ethnischen Gruppen Afghanistans. Fallstudien zu Gruppenidentität und Intergruppenbeziehungen, Wiesbaden 1986;  Edit Szegedi, Geschichtsbewusstsein und Gruppenidentität. Die Historiographie der Siebenbürger Sachsen zwischen Barock und Aufklärung. Köln 2002.
[4] Siehe z.B. Philip F. Esler, Conflict and identity in Romans. The social setting of Paul’s letter, Minneapolis 2003.
[5] Siehe die Analyse in Alister E. McGrath, The Genesis of Doctrin, Oxford 1990.
[6] Siehe hierzu Miles Hewstone / Mark Rubin / Hazel Willis, Intergroup bias, in: Annual Review of Psychology 53 (2002), 575-604.
[7] Siehe etwa die Sicht der Toleranz bei John Locke: Wilhelm Baumgartner, Naturrecht und Toleranz. Untersuchungen zur Erkenntnistheorie und politischen Philosophie bei John Locke, Würzburg 1979.
[8] Philip Esler, ‘Jesus und die Reduzierung von Gruppenkonflikten: Das Gleichnis vom barmherzigen Samaritaner im Rahmen der Theorie der sozialen Identität’, in Wolfgang Stegemann / Bruce J. Malina / Gerd Theissen (Hg.), Jesus in Neuen Kontexten, Stuttgart 2003, 197-211.
[9] Siehe die wichtigen Bemerkungen von Rowan Williams, Does it make sense to speak of pre-Nicene orthodoxy?, in: ders. (Hg.), The Making of Orthodoxy,  Cambridge 1989, 1-23
[10] Bezalel Porten, Archives from Elephantine. The Life of an Ancient Jewish Military Colony, Berkeley 1968.
[11] Clifford Geertz, Religion as a Cultural System, in: Donald R. Cutler (Hg.), The Religious Situation, Boston 1968, 639-688.
[12] In Extremfällen geschieht dies durch den Prozeß der Konstruktion von signifikanten, doch letztlich wenig hilfreichen ‘Binäroppositionen’ – wie etwa ‚protestantisch’ und ‚katholisch’. Eine Illustration der Aufrechterhaltung solcher Oppositionen als soziale Konstrukte findet sich in Michael Wheeler, The Old Enemies. Catholic and Protestant in nineteenth-century English culture, Cambridge 2006.
[13] S. Alexander Haslam / Craig  Mcgarty / John C. Turner, Salient group memberships and persuasion. The role of social identity in the validation of beliefs, in: Judith L. Nye / Aaron. M. Brower (Hg), What’s social about social cognition? Research on socially shared cognition in small groups, Thousand Oaks 1996, 29-58
[14] Hierzu siehe Christoph Danz, Dogmatik als Differenzhermeneutik. Überlegungen zur Funktion moderner Systematischer Theologie im Anschluß an Ernst Troeltsch, in: Kerygma und Dogma 47 (2001), 210-26.
[15] Siehe z.B. Werner Neuer, Der Zusammenhang von Dogmatik und Ethik bei Adolf Schlatter. Eine Untersuchung zur Grundlegung christlicher Ethik, Gießen 1986.
[16] Niklas Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt  a.M. 1982, 59-61. Eine kritische Auseinandersetzung mit solchen Anliegen findet sich in Wolfhart Pannenberg, Religion in der säkularen Gesellschaft. Niklas Luhmanns Religionssoziologie, in: Evangelische Kommentare 11 (1978), 99-103.
[17] Lindbeck ist sich zumindest einiger der sozialen Funktionen der Dogmatik bewusst, siehe George Lindbeck, The Nature of Doctrine, Philadelphia 1984, 74. Lindbecks zugrundeliegende Idee ist, dass die Dogmatik die Sprache der christlichen Gemeinschaft reguliert: eine ähnliche Idee findet sich in den Arbeiten von Ingolf Dalferth, siehe Helmut Hoping, Dogmatik als Grammatik des Glaubens? Zum Dogmatikkonzept Ingolf U Dalferths, in: Catholica 49 (1995), 163-173. Eine kritische Besprechung von Lindbecks kohärenztheoretischem Verständnis von Dogmatik findet sich in Alister E. McGrath, A Scientific Theology, Bd. 2: Reality, London 2002, 38-54.
[18] Dieses Muster wurde erfasst und besprochen in Wayne Meeks hervorragender Untersuchung der sozialen Realitäten der paulinischen Gemeinschaften im neuen Testament: siehe Wayne A. Meeks, The First Urban Christians. The Social World of the Apostle Paul, New Haven 1983, 84-103.
[19] Wiederum Meeks, aaO, 150-162, folgend, siehe die soziale Rolle des Herrenmahls in frühen paulinischen Gemeinschaften.
[20] Ulrich Schmid, Marcion und sein Apostolos. Rekonstruktion und historische Einordnung der marcionitischen Paulusbriefausgabe, Berlin 1995.
[21] Siehe z.B. Francis Watson, Paul, Judaism and the Gentiles. A Sociological Approach, Cambridge 1986, 49-87.
[22] So Watson, aaO, 178.
[23] R. A. Markus, The Problem of Self-Definition. From Sect to Church, in: Ed P. Sanders (Hg.), Jewish and Christian Self-Definition, Bd. 1: The shaping of Christianity in the second and third centuries, London 1980, 1-15.
[24] Wayne A. Meeks, The Stranger from Heaven in Johannine Sectarianism, in: Journal of Biblical Literature 91 (1972), 44-72.
[25] Meeks, The First Urban Christians, 84-107.
[26] Wichtige Ausnahmen dürfen natürlich nicht übersehen werden, so z.B. die ägyptische monastische Bewegung: Derwas J. Chitty, The Desert a City.  An Introduction to the Study of Egyptian and Palestinian Monasticism under the Christian Empire, Crestwood 1995.
[27] Tertullian, Apologia, 42.
[28] Georg Günter Blum, Tradition und Sukzession. Studien zum Normbegriff des Apostolischen von Paulus bis Irenaeus, Berlin 1963.
[29] Stanley L. Greenslade, Heresy and Schism in the Later Roman Empire, in: Derek Baker (Hg.), Schism, Heresy and Religious Protest, Cambridge 1972, 1-20.
[30] Siehe die Schlußfolgerungen von Alan Kreider (Hg.), The Origins of Christendom in the West, Edinburgh 2001.
[31] Siehe Rowan Williams, Arius. Heresy and Tradition, London 2001, 48-81.
[32] Einige der relevanten Themen sind erörtert in Scott L. Waugh / Peter D. Diehl, Christendom and its Discontents. Exclusion, Persecution, and Rebellion, 1000-1500, Cambridge 1996.
[33] Othmar Hageneder, Der Häresiebegriff bei den Juristen des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Willem Lourdaux / Daniel Verhelst (Hg.), The Concept of Heresy in the Middle Ages, Louvain 1978, 42-103.
[34] Dies wird unterstrichen von Giuseppe Alberigo, I vescovi italiani al Concilio di Trento (1545-1547), Florenz 1959.
[35] Einige Aspekte dieses Prozesses werden besprochen in Alister E. McGrath, Justification and the Reformation. The Significance of the Doctrine of Justification by Faith to Sixteenth Century Urban Communities, in: Archiv für Reformationsgeschichte 90 (1990), 5-19.
[36] Siehe z.B. Conradin Bonorand, Vadians Weg vom Humanismus zur Reformation und seine Vorträge über die Apostelgeschichte (1523), St. Gallen 1962; Ernst Ziegler, Zur Reformation als Reformation des Lebens und der Sitten, in: Rorschacher Neujahrsblatt, 1984, 53-71.
[37] Patrick Collinson, The Birthpangs of Protestant England. Religious and Cultural Change in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, Basingstoke 1988, 1-27.
[38] Siehe z.B. Wolfgang Zimmermann, Rekatholisierung, Konfessionalisierung und Ratsregiment. Der Prozess des politischen und religiösen Wandels in der österreichischen Stadt Konstanz, 1548-1637, Sigmaringen 1994; Michael G. Müller, Zweite Reformation und städtische Autonomie im königlichen Preußen. Danzig, Elbing und Thorn in der Epoche der Konfessionalisierung (1557-1660), Berlin 1997.
[39] Siehe z.B. Gottfried Adam, Der Streit die Prädestination im ausgehenden 16. Jahrhundert. Eine Untersuchung zu den Entwürfen von Samuel Huber und Aegidius Hunnius, Neukirchen 1970.
[40] Siehe Geoffrey Wainwright, Ecumenical Dimensions of George Lindbeck’s ‘Nature of Doctrine’, in: Modern Theology  4 (1988), 121-32; Charles Morerod, Dogmes et oecuménisme, in: Nova et vetera 78 (2003) 29-61.
[41] Eine kritische Betrachtung findet sich in Eberhard Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens. Eine theologische Studie in ökumenischer Absicht, Tübingen 1998.

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