Fazakas

Sándor Fazakas

Versöhnung als Modell der historischen Aufarbeitung? [*]


Das „Jahrhundert der Vergebung“[1] – so nannte um die Jahrtausendwende der Philosoph Jacques Derrida in einem Interview das ausgehende 20. Jahrhundert und verlieh so seiner Gewissheit Ausdruck, dass die uneingeschränkte Macht der Vergebung bzw. des Verzeihens gegenüber einem Missbrauch des Begriffs Versöhnung bestehen könne. Während „Versöhnung“ in vielen Ländern Europas zu einem strategischen und politischen Angebot geworden ist zur Wiederherstellung des gesellschaftlichen Friedens oder der nationalen Einheit, sucht Derrida die Möglichkeit des Vergebens bzw. des Verzeihens im Angesicht des Unverzeihlichen, des Unverjährbaren, des Unsühnbaren, des Nicht-wieder-gut-zu-Machenden.

In der Tat, „Versöhnung“ ist in vielen Gesellschaften zu einem universalen Idiom der Politik, der Diplomatie und der Ökonomie geworden, insbesondere unter dem Druck einer Internationalisierung der Lebensführungen und der Globalisierung der Märkte. Aber der andauernde Anspruch auf Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit in den Reihen vieler europäischer Völker, die Fülle kollektiver Traumata sowie die Pluralität und Divergenz von Erinnerungskulturen deuten auf die Unhaltbarkeit einer unreflektierten und unkritischen Versöhnungspraxis hin. Inzwischen wächst nicht nur die Einsicht, dass die Verbrechen des vorangegangenen Jahrhunderts auf ungeheuerliche, man könnte fast sagen: unverzeihliche, Weise begangen worden sind, sondern heute können sie auch in einer früher nicht gekannten Form benannt, dargestellt und veranschaulicht werden. Aufgrund der technischen Möglichkeiten können diese Untaten nicht nur archiviert oder in Erinnerung gerufen, sondern auch allgegenwärtig gemacht werden. Erinnerung und Gedächtnis bilden die konstante Dimension unseres gesellschaftlich-politischen, aber auch privaten Daseins.

Damit stellt sich die Frage: Wie verhalten sich Versöhnung und Aufarbeitung zueinander? Kann man eine Zuordnung zwischen den beiden Begriffen mit den Konjunktionen „und“, „als“, „statt“, „oder“ etc. vornehmen? Und könnte Versöhnung überhaupt als ein Modell der historischen Aufarbeitung plausibel gemacht werden?

Diese Fragestellung ruft – für Deutschland und für den ganzen ostmitteleuropäischen Raum - weitere Begriffe und Wörter hervor: „Geschichtsdeutung und Geschichtsvermittlung“, „Vergangenheitsbewältigung“, „Erinnerungsarbeit oder Gedächtniskultur“, „Aktenöffnung“ bzw. „Lustration“ usw. Aber die damit verbundene Frage ist unumgänglich: Kann eine „Strategie des Vergessens“ Versöhnung mit der belastenden Vergangenheit oder zwischen den Akteuren dieser Vergangenheit bewirken? Oder wird erst eine sorgfältige Aufarbeitung der Vergangenheit Perspektiven für die Zukunft eröffnen? Hinsichtlich einer solchen sind die von Timothy Garton Ash gestellten „einfachen, aber großen Fragen“ [2] angesichts der totalitären Regime und Diktaturen des 20. Jahrhunderts in Europa nicht zu vermeiden: nämlich ob solche Geschichten überhaupt aufgearbeitet werden sollten und, falls ja, wann der geeignete Zeitpunkt dafür gekommen sei. Gemeint ist der für eine solche Aufarbeitung bzw. Erinnerung nötige zeitliche Abstand, um eine daraus resultierende innere Zerrissenheit der Gesellschaft zu vermeiden. Und auf die dritte Frage, wie und auf welche Weise die Geschichte der jüngsten Vergangenheit vor der Wende 1989/1990 „aufgearbeitet“ werden soll, können die europäischen Völker und Gesellschaften auf verschiedene Anschauungsmodelle und Wege (Justizweg, Lustration, Aufstellung von Wahrheitskommissionen, Aktenöffnung etc.) verweisen. Ich werde auf die Analyse bzw. Vorstellung dieser Wege und Modelle nicht eingehen, möchte aber darauf hinweisen, dass gerade diese Vergangenheit sich – laut einer kirchlichen Stellungnahme[3] ? im kollektiven Gedächtnis der europäischen Völker tief eingegraben hat und nun wiederkehrt als drängende Frage nach Gerechtigkeit, als Sehnsucht nach einer besseren Welt und als Schmerz über bleibende Verluste. In der Tat: Die Belastung und die Verluste durch den Terror, die Kriege und die unmenschlichen Herrschaftsstrukturen können nicht einfach aufgehoben oder in ein harmloses Ressentiment umgedeutet werden. Anders als bei biologischen Heilungsvorgängen bewahrt die Erinnerung, was nicht aufhört zu schmerzen. Aufarbeitung der Vergangenheit ist also immer eine schmerzliche Arbeit. Natürlich lässt sich die Frage stellen: Welches sind die Voraussetzungen dafür, dass die Beschäftigung mit der Vergangenheit nicht zu erneutem Streit oder Zwiespalt in der Gegenwart führt, sondern wirklich mehr Versöhnung und Frieden stiftet?

Im Folgenden möchte ich darauf hinweisen, warum historische Aufarbeitung und Versöhnung aufeinander angewiesen sind, welches die Voraussetzungen (m. E.) einer nicht-instrumentalisierbaren Versöhnungsarbeit darstellen und welches die spezifisch theologisch-ethischen Anhaltspunkte sind, die zu diesem Prozess beitragen könnten? 


1. Versöhnung – eine unmögliche Möglichkeit?

Wie schon angedeutet, hat „Versöhnung“ im gesellschaftlich-politischen Kontext sowie im Alltagsleben einen guten Klang. Der Begriff erweckt den Eindruck, als seien die Konflikte der Vergangenheit völlig aufgehoben, die Wahrheit aufgeklärt und die Verwirklichung einer neuen, gerechteren Gesellschaft stehe vor der Tür. Öffentliche Entschuldigungen haben Konjunktur: So konnte der amerikanische Präsident sich bei den Völkern Afrikas wegen des Sklavenhandels entschuldigen; Staatsmänner früher verfeindeter Großmächte geben sich die Hand auf Militärfriedhöfen; Kirchenleitende entschuldigen sich wegen Verbrechen in der Vergangenheit oder bei den Opfern kirchlicher Missbrauchsfälle… Öffentliche Entschuldigungen werden zumeist heftig diskutiert, manche halten sie für politische Bußrituale oder für einen Akt der Zivilreligion im Dienste der Tages- bzw. der Außenpolitik. Ich bin aber der Meinung, dass auch symbolische Gesten, wie z. B. Willy Brandts Kniefall am Warschauer Ghetto oder die Kranzniederlegung  Papst Johannes Paul II. 1991 in Debrecen beim Denkmal der Galeerengefangenen, nicht gering geschätzt werden dürfen. Versöhnung ist jedoch kein einmaliger Akt, sie ist vielmehr ein Prozess zwischen Menschen oder Gruppen, der in Gang gesetzt werden sollte und der nicht nach einem allgemeinen und abstrakten Schema verläuft. Versöhnung bedarf ja mehrerer Schritte: Bei der Aufdeckung der Wahrheit etwa geht es um die Wiederherstellung der Selbstachtung des Individuums oder einer Gemeinschaft; die Suche nach mehr Gerechtigkeit zielt auf die Wiederherstellung der gegenseitigen Achtung.

Doch Versöhnung hat nicht nur mit der Aufklärung der historischen Wahrheit oder mit der Aufhebung zwischenpersönlicher Konflikte – etwa zwischen ehemaligen Tätern und Opfern oder deren Nachkommen – zu tun. Versöhnung bedeutet, und hier möchte ich meine diesem Vortrag zugrundeliegende These aufstellen, die existentielle Bearbeitung von Schuld; sie setzt – in theologischer Perspektive – Schuldwahrnehmung und Vergebung voraus. Ohne diese Bearbeitung von Schuld ergäbe es keinen Sinn, über Versöhnung zu reden.

Beide Begriffe sind höchst problematisch und ich kann mir durchaus vorstellen, dass sich das Aufeinanderbezogen-Sein beider Begriffe einfach bestreiten lässt mit der Annahme, es gebe eine Dimension von Schuld, die einfach nicht vergeben bzw. nicht verziehen werden kann – die man nicht einmal strafrechtlich zu erfassen vermag! Die Geschichte des Grauens kann nicht einfach ad acta gelegt und an Archive und Bibliotheken übergeben werden. Das ist richtig! Die öffentliche Erinnerung macht aus diesen Untaten ohnehin eine permanente Dimension unseres Gemeinwesens – auch wenn die Akteure jener Zeiten, seien es die Opfer oder die Täter, nicht mehr oder bald nicht mehr unter uns sind. Andererseits bedarf auch die Erinnerungskultur immer wieder der Entmoralisierung und Depolitisierung. Die Forderung, die Verknüpfung von Erinnerung und Schuldvorwurf aufzuheben, ist nicht zu überhören. [4] Man könnte fast sagen: Eine diesbezügliche Wende und zugleich Herausforderung in der europäischen Erinnerungskultur könnte eine unentbehrliche Voraussetzung für gelungene Versöhnungsarbeit sein – denn würde der Verzicht auf den Schuldvorwurf die Schuld aus der Welt räumen? 

Nicht von ungefähr wendet sich die Philosophie des 20. Jahrhunderts, unter anderem Hannah Arendt, Vladimir Jankélévitch und Jacques Derrida dem Gedanken des Verzeihens zu. Die genannten Philosophen gingen davon aus, dass Vergebung eine menschliche Möglichkeit bleiben muss. Menschliche Möglichkeit bleibt das Verzeihen, wenn eine Alternative dazu gestellt ist, z. B. die Strafe (nicht die Rache, sondern die strafrechtliche Vergeltung). Die einzige echte Alternative zur Vergebung ist – laut H. Arendt – die Strafe, weil beide „etwas zu beenden suchen, was ohne diesen Eingriff endlos weitergehen würde. Es gehört zu den elementaren Gegebenheiten der menschlichen Angelegenheiten, dass wir außerstande sind zu verzeihen, wo uns nicht die Wahl gelassen ist, uns auch anders zu verhalten und gegebenenfalls zu bestrafen…“[5] Ohne diese Möglichkeit der Strafe oder des Verzeihens bliebe nur noch die Rache, die niemals zu einem Ende kommen würde ohne diese von außen gesetzte Grenze. Sowohl Strafe als auch Vergebung befreien von der Rache – hier können wir H. Arendt zustimmen. Diese Gegebenheit ist nicht einfach eine Rückbesinnung auf archaische Lebenszusammenhänge in der Antike bzw. in biblischen Zeiten – sie ist zu beachten in den sich ständig steigernden und jederzeit entstehenden menschlichen Schuldkonstellationen und Konfliktsituationen. Verzeihen ist eine menschliche Möglichkeit, die der Eskalation der Konflikte rechtzeitig ein Ende setzen könnte. Dazu könnten Psychotherapie und Psychoanalyse reichlich Belege liefern. Aber was soll mit den Verbrechen und Untaten geschehen, die sich als nicht bestrafbar herausstellen, die entweder unwiderruflich oder nicht wieder gut zu machen sind (wie etwa der Holocaust oder andere Verbrechen gegen die Menschheit und die Menschlichkeit), oder einfach bei denjenigen Taten, bei denen man auf das strafrechtliche Rückwirkungsverbot (nulla poena sine lege) stößt? (Dabei geht es weder um einen qualitativen noch um einen quantitativen Vergleich der Verbrechen aus der Vergangenheit.) Wie wird Vergebung möglich von dem Moment an, wenn das Verbrechen nicht mit einer angemessenen Strafe bestraft werden kann, wenn es um eine unverjährbare Sünde gegen die Menschheit geht? Wenn man nicht einmal weiß, wem man die Schuld geben oder wen man anklagen soll, weil jeder schuldig ist und niemand schuldig ist, weil die Schäden buchstäblich nicht wieder gut zu machen sind? Wenn es nicht einfach um einen „Kriegsgräuel“ geht, sondern um ein „Werk des Hasses“[6], das sich jedem Vergleich mit anderen Untaten und Massakern entzieht, weil es um das Unaussprechliche geht? Jankélévitch meint, hier habe man die Dimension des Unsühnbaren erreicht.[7] Das Vergeben hätte dort keinen Sinn mehr, wo Verbrechen wie der Holocaust „nicht wieder gut zu machen“, unverjährbar, mehr noch, „unsühnbar“ seien. Er stellt lapidar fest: „Das Verzeihen ist in dem Todeslager gestorben“[8], der Gedanke der Vergebung sei also hinfällig. Ohne Zweifel gibt Jankélévitch einen wichtigen Gesichtspunkt zu bedenken, nämlich, dass der Gedanke des Verzeihens nicht automatisch gefördert werden kann, wo die Schuld schlechthin maßlos ist und sich jeder Wiedergutmachung entzieht. Was ihm aber nicht gelungen ist, ist, über Schuld konkret und über Schuldige ohne Pauschalurteile zu reden sowie die Tatsache zu erkennen, dass eine „Vererbung der Opfer- und der Täterstatus“ auf die folgenden Generationen äußerst problematisch ist. Anhand verschiedener biografischer Berichte wissen wir, dass es dem Philosophen lange Zeit nicht gelungen ist, über dieses Pauschalurteil hinauszukommen[9],  und auch wenn er nach einer Weile geneigt war, mit Deutschen Kontakt aufzunehmen und ihnen sogar im familiären Kreis zu begegnen, vermied er doch systematisch jedes Gespräch über die Vergangenheit.[10]

Spätestens dann muss man doch mit der unmöglichen Möglichkeit rechnen, wenn die folgenden Fragen nach Klärung drängen: Wer vergibt und wem wird vergeben? Wer vergibt was: Wird etwas vergeben oder jemandem vergeben? Vergibt man eine Untat, ein Verbrechen bzw. eine Handlung oder vergibt man einer Person, dem Täter, den man für verantwortlich oder schuldig hält? Und bittet man das Opfer bzw. stellvertretend die Nachkommen der Opfer oder eine Gemeinschaft oder Gott um Vergebung? Hat die Bitte um Vergebung bzw. um Verzeihung und damit das Streben nach Versöhnung keinen Sinn mehr, wo Schuld und Verbrechen nicht mehr zugewiesen werden kann, mindestens nicht an eine Person oder Personengruppe?

Hannah Arendt versucht etwas differenzierter damit umzugehen, wenn sie das „personale Element“ in diesem Zusammenhang betont. Beim Verzeihen – so sagt sie – werde „zwar eine Schuld vergeben […], diese Schuld [steht] aber sozusagen nicht in Mittelpunkt der Handlung […], in ihrem Mittelpunkt steht der Schuldige selbst […]. Das Vergeben bezieht sich nur auf die Person und niemals auf die Sache.“ Das ist ja möglich aufgrund der Achtung der Person und der Tatsache, dass das „Vergeben und die Beziehung, die der Akt des Verzeihens etabliert, […] stets eminent persönlicher Art“ sind, weil das Verzeihen „die gleichen Bezug-stiftenden Charaktere aufweist wie das Handeln selbst“[11]. Diese Achtung der Person gilt unabhängig von den Eigenschaften der Person und dieser Respekt bildet die Motivation, jemandem zu vergeben, nicht aufgrund dessen, was er gemacht hat, sondern um dessentwillen, der er ist. Diese differenzierte Betrachtung des Verzeihens mag befreiend sein in einer Zeit der zunehmenden Entfremdung und Entpersonalisierung des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens, funktioniert aber nach H. Arendt nur dann, wenn eine Handlung rückgängig gemacht werden kann, und nicht gegenüber dem „radikalen Bösen“ ? dieses letztere erkennt man daran, dass dessen Untaten weder bestraft noch vergeben werden können. Hier wird Vergebung nicht mehr möglich sein und Versöhnung stößt anscheinend an ihre Grenzen.

Über diese Unmöglichkeit hinaus versucht J. Derrida, über die „Vergebung des Unverzeihlichen“ als eine Ausnahme, ja als ein Paradoxon zu sprechen. Vergebung „sollte weder normal noch normativ oder normalisierend sein. Sie sollte Ausnahme und außergewöhnlich bleiben, als Erprobung des Unmöglichen.“[12] Das Verzeihen des Verzeihlichen ist durchaus normal, es ist nichts Besonderes, wenn man den Anspruch auf mehr Humanität, Mitmenschlichkeit, solidarische Nähe im gemeinschaftlichen Alltagsleben ernstnimmt. Die eigentliche Herausforderung liegt vielmehr in dem paradoxen Ansinnen, das Unverzeihliche zu verzeihen. Ich bin mir dessen bewusst, dass eine jede und ein jeder nachdenken und hierzu Beispiele aus dem Alltag oder aus der persönlich gelebten Geschichte vorbringen kann. Nehmen wir aus der Zeit des unlängst verabschiedeten kommunistisch-totalitären Regimes das Beispiel einer scheinbar glücklich erlebten und normal geführten Ehe. Wenn nach dem Ende des politischen Systems der eine Ehepartner mit Entsetzen feststellen musste, dass der andere ein Spitzel für die Staatssicherheit war, dass der geliebte Mann, die eigene Frau während der gemeinsamen Zeit über den Partner Berichte verfasst und weitergegeben hat, dass die ganze Ehe nur ein Schauspiel war - sprengt eine solche Erfahrung nicht die Vorstellungskraft? Geht es hier nicht um das Unverzeihliche – und wäre es nicht völlig verrückt, angesichts dieser Grenze an die unmögliche Möglichkeit bzw. an das Verzeihen zu denken – allem zum Trotz?

Derrida gibt zu: Der Horizont der Transzendenz ist hier unumgänglich. Auch wenn bezüglich der geschichtlichen Verbrechen aus der Hölle totalitärer Regime des 20. Jahrhunderts der juristische Begriff „Das Unverjährbare“ die Einzigartigkeit der Verbrechen gegen Menschheit und Menschlichkeit feststellt, bleibt doch die Schwierigkeit bezüglich des Umgangs mit der Schuld ungelöst. Denn auch wenn die Unverjährbarkeit eines Verbrechens aufrechterhalten und damit der Anklage keine Grenze gesetzt wird, kann doch zugleich dem Schuldigen vergeben werden. Und umgekehrt: Man kann einen Angeklagten juristisch freisprechen – und ihm doch die Vergebung verweigern. Das Unverjährbare ist noch lange nicht gleichbedeutend mit dem Begriff des Unverzeihlichen. Es gibt also eine Dimension des Vergebens, deren Gesetz jenseits aller Gesetze, deren Recht jenseits des Rechtes steht – und an dieser Stelle weist Derrida auf die theologisch-religiöse Tradition des Abendlandes hin, oder anders ausgedrückt: Beim Paradoxon der Vergebung des Unverzeihlichen hat man es mit der göttlichen Souveränität zu tun, mit einem Prinzip – so Derrida –, das jedem Rechtssystem der Gesellschaft zugrundeliegt. Der Unterschied ist nur, ob dies auf säkularisierte oder bewusst religiös-spirituelle Weise wahrgenommen wird. Selbst die Unverjährbarkeit als juristischer Begriff berührt den Horizont der Ewigkeit, der Apokalyptik, des Jüngsten Gerichtes – also ein Hinweis auf eine Geschichte, die jenseits unserer Geschichte liegt.


2. Versöhnung ist auf Aufarbeitung angewiesen

Es ist also an der Zeit, nach den theologischen Akzenten der Vergebung an dieser Stelle zu fragen. Die Komplexität und Mehrdimensionalität christlicher Vergebungspraxis und kirchlicher Versöhnungsbotschaft drückt die bekannte Bitte des Vaterunsers am deutlichsten aus: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“ (Mt 6,9) Hier wird in einem Atemzug über Schuld (als Handeln), über Schuldige (also eine Person bzw. Personen), über den „intimsten Vorgang der Vergebung“[13] zwischen Menschen und nicht zuletzt über die Stellung des Menschen vor Gott gesprochen. Unterschiede und Zusammenhänge müssen hier wahrgenommen werden, weil es einerseits einen Unterschied zwischen Identifizierbarkeit von Schuld und Identifizierbarkeit des schuldigen Menschen gibt (wie auch Hannah Arendt zwischen Sachebene und persönlicher Betroffenheit differenzieren konnte); andererseits ist der enge Zusammenhang zwischen Gottes Barmherzigkeit, der Schulderkenntnis und der Bereitschaft des Menschen zur Vergebung nicht zu relativieren, auch wenn für diesen Zusammenhang in der Alltagspraxis wenig Verständnis (auch unter Christen) zu finden ist.

Es gibt keine Differenz zwischen den theologischen und philosophischen, politischen oder juridischen Annäherungen darin, dass die Zeit der unerhörten Verbrechen des 20. Jahrhunderts, die von totalitären Regimen begangenen Morde, der Terror, die Menschenrechtsverletzungen usw. als eine Geschichte der Schuld zu betrachten seien. Kontrovers wird jedoch die Frage diskutiert, wie man von dieser Schuld frei wird. Gibt es über eine konkret-persönliche Verantwortlichkeit für Schuld hinaus eine Schuldhaftung der jeweiligen Nachgeborenen, des Kollektivs bzw. der Gemeinschaften? Was braucht man für ein Klima der Versöhnung, um die Lebensperspektive der Belasteten zu ermöglichen?

Sozialpsychologische Analysen[14], kulturanthropologische Studien[15] sowie literarische Meisterwerke belegen, wie erschütternd die Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit oder mit der historischen Schuld ist, wie Verleugnungsmechanismen, Schuldabwehr, Selbstrechtfertigung auf den Plan treten, wo mehr Einsicht gefordert wird. Stellvertretend für viele Beispiele, die diese Problematik darstellen, möchte ich einen Fall aus der ungarischen Vergangenheit zitieren, aus dem kürzlich erschienenen Buch des jüdischen Schriftstellers Péter György, der – wie der Titel seines Essays[16] auch zeigt – an der Stelle seines Vaters Rechenschaft über die belastende Vergangenheit nach 1945 ablegen möchte. Der Vater konnte als 18-Jähriger aus dem Zwangsarbeitslager (Bor) entkommen, wollte aber niemals über seine Vergangenheit und über seine Erfahrungen reden (obwohl er damals Tagebuch geführt hatte). Er hat versucht, sich in der neuen Gesellschaft einzurichten und ein völlig neues Leben zu führen, ohne die identitätsprägenden Erinnerungen und die daraus resultierende Option für die Gegenwart zu pflegen. Das gelang ihm nur, weil das sozialistische Kádár-Regime den gesellschaftlich-ideologischen Kontext dazu bildete, in dem die totale Amnesie die Legitimationsbasis des Systems war. Das Versprechen dieses Regimes lautete: Die Zeit der „Herrschaften“ ist endgültig vorbei, wir lassen die Toten ihre Toten begraben, wir haben die Gegenwart und die Zukunft völlig im Griff. Und da entstand – unverständlicherweise kurz nach dem blutigen Niederschlag des Volksaufstandes 1956 – im Mai 1957 eine merkwürdige, aber nie im Wortlaut geäußerte Vereinbarung, ich würde lieber sagen: ein „Vertrag“, zwischen Regierenden und Regierten: Mich geht eure Vergangenheit nichts an, ich gewähre euch Geborgenheit und Wohlergehen, dafür fragt ihr nicht nach meiner Legitimität… Eine Verständigung, die weder Erinnerungspolitik noch Trauer kennt, stattdessen nur die permanente Gegenwart anbietet und eine neue (selbstgewählte oder stilisierte) Identität ermöglicht, für welche die Ereignisse der Vergangenheit (und damit die Institutionen dieser Vergangenheit) keine Relevanz mehr haben, doch mittels derer der Einzelne Zuversicht genießt…        

Ja, es gibt auch ein Recht auf Schweigen und auf Nicht-wissen-Wollen des Einzelnen, vielleicht wegen der Unaussprechlichkeit des Erfahrenen; und es gibt das Streben danach, sich eine völlig neue Biographie zu konstruieren, es gibt die Angst um die Kontinuität des eigenen Lebenslaufes, eine komplizenhafte Vereinbarung und gegenseitiges Wegsehen zwischen den Akteuren des gesellschaftlichen Lebens ? ob dies aber auf Dauer funktionieren kann, ist mehr als fragwürdig. Angesichts vielfältig begangenen Unrechts und der Konsequenzen der „kriminellen, politischen und moralischen Schuld“[17] in der Geschichte lässt sich die Forderung nach mehr Gerechtigkeit, Sühne und Wiedergutmachung nicht unter den Teppich kehren. Die Frage bleibt und drängt auf Klärung: Wer vergibt, wem wird vergeben und was wird vergeben?

Ist also Vergebung möglich und, wenn ja, welches sind die Voraussetzungen dafür?

Das Reden über Schuld muss konkret sein. Das Zusammenleben der Menschen kann nämlich nur dann gelingen, wenn Schuld identifiziert und zugewiesen wird, wenn der Einzelne dafür verantwortlich gemacht werden kann. Ohne diese Zuweisung, Konkretisierung bzw. Identifizierung wird die Schuld zur „undefinierbaren Schuld“, die zur Lähmung und Auflösung menschlicher Gemeinschaften führt. Die „undefinierbare Schuld“ bietet keinen Ausweg, sie ist nur an der Moralisierung und ständigen Behaftung der Schuldigen interessiert. So könnte man Gruppen, nachkommende Generationen oder Völker fortwährend beschuldigen, bei ihnen dauerhaft ein schlechtes Gewissen hervorrufen und ihnen jedes Recht auf eine Befreiung, ja auf ein Heraustreten aus dem Schatten der Vergangenheit absprechen. Ohne diese Konkretion gibt es keine richtige Schuldwahrnehmung, keine Bearbeitung der Schuld und keine Hoffnung auf Vergebung bzw. auf Versöhnung, nur noch eine Behaftung der politischen Gegner, der gestrigen oder heutigen Feinde, der Menschen also in ihrem schicksalhaften Verhängnis. 

Die theologische Sicht spricht über Schuld nicht als Verhängnis und nicht als Schicksalhaftigkeit, sondern im Zusammenhang mit der Befreiung! Der evangelische Theologe Gerhard Sauter[18] weist darauf hin, dass vom antiken griechischen Theater bis in die neuzeitliche Literatur hinein (z. B. Henrik Ibsen und Jean-Paul Sartre) dieser Faden der Ausweglosigkeit aus dem schuldhaften Schicksal zu spüren ist: eine Verstrickung ohne Ende, eine soziale, politische und kulturelle Bedingtheit des Menschen, aus der dieser nicht mehr gelöst werden kann. Die biblische Tradition verbindet aber die Frage der Schuld mit der göttlichen Rettung. Wo Schuld vor dem weltlichen Forum Strafe zur Folge hat, sucht die biblische Botschaft einen Ausweg aus der schuldhaften Situation. Das bedeutet längst nicht, dass die Sünde verharmlost und die weltliche Strafe bzw. Schuldverfolgung relativiert wird, aber es bezeugt die Unzulänglichkeit der Schuldvorwürfe, der Abwehrmechanismen, der Selbstrechtfertigung und Schuldleugnung. Diese bewirken nämlich keine Befreiung; die Vergangenheit wird den Menschen früher oder später einholen. Nur die Erkenntnis der Sünde und ein Sündenbekenntnis können diesem Prozess ein Ende setzen und, indem man mit Gottes Barmherzigkeit rechnet, darf man einen Ausweg betreten. Anders gesagt, wenn es menschlicherseits überhaupt eine Voraussetzung für Vergebung und damit für Versöhnung gibt, dann nur diese eine: die Erkenntnis der Sünde und der Schuld.

Was die Erkenntnis der Schuld in concreto heißt, das muss erkundet, analysiert und von Fall zu Fall aufgeklärt werden. Hier kommt der Aufarbeitung der Vergangenheit eine für die Versöhnung relevante und unausweichliche Bedeutung zu: Keine Versöhnung ohne Aufarbeitung! Ich möchte hier nicht über seelisch-psychologische Vorgänge wie etwa Trauerarbeit oder die Bewältigung von traumatischen Erfahrungen berichten. Diese gehören unter Umständen auch dazu und sind durchaus (wie Versöhnungsmodelle etwa in Südafrika gezeigt haben) wichtig.

Ich beschränke mich nur auf einen, aus der Perspektive der Schulderkenntnis relevanten Aufarbeitungsaspekt und möchte uns vor die Frage stellen: Kann eine wissenschaftlich-kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit heilende Versöhnung bewirken? Nehmen wir als Beispiel die Öffnung der Akten mit dem Anspruch einer wissenschaftlich-publizistischen Aufarbeitung der Vergangenheit. Ich weiß, dass Deutschland auf diesem Feld viel weiter ist als andere ostmitteleuropäische Gesellschaften. Hier hat man schon die Erfahrung gemacht, dass die „massenhafte Veröffentlichung menschlichen Versagens […] keine heilsamen Erkenntnisse“ bringt.[19] In Ungarn wird heute immer noch darüber diskutiert, welcher Gewinn oder Schaden dadurch bewirkt wird: Wird das Unrechtssystem aufgeklärt und durch kollektiv-historisches Wissen über die Vergangenheit endlich verabschiedet oder wird der individuell-wissenschaftliche Ehrgeiz einzelner Forscher eher den Sensationshunger der Medien und der Öffentlichkeit befriedigen? Zu den wirklichen Mängeln solcher Aktenöffnung und Veröffentlichungen ist die Tatsache zu zählen, dass eine Arbeit ohne quellenkritische Sorgfalt, ohne historisches Einfühlungsvermögen und ohne Befragung der beteiligten Zeitzeugen den sozialen Frieden eher gefährdet als bewirkt. Professionelle Zeitgeschichtsschreibung muss es geben – die Frage ist nun, mit Timothy Garton Ash gesprochen: Wann und wie? Ich bin der Meinung: Nicht erst dann, wenn die Zeitzeugen gestorben sind! Die Wahrheit, auch die historische Wahrheit, kennt einen persönlich-subjektiven Aspekt (Gruppe von Menschen, Zeitzeugen, die sich erinnern – oral history) und einen (möglichst) objektiven, durch professionelle Forschungsarbeit gewährten Zugang zu den Ereignissen. Bei diesem letzteren ist nun ein verantwortungsvolles Vorgehen äußerst wichtig. Es darf nämlich nicht um eine schlichte „Reduktion“ der Geschichte „auf einzelne historische Ereignisse der Vergangenheit“ gehen, die dann nach aktuellen politischen, ideologischen oder Gruppeninteressen neu geordnet werden.[20] Die Aufarbeitung darf die Geschichte weder reduzieren noch konstruieren, sie darf aber die Ereignisse „rekonstruieren“, d. h. die Geschichte für den Zeitgenossen zugänglich, verstehbar, vergleichbar machen, ohne eigene Zutaten, möglichst objektiv und unbefangen. Und dadurch wird ein Zugang zu der konkreten Erkenntnis der schuldhaften Vergangenheit gewährt.

Diese Aufarbeitung und Forschungsarbeit darf noch einen weiteren Aspekt nicht vermissen lassen! Auch wenn darauf hingewiesen worden ist, dass es ohne Identifizierbarkeit und Konkretisierung der Schuld zu einem uferlosen und undefinierbaren Schuldbegriff kommt, ist nicht zu übersehen, dass auch mit einer Schuld auf überpersonaler Ebene zu rechnen ist. Hier geht es um die Einsicht, dass der Mensch nicht imstande ist, die Folgen seines Tuns und Unterlassens zu beeinflussen, zu kontrollieren, zu steuern oder für komplexe Prozesse Verantwortung zu übernehmen. Hier geht es um einen überpersonal-strukturellen Schuldzusammenhang im sozialen Kontext, der über eine eigene Dynamik verfügt und weitere personelle Schuldverstrickungen verursacht. Zum Sammelbegriff „geschichtliche Schuld“ bietet die Vergangenheit genug Anschauungsmaterial (etwa unter den Stichwörtern Schreibtischtäter, Befehlsträger oder, mit H. Arendt gesagt, der „Banalität des Bösen“). Aber die ökonomische Globalisierung mit ihren weitreichenden sozialen Folgen, die tragischen Unfälle bei Massenveranstaltungen oder die Umweltkatastrophen, für die niemand allein die Verantwortung tragen will, aber auch „handelnde kollektive Subjekte“ als solche strafrechtlich nicht fassbar sind, machen uns nachdenklich: Was ist Schuld und wie entsteht Schuld in der Geschichte und im sozialen Umfeld? Gibt es in diesen Fällen überhaupt so etwas wie Versöhnung? Hier besteht noch erheblicher Forschungsbedarf! Aber die Erfahrung von Schuld und Schuldverstrickung als innerweltliches und innergesellschaftliches Faktum, auch wenn dabei Wahrheitsmomente nicht zu bestreiten sind, darf nicht zu der Argumentation führen, dass der Mensch für solche ungerechten Strukturen keine Verantwortung trage. Es wäre verfehlt, aufgrund der Bestimmtheit des Menschen durch die Schuld anderer Menschen zu sagen: Ich war nur noch ein Rad in dem großen Werk, zumal wir schließlich alle Sünder sind. Vielmehr muss diese „Situiertheit“ des Menschen die Erkenntnis hervorrufen, dass wir es auch in der Frage der Schuld mit einer Dimension zu tun haben, die unsere eigenen Erfahrungen übersteigt[21] – genauso wie in dem Fall des Verzeihens oder der Unverjährbarkeit. Erkenntnis der Schuld ist ja auf konkrete Fakten, Analysen, kritische Untersuchungen und zugleich auf diese nüchterne Einsicht angewiesen. Die Sprache des christlichen Glaubens und der Theologie kennt diese „Situiertheit“ als die Stellung des Menschen vor Gott und betrachtet die Schuld als Sünde, als zerstörte Gottesbeziehung, aus der nur noch die göttliche Befreiung heraushelfen kann.

Aufarbeitung und Versöhnung sollten aber weiterhin – m. E. – aufeinander bezogen bleiben. Damit ist nicht weniger gesagt, als dass das Verhältnis zwischen Versöhnung und Aufarbeitung nicht als „Entweder/Oder“ konzipiert werden darf. Ralf K. Wüstenberg weist in einer vergleichenden Studie[22] zur südafrikanischen und deutschen Vergangenheitspolitik nach der Wende 1989/90 auf die Grenzen der jeweiligen Modelle hin mit der Frage: Versöhnung oder Aufarbeitung? Der südafrikanische Versöhnungsprozess konnte sich als gesellschaftspolitische Kraft durchsetzen und die Integration aller, der Täter und der Opfer zugleich, erzielen. Dabei hat man auf die strafrechtliche Verfolgung der Täter verzichtet, eine Amnestie durchgesetzt, die Wiedergutmachung nur auf die moralische Ebene begrenzt und sich um Kontinuität bemüht. Das Ziel „Neuanfang um jeden Preis“ hat zu einer durch politische Kompromisse entmachteten Versöhnungsvorstellung und -praxis geführt, aber die Schuldfrage wurde so nicht beantwortet. Der deutsche Prozess verlief genau umgekehrt – laut Wüstenberg –, gleichsam nach dem Motto: Man kann über die Toten an der Mauer hinweg keinen glaubwürdigen Neuanfang machen. Hier konnten Rechtsansprüche (bei allen Schwierigkeiten) doch geltend gemacht werden, eine wissenschaftliche Forschungsarbeit bis hin zu Detailanalysen konnte geleistet werden, doch eine gesellschaftliche Katharsis hat nicht eingesetzt. Gerade der geistlich-spirituelle Aspekt der Versöhnung kam nicht zum Zuge. Wüstenberg wünscht sich für die Einen „mehr Mut zu narrativen“ und sieht darin gute Initiativen in dieser Richtung, dass die betroffenen Zeitzeugen die Möglichkeit haben, ihre Erfahrungen weiterzugeben (oral history). Für die Anderen aber wünscht er sich „mehr Mut zu einer menschlichen Aufarbeitung“[23], d. h. zu einem Versöhnungsprozess, in welchem die Schuldfrage nicht unbeantwortet bleibt, weil Versöhnung ohne Einsicht in die Wahrheit nicht gelingen könne, die Wahrheit ohne Bereitschaft zur Versöhnung aber unmenschlich sei.

Uns ist bewusst, dass es historische Momente gab, bei denen gesagt wurde: Versöhnung vor Aufklärung.  Ein allzu tiefes Nachforschen in der Geschichte oder eine Aufklärung um jeden Preis würde den sozialen Frieden eher gefährden, die Würde der Nation und die Integrität der Gesellschaft solle Vorrang haben (z. B. während der Adenauer-Ära in Deutschland). Diese Erfahrung hat sich in Ostmitteleuropa um 1989/1990 an vielen Stellen wiederholt! Die ostmitteleuropäische politische Kultur kennt ohnehin ein weiteres Interesse, den Anspruch auf Harmonie und Kontinuität im Alltagsleben[24], und die Erfahrung, die die Geschichte entweder unter dem Zeichen des Triumphes oder des Traumas[25] betrachtet. Um dieses Interesse zu bedienen und diese Erfahrung aufrechtzuerhalten, braucht man einen Obrigkeitsstaat, der zugleich einer diskursiven politischen Kultur keinen oder wenig Raum gewährt. Aufarbeitung der Vergangenheit braucht aber Diskussion, Erfahrungsaustausch, die Versöhnung aber Empathie, Einfühlungsvermögen und Verständnis einem anderen Standpunkt gegenüber.

Dabei möchte ich mich wieder auf zwei ungarische Beispiele stützen. Das eine ist schon erwähnt worden: Man muss mit der Möglichkeit rechnen, dass die selbstgewählte Sprachlosigkeit hinsichtlich der Vergangenheit einmal aufbricht, spätestens dort, wo die gesellschaftlichen Identitätsrahmen plötzlich zerbrechen und die Sperre über dem Abgrund des Gedächtnisses aufgehoben wird. Das geschah im Fall des Vaters von Péter György nach der politischen Wende 1989/1990. Das andere Beispiel geht auf ein Interview zur heutigen politisch-gesellschaftlichen Lage in Ungarn zurück: Die Philosophin Ágnes Heller[26] meint, die historischen Traumata von Trianon (Versailler Friedensvertag 1920), von Nationalsozialismus und Kommunismus belasteten das Land, die unaufgearbeitete, unreflektierte Vergangenheit wirke nach. Das möchte ich nicht bestreiten – nicht einverstanden bin ich jedoch mit dem Vorwurf, dass durch den Versuch, sich diesen Traumata zu stellen, nur die Wunden offen gehalten würden (in der Hoffnung auf Wählerstimmen – meint Heller). Wäre es also besser, die Wunden nicht wieder zu öffnen und sich selbst einer kollektiven Amnesie zu überlassen? Wäre es nicht stattdessen angemessener, der heilenden Erinnerung Raum zu geben, gerade um der Stärkung einer demokratischen Kultur des Zusammenlebens willen?

Die Alternative spannt sich also nicht zwischen Versöhnung und Aufarbeitung auf, sondern zwischen einer tödlichen und einer befreienden Schuldeinsicht.[27] Die tödliche Schulderkenntnis ist zum einen nicht unbedingt auf die Aufklärung der Wahrheit angewiesen, sie kann sich mit Halbwahrheiten abfinden, sich mit aus der Geschichte willkürlich und nach eigenen Interessen herausgehobenen Teilaspekten begnügen, um damit den Schuldigen, den Täter und eventuell deren Nachkommen unter moralischen Druck zu halten. Diese Haltung ist nicht an Details und Zusammenhängen der Unrechtsgeschichte interessiert, vielmehr an Sanktionen, an Selbstgerechtigkeit und Genugtuung. Es ist kein Wunder, dass diese Haltung zum anderen erstarren lässt und lähmt oder wiederum selbst Selbstgerechtigkeit, Schuldverleugnung, allzu stilisierte Biographien und weitere Abwehrmechanismen erzeugt. Dieser Weg könnte dazu führen, dass frühere Täter zu Opfern, Opfer aber zu Tätern werden. Befreiende Schuldeinsicht rechnet aber mit Entlastung – und zwar auf beiden Seiten; nur eine differenzierte Sicht auf die Geschichte und eine Atmosphäre des Verzeihens bzw. der Vergebung könnten dazu führen, dass weder die Täter dämonisiert noch die Opfer heroisiert werden, vielmehr einer Nachsicht Raum gegeben wird, die das schuldhafte Verhalten nicht wieder geschehen lässt. Vergebung gewähren und Vergebung zu empfangen – das ist eine schwer zu erlernende Kunst, doch es gibt in der Wirklichkeit keine Alternative dazu. Dabei geht es nicht um eine billige Gnade und auch nicht darum, den Opfern Vergebungsbereitschaft aufzuzwingen oder Schuld bzw. Untaten zu verharmlosen (oder jemanden vor Strafverfolgung zu schützen). Es geht vielmehr um die Bejahung einer Kultur des Zusammenlebens, in der den tödlichen Auseinandersetzungen über Schuld und eigene Wahrheit, der Rede und Gegenrede zwischen Tätern und Opfern ein Ende gesetzt werden kann und in der man zugleich mit Zukunftsperspektiven rechnet. Natürlich bezieht sich dieser Prozess in concreto auf die Generation der Betroffenen – niemand kann stellvertretend für die Opfer verzeihen oder stellvertretend für die Täter Vergebung empfangen. Doch was für die nachkommenden Generationen möglich bleibt, ist die Einsicht in die Details und Zusammenhänge dieser Schuldgeschichte, die Anerkennung der angerichteten Untaten und Verbrechen sowie das Streben nach der möglichen Wiedergutmachung, um den Bann dieser Geschichte zu brechen.

Was könnte das Ziel einer realistisch verstandenen Versöhnungsarbeit sein, die die Schuldfrage nicht ausklammert und zugleich nicht in einem romantischen Versöhnungspathos aufgeht? Summarisch könnte ich dieses Ziel und seine Bedeutung folgendermaßen benennen: Ein Versöhnungsprozess als Modell historischer Aufarbeitung kann zum Vertrauen befähigen und dadurch Frieden stiften zwischen Menschen und Völkern – trotz offener Wunden, trotz erlittenen Unrechts und trotz zögerlicher Schulderkenntnis. Wie Eberhard Jüngel treffend formulieren kann: „Die Unfähigkeit zu vertrauen und die Unfähigkeit, Vertrauen zu gewähren, zerstören den Frieden.“[28] In der Tat, wo kein Vertrauen gewährt wird, ist das Aufkommen von neuem Unrecht vorprogrammiert. Wo aber entgegengebrachtes Vertrauen erfahren wird, da beginnt etwas aufzukeimen: gegenseitige Entlastung, heilende Erinnerung und die Perspektive einer gemeinsam zu gestaltenden Zukunft. Dies gilt sowohl auf individuell-zwischenmenschlicher Ebene als auch im sozialen, politischen und internationalen Bereich. Hier können die christlichen Kirchen gemeinsam mit Bildungseinrichtungen und weiteren Institutionen der Öffentlichkeit zu diesem Prozess beitragen, sogar Foren und Freiräume für Begegnungen, für weitere Diskussionen, für Austausch der historischen Erfahrungen und für gemeinsame Erinnerungen eröffnen. In dieser Hinsicht könnte das alte christliche Grußwort einen realistischen Zuspruch finden: „Pax vobiscum – Friede sei mit euch![29]  



[*] Vortrag gehalten auf der 5. Geschichtsmesse der Bundesstiftung für Aufarbeitung der SED-Diktatur "Die Zukunft der Aufarbeitung – Demokratie und Diktatur in Deutschland und Europa nach 1945" vom 8-10.03.2012 in Suhl/Thüringen.
[1]Jaques Derrida, Jahrhundert der Vergebung. Verzeihen ohne Macht – unbedingt und jenseits der Souveränität, in: Lettre International 48 (2000), S. 10-18.
[2]Timothy Garton Ash, Vier Wege zur Wahrheit, in: Zeit Online, 02.10.1997, http://www.zeit.de/1997/41/Vier_Wege_zur_Wahrheit  (02.02.20010).
[3]Erinnern um zu versöhnen. Erfahrung im Umgang mit schmerzlicher Vergangenheit. Eine Erklärung der Regionalgruppe Süd-Ost-Europa der GEKE vom 17. April 2008, in: http://www.leuenberg.eu/daten/File/Upload/doc-7953-2.pdf  (24.07.2009).
[4]Siehe: Klaus-Michael Kodalle, „Hier wird nicht genötigt”. Zur deutschen Erinnerungskultur im 21. Jahrhundert – Eine Herausforderung, in: Kalonymos 13 (2010), S. 1-8, hier: S. 1.
[5]Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigem Leben, Stuttgart 1960, S. 236.
[6]Vladimir Jankélévitch, Verzeihen?, Frankfurt am Main 2006, S. 29.
[7]Ebd., S. 22-23.
[8]Vladimir Jankélévitch, Verzeihen? [Pardonner?(1971)], in: Ders.: Das Verzeihen. Essays zur Moral und Kulturphilosophie, Frankfurt am Main 2003, S. 243-282, hier: S. 271.
[9]E lehnte sogar nach 1945 das Deutsche und die deutsche Kultur schlechthin ab. Siehe: Jürg Altwegg, Kein Vergessen, kein Verstehen, kein Verzeihen – Vladimir Jankélévitch und die Deutschen, in:  Jankélévitch, Das Verzeihen, S. 9-22.
[10]Kodalle, „Hier wird nicht genötigt”, S. 5.
[11]Arendt, Vita activa, S. 236.
[12]Derrida, Vergebung, S. 10.
 [13]Michael Beintker, Die Schuldfrage im Erfahrungsfeld des gesellschaftlichen Umbruchs im östlichen Deutschland, in: Kirchliche Zeitgeschichte 4 (1991), S. 445-461, hier: S. 458.
[14]Alexander Mitscherlich / Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1967.
[15]Aleida Assman, Ein deutsches Trauma? Die Kollektivschuldthese zwischen Erinnern und Vergessen, in: Merkur 53 (1999), S. 1142-1154. – Vgl.: Ders., Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, hier besonders: S. 169-182.
[16]Péter György, Apám helyett, Budapest 2011.
[17]Karl Jaspers, Die Schuldfrage, Heidelberg 1946, S. 31.
[18]Gerhard Sauter, Verhängnis der Theologie? Schuldwahrnehmung und Geschichtsanschauungen im deutschen Protestantismus unseres Jahrhunderts, in: Kirchliche Zeitgeschichte 4 (1991), S. 475-492, hier: S. 479-480.
[19]Richard Schröder, Ein Beichtstuhl auf dem Marktplatz wird zum Pranger, in: Marion Dönhoff (Hg.), Weil das Land Versöhnung braucht, Hamburg 1993, S. 15-32, hier: S. 30.
[20]Hans Jürgen Luibl, Auf dem Weg zu einer europäischen Erinnerungskultur, in: Orientierung 73 (2009/8), S. 86–91, hier: S. 89. – vgl.: Ernst Hanisch, Die Verantwortung des Zeithistorikers, in: Societas Ethica (Hg.), Forschung und Verantwortung, Jahresbericht 2005, Erlangen-Nürnberg 2005, S. 18–27.
[21]vgl.: Wolf Krötke, Befreiende und tödliche Sündenerkenntnis, in: Ders.: Die Kirche im Umbruch der Gesellschaft. Theologische Orientierung im Übergang vom »real existierenden Sozialismus« zur demokratischen, pluralistischen Gesellschaft, Tübingen 1994, S. 45-57, hier: S. 48.
[22]Ralf K. Wüstenberg, Aufarbeitung oder Versöhnung? Ein Vergleich der Vergangenheitspolitik in Deutschland und Südafrika, Potsdam 2008.
[23]ebd., S. 130.
[24]Ausführlich erörtert habe ich dieses Problem in meiner Analyse: Sándor Fazakas, Emlékezés és megbékélés[Erinnerung und Versöhnung], Budapest 2004, besonders: Kapitel: 5.3.
[25]vgl.: Assmann, Der lange Schatten, S. 12-17.
[26]Der Budapester Frühling, in: Zeit Online, 13.01.2012,  http://www.zeit.de/2012/03/Ungarn-Heller/seite-1
[27]vgl.: Krötke, Befreiende und tödliche Sündenerkenntnis, S. 45.
[28]Eberhard Jüngel, Das Opfer Jesu Christi als sacramentum und exemplum. Was bedeutet das Opfer Christi für den Beitrag der Kirche zur Lebensbewältigung und Lebensgestaltung?, in: Ders.: Wertlose Wahrheit. Theologische Erörterungen III., München 1990. S. 261- 28, hier: S. 282.
[29]Ebd., S. 282.


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