Schaefer, Bettina (Hg.), Lass uns über Auschwitz sprechen. Gedenkstätte – Museum – Friedhof: Begegnungen mit dem Weltkulturerbe Auschwitz, Frankfurt am Main 2009, Brandes&Apsel, 340 S., 29,90 EUR, ISBN 978-3-86099-391-0


Welche Bedeutung hat Auschwitz heute – ist es ein Friedhof, ist es ein Ort der musealen Dokumentation, ist es ein Lernort? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage wird schwerlich zu finden sein. Die von der Journalistin und Medienforscherin Bettina Schaefer editierten und durchgeführten Gespräche mit Menschen, die unmittelbar mit dem Ort zu tun haben, lokalisieren die Bedeutung von Auschwitz gerade in der Unterschiedlichkeit der Perspektiven. Für den Leser lautet die Aufgabe, das Dickicht der abstrakten Assoziationen zum Ort zu verlassen und sich seiner vieldimensionalen Konkretheit anzunähern. Dort trifft er eine zentrale Unterscheidung an: Auschwitz als deutsches Konzentrations- und Vernichtungslager und Gedenkstätte im Gegensatz zu Oświęcim als Ort, an dem heute Menschen leben.

Die Konkretheit des Ortes ist jedoch nicht seinen materiellen Relikten eingeschrieben, sondern existiert gleichsam selbst immer nur in der Bezugnahme. So versammelt dieser Band ein Beziehungsgeflecht von Stimmen, darunter Berichte von Überlebenden, von Vermittlern, Museumsmitarbeitern und Security-Personal, von Freiwilligen und Praktikanten, von Besuchern und von der lokalen Bevölkerung. Wohl um der erfahrungsbasierten Erzählform den notwendigen Raum zu geben, wird eine wissenschaftliche Systematisierung dieser Gespräche vermieden. Das Erzählen hat hier nicht nur eine formale, sondern auch eine inhaltliche Funktion: als Positionieren, als Austauschen, als Überliefern und als Durcharbeiten wird es als zentrales Moment der Annäherung an die Geschichte und Gegenwart gewählt.

Die Schilderungen von Überlebenden stellt die Herausgeberin dabei an erste Stelle. Diese eindringlichen Berichte, wie der von Henryk Mandelbaums Tätigkeit im „Sonderkommando“, führen vor Augen, was es bedeutet, Auschwitz in erster Linie als Friedhof betrachten zu müssen. Gleichzeitig ist für die interviewten Überlebenden der Kontakt insbesondere mit der jungen Generation von immenser Bedeutung, so dass ihr Erzählen die potentielle Dimension des Ortes als Friedhof ohne Friede –  nämlich ohne die Möglichkeit auf Versöhnung (Ruth Klüger) – überschreibt. Es ist zudem der Kontakt zu Überlebenden, der die meisten Museumsmitarbeiter des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau dazu bewegt hat, hier längerfristig zu arbeiten. Interessanterweise hatten die meisten von ihnen ihre erstmalige Tätigkeit an der Gedenkstätte nur als vorübergehende Phase betrachtet.

Auch wenn die Form der Gesprächsprotokolle – abgedruckt ohne die jeweiligen Fragen der Interviewerin – zunächst etwas verwirrt, so haben die einzelnen Berichte doch einen klaren und nachvollziehbaren Aufbau. Gefragt wird nach dem persönlichen und familiären Zugang und der Motivation für die Auseinandersetzung, der Wahrnehmung des Ortes, dem spezifischen Bezug zu Deutschland und den Lehren, die aus Ort und Geschichte gezogen werden sollen. Dabei verknüpft der Band immer wieder auf sehr eindrückliche Weise vor allem deutsche, polnische und israelische Perspektiven. Die Thematik der deutschen Schuld heute ist ein wiederkehrendes Motiv. Sie wird mit großer Beobachtungsgabe von einem deutschen Pädagogen und einem österreichischen Freiwilligen im Kern als die Frage nach den Erwartungshaltungen von Institutionen und Vermittlern (S.154, 227f.), die Jugendliche an diesem Ort sehr genau ausloten, neu kontextualisiert. Damit wird sie auch ihrer mysteriös anmutenden Qualität, die offensichtlich von manchen polnischen Guides zur Arbeitsgrundlage mit deutschen Gruppen erhoben wird (S. 189ff.), entkleidet. Ein israelischer Security schließt seine Erzählung mit dem nachdrücklichen Plädoyer, dass Auschwitz nicht als Ort für Entschuldigungen wahrgenommen werden solle – stattdessen zähle der geschärfte und sensibilisierte Blick in die Gegenwart.

Die Gespräche mit Vermittlern und dem Museumspersonal, aber ebenso mit den Freiwilligen und Praktikanten geben einen pointierten Einblick in den „Sonderstatus“, den diese berufliche Tätigkeit darstellt. Die besprochenen Aspekte des alltäglichen und beruflichen Lebens stellen keine beiläufigen Ansichten zu diesen und jenen Themen dar, sondern können als Dokumente von Selbstbildern gewertet werden. Es sind persönlich involvierte und nachdenkliche Zeilen. In der Frage nach dem Bezug zur Gegenwart, der ja in der Gedenkstättenarbeit immer wieder Gegenstand von Fachtagungen ist, zeigt sich ein interessanter Aspekt: Bei vielen Vermittlern hat man den Eindruck, dass ihre historisch orientierte Arbeit zwar die Schwierigkeit, sinnvolle inhaltliche Gegenwartsbezüge in Auschwitz herzustellen, deutlich macht. Jedoch ist es der Wunsch nach aktiven Handlungs- und Meinungsoptionen, der sie von diesem Ort als Quelle universaler Lehren sprechen lässt. Die Sinnlosigkeit des Mordens kann nicht der alleinige Referenzrahmen für die Bildungsarbeit sein, sonst wäre tatsächlich niemand zu dieser Arbeit imstande. Die Frage ist nach wie vor offen, wie mit diesem Problem in Zukunft umgegangen wird. Der Band zeigt dazu für die pädagogische Arbeit die wichtige Tendenz auf, sich vermehrt auch mit Tätern zu beschäftigen, allerdings erfährt man wenig zu Konzepten zur Auseinandersetzung mit Kontinuitäten nach 1945.

Die Beiträge sind durch eine wichtige und hilfreiche wissenschaftliche Kommentierung einzelner aufgeworfener Aspekte der Geschichte und Nachgeschichte des Nationalsozialismus ergänzt. Meinungen und Praktiken aber bleiben unkommentiert. So gibt der Band auch einen Einblick in die Fallstricke der Vermittlungsarbeit, die ja den Rahmen des Verstehens immer aktiv herstellt. Die Schilderung von Rollenspielen, mit denen ein evangelischer Pädagoge aus Sachsen seine Teilnehmenden – unter expliziter Ausblendung von historischem Wissen – in damalige Akteure zu versetzen versucht, kann noch als Beispiel einer gedenkstättenpädagogischen Überambition gewertet werden. Wird das Judentum aber in Form des Ortes Birkenau um eine besondere theologische „Tiefe“ beneidet (S. 126), so handelt es sich hierbei um eine ästhetische Rückprojektion von Sinn auf die Geschichte, vor der sich die historisch-politische Bildungsarbeit tunlichst hüten muss. Ein erfrischendes Gegenbeispiel bieten dagegen die Einblicke in die Erfahrungen von Freiwilligen und Praktikanten, die stark mit dem Selbstbezug beschäftigt sind, aber gegenüber Besuchern schlichtweg eine notwendige dialogische Offenheit mitbringen.

Den professionellen und doch zutiefst persönlichen Zugriffen auf den Ort, die jeweils mit einer Entscheidung einhergehen, stehen die Perspektiven der unfreiwillig involvierten Bewohner der Stadt gegenüber. Diesen bietet der Band einen notwendigen Raum zur Artikulation: wenn der Bürgermeister die Verwechslung von Auschwitz und Oświęcim als „Lüge“ (S. 321) und nicht als Flüchtigkeitsfehler bezeichnet, so tritt ein Stück seines Arbeitsalltags in aller Deutlichkeit zu Tage. Der Leser erfährt über den Plan der Errichtung einer Disko in Oświęcim, der sich zu einem nationalen Skandal ausweitete; oder auch über die Probleme, die Stadtbewohner mit  weitläufigen Straßensperren bei regelmäßigen Besuchen von Prominenten haben. Während Bewohner der Stadt den Umstand beklagen, dass die lokale Bevölkerung vom Tourismus in Oświęcim nicht genug profitiere, so stellt die touristische Dimension der Gedenkstätte für viele Besucher paradoxerweise ein ganz handfestes Problem dar. Dass bereits die museale Aufbereitung viele verstört, hängt zum Teil mit der weit verbreiteten Erwartungshaltung zusammen, an diesem Ort nicht die Gedenkstätte, sondern das Lager besichtigen zu können. Ein Besuch in Auschwitz stellt die mitgebrachten Bilder im Kopf auf die Probe. Wie mit diesem Vorwissen jeweils umgegangen wird, bildet einen wesentlichen Aspekt der Besuchserfahrung.

Mit diesem Buch liegt zum ersten Mal eine Sammlung unterschiedlicher Blick- und Erzählrichtungen auf diesen Ort vor. Diese mögen widersprüchlich sein, treffen aber gerade darin den Kern der Gedächtnisgeschichte von Auschwitz. Das Buch hilft, Perspektiven wie die der lokalen Bevölkerung als gleichwertig anzuerkennen. Die Ansicht, dass polnische, israelische oder deutsche Narrative von vornherein so-und-so zu verorten sind, wird hier an vielen Stellen hinterfragt. Es fordert zuletzt die Vorstellung von Auschwitz als Teil des „kulturellen Gedächtnisses“ heraus, denn es zeigt, wie gerade im kommunikativen Akt der Erzählung transgenerational Positionen generiert, gefestigt und tradiert werden.

Trotz seiner Multiperspektivität vermisst man im Band einen für die Gedenkstättenarbeit relevanten Aspekt: Wenn es an diesem Ort in den Worten einer Museumspädagogin darum geht, Fragen stellen zu können (S. 87), so hätten konsequenterweise auch die Fragen in den Gesprächsprotokollen erscheinen müssen. Denn die Art und Weise einer Frage schafft auch den Rahmen für die Antwort. Auch wenn die Herausgeberin diese Erfahrung sicherlich in ihren Interviews selbst gemacht hat, bleibt ihr Zugang ein wenig als Geheimnis hinter der Fülle an Perspektiven bestehen.


Zum Rezensenten:
Till Hilmar, Mag. phil., geb. 1985, Politikwissenschaftler und Leiter des Projektes Orte der Erinnerung – im Hier und Heute beim Verein GEDENKDIENST in Wien

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