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Jenny Alwart, Mit Taras Ševčenco Staat machen. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in der Ukraine vor und nach 1991 (Visuelle Geschichtskultur, Bd. 8), Köln 2012, Böhlau Verlag, 220 S., 39,90 EUR, ISBN 978-3-412-20769-4



Das Bild von einer zweigeteilten Ukraine, einer Kluft zwischen dem europaorientierten Westen und dem russophilen Osten, ist schon lange zu einem medialen Topos avanciert. Aber entspricht dieses Bild der Wirklichkeit? Auskunft darüber möchte das Buch von Jenny Alwart „Mit Taras Ševčenco Staat machen. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in der Ukraine vor und nach 1991“ bieten.

Im Zentrum dieses Beitrags zur Erinnerungsforschung steht der Umgang mit der historischen Gestalt Taras Ševčenco (1814-1861). Diesem Dichter und Maler kommt nicht nur eine herausragende Rolle bei der Herausbildung der modernen ukrainischen Sprache zu, er ist darüber hinaus zu einem wichtigen Symbol des ukrainischen Nationalverständnisses geworden. Für Alwart ist er sogar „die am stärksten verbindende Figur der Ukraine“ (S. 25) Exemplarisch an Ševčenco stellt die Autorin die Mechanismen von Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in der Ukraine dar.

Dabei konzentriert sie sich vornehmlich auf einen Zeitraum von etwa fünfzig Jahren – von Anfang der 1960er Jahre bis in die jüngste Vergangenheit. Alwart nimmt ein breites Spektrum an Quellen in den Blick: neben den literarischen, publizistischen und wissenschaftlichen Texten, sowie Anordnungen, Erlässen und Reden von Politikern analysiert sie bildliche Darstellungen Ševčencos und fotografische Dokumentationen von aktuellen Ritualen der Ševčenco-Verehrung. Durch einen umfangreichen Bildteil, welcher 32 Seiten umfasst, erleichtert die Autorin dem Leser das Nachvollziehen ihrer Argumentation.

In Anlehnung an ein Konzept Pierre Noras definiert die Autorin Taras Ševčenco als einen Erinnerungsort. Ihm wird – so Alwart – „ein dauerhafter identitätsstiftender Symbolgehalt zugesprochen“(S. 18). Doch während der Ansatz von Pierre Nora in den Osteuropastudien vor allem eingesetzt wurde, um Entwicklungen in der Rezeption des Lebens von herausragenden historischen Personen in nationalen Kontexten über längere Zeiträume – meist Jahrhunderte – nachzuzeichnen, verfolgt Alwart eine andere, doppelte Intention. Zum einen vergleicht sie Ševčenco-Darstellungen der Sowjetära mit jenen, die nach der Erlangung der Unabhängigkeit entstanden sind. Hier interessiert sie vor allem, wie die ukrainische Gesellschaft angesichts der wichtigen Zäsur von 1991 mit dem früheren Ševčenco-Bild aus der Zeit der Sowjetunion umgeht. Zum anderen orientiert sich Alwart an einem Ansatz von Maria Todorova und analysiert die teilweise simultan erfolgende Interpretation von Ševčencos Leben und Werk durch unterschiedliche politische und gesellschaftliche Gruppen. Hier liegt das Augenmerk natürlich auf der postsowjetischen Zeit, da eine Herausbildung von pluralen Ševčenco-Interpretationen mit einer breiten gesellschaftlichen Wirkung vorher gar nicht möglich war.

Vor 1991 war die Erinnerungspolitik in der Ukraine fast vollständig vom Staat bestimmt. Die Gestalt des Dichters und Malers Ševčenco wurde dabei politisch instrumentalisiert, bot doch das Leben des Künstlers genügend Anknüpfungspunkte für die kommunistische Ideologie. Seine Geburt als Leibeigener, die folkloristischen Motive in seiner Kunst, sein Freikauf, welcher nur durch die Unterstützung russischer Intellektueller möglich war, die Repressalien, die Ševčenco aufgrund seiner anti-zaristischen Werke erfuhr, boten Gelegenheit, ihn als einen besonders volksnahen Künstler sowie als herausragendes Beispiel der russisch-ukrainischen Freundschaft zu zeichnen und ihn zu einem Wegbereiter der Oktoberrevolution zu stilisieren.

Mit der ukrainischen Unabhängigkeit kam es zu einem starken Wandel des Ševčenco-Bildes. Obwohl der Künstler in der sowjetischen Epoche gerade als ein Sinnbild ukrainisch-russischer Bruderschaft und Solidarität fungierte, gelang es den Akteuren der Geschichtspolitik nach 1991, ihn als ein Symbol der unabhängigen Ukraine zu etablieren, als einen Widerstandskämpfer gegen die russische Unterdrückung. Ein endgültiger Bruch mit dem in der sowjetischen Zeit etablierten Bild blieb aber aus – so eine der interessantesten Thesen Alwarts. Diese untermauert sie anschaulich anhand der Analyse eines Essays des Literaturwissenschaftlers Ivan Dzjuba, das zwischen 1989 und 2008 mehrfach überarbeitet und gedruckt wurde. Hier zeigt sich, mit welchen – teilweise subtilen – Umdeutungen, Hervorhebungen und Auslassungen sowie gleichzeitiger Beibehaltung sowjetischer Narrative nationale Vorstellungen über Ševčenco entwickelt werden. Weniger überzeugend wirken die Ausführungen der Autorin zur Fortführung sowjetischer Praktiken bei der politischen Ševčenco-Rezeption in der heutigen Ukraine. Hier stellt sich die Frage, ob den Akteuren der Geschichtspolitik nicht von vornherein ein beschränktes Instrumentarium zu Verfügung steht, so dass Ähnlichkeiten in der Vorgehensweise unvermeidlich sind.

Das Ševčenco-Bild der staatlichen Geschichtspolitik stellt jedoch in der postsowjetischen Ukraine nur ein Deutungsangebot unter vielen da. Ausführlich widmet sich Alwart den durch die zeitgenössischen ukrainischen Künstler vorgenommenen Ševčenco-Interpretationen. Die Bandbreite der in Texten und Bilddokumenten festgehaltenen Auffassungen über den Dichter reicht dabei von polemischer Kritik bis zu inbrünstiger Verherrlichung. Einige Entwürfe lassen eine reflektierte, kritische Distanz zu der sowjetischen Praxis der Ševčenco-Verehrung  erkennen, andere – wie z. B. der von Jurij Andruchovyč – setzen sich sogar mit dem Imaginiert-Sein der Ševčenco-Gestalt auseinander. Allen Auseinandersetzungen mit Ševčenco scheint aber gemeinsam zu sein, dass damit eine Positionierung in Bezug auf die kulturelle Verortung des Landes einher geht. Pars pro toto wird die Ševčenco-Figur dazu benutzt Stellung zu der heutigen Ukraine zu beziehen.

Die gegenwärtige Ukraine bestimmt  Alwart in Anlehnung an ein Konzept ihres Doktorvaters Stefan Troebst als „erinnerungskulturell zerrissen“ (S. 32), als ein Land, in dem bisher keine Einigkeit im Hinblick auf die Deutung der Vergangenheit erreicht werden konnte. Gleichzeitig kritisiert sie die bisherige Konzentration der westlichen Forschung auf die als trennend empfundenen Ereignisse, wie den Zweiten Weltkrieg und den Holodomor. Die Vorstellung einer geteilten Ukraine – noch dazu naiv als eine vordergründig geografische Trennung verstanden – wird durch diese Einseitigkeit zementiert. Dieses Bild möchte die Autorin mit ihrer Untersuchung zu Ševčenco als „einigendem Erinnerungsort“ ( S. 160) relativieren.

Die verbindende Funktion kommt dem Erinnerungsort Ševčenco nach Alwart dabei gerade deswegen zu, „weil er es ‚aushält‘, dass Uneinigkeiten über ihn bestehen“(S.160). Eine überzeugende Untermauerung dieser These bleibt aber leider aus. Die positive Beurteilung von Taras Ševčenco durch eine überwältigende Mehrheit der Ukrainer ist alleine wenig aussagekräftig. Damit die Vielzahl von verschiedenen, miteinander in Konflikt stehenden Ševčenco-Interpretationen nicht als ein Indiz für die kulturelle Zerrissenheit des Landes gewertet werden kann, bedarf es weiterer Argumentation, die Alwart dem Leser schuldig bleibt. Sehr überzeugend vermag sie dagegen die Bedeutung der Ševčenco-Figur für das nationale Selbstverständnis der Ukrainer herauszustellen. Ihrem erklärten Ziel zu zeigen, dass Ševčenco „sowohl Ressource als auch Projektionsfläche für Vorstellungen über die Ukraine ist“ (S. 25), ist die Autorin sicherlich gerecht geworden.

Rezensentin:
Maria Glasmann

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