Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011, Suhrkamp-Verlag, 303 S., 26,90 EUR, ISBN 978-3-518-58566-5


Es besteht in der Ethik, in der philosophischen ebenso wie in der theologischen, seit Jahren ein starker Konsens, dass zwischen Geltung und Genese von Normen strikt unterschieden werden müsse. Zu diesem Ergebnis kamen sowohl die innertheologischen Debatten über das Proprium christlicher Ethik wie auch die Bemühungen um die Interpretation und Reichweite von Menschenwürde, Menschenrechten und Grundrechten als Basisnormen des Rechts. „Entweder“ – so lässt sich dieses Postulat mit den Worten von Joas erläutern – „steht der Geltungsanspruch normativer Sätze zur Diskussion, oder wir interessieren uns für ihre geschichtliche Herkunft“ (S. 13). Und: „Zur Entscheidung über den normativen Geltungsanspruch kann in dieser Perspektive geschichtliches Wissen nicht, jedenfalls nichts Ausschlaggebendes beitragen.“ (S. 13) Es muss sich mit der Rolle der Hinführung zur eigentlichen Entdeckung und der Vorgeschichte begnügen.

Dieser Konsens resultiert zumindest teilweise aus der Erfahrung, dass Ideen und Begriffe nicht allein die soziale und politische Realität gestalten bzw. verändern können. Er könnte auch Ausdruck einer intellektuellen und politischen Einstellung sein, Herkunft bzw. Tradition nicht als genügende Begründung gelten zu lassen.

Wie immer dem sei, klar ist, dass das Buch des früher in Erfurt und jetzt in Freiburg lehrenden Soziologen Hans Joas gerade gegen dieses konsensuelle Postulat andenkt und zum gegenteiligen Ergebnis kommt, nämlich dass Begründungsargumente und historische Reflexion verknüpft werden sollen bzw. in ihrer Verschränktheit offengelegt werden müssen. Die Skepsis gegenüber rein rationalen Begründungen letzter Werte sowie die analytische Herausarbeitung der „Entstehung“ (also weder einer „Konstruktion“ noch der „Entdeckung“) der Werte führten nicht zwangsläufig zu kulturellem Relativismus und postmoderner Beliebigkeit. Worauf es ankomme, sei, „die echte historische Innovation, die etwa die Menschenrechte darstellen, als Innovation kenntlich zu machen und dabei gleichzeitig den Evidenzcharakter zu bewahren, den eine solche Innovation für die Beteiligten auch aufweisen kann. Für die Menschen, die sich an Werte gebunden fühlen, stellen diese Werte ganz offensichtlich das Gute dar, und dies nicht, weil sie das so beschlossen oder sich darauf geeinigt haben.“ (S. 15) Joas nennt diese Methode in dialektischer Absetzung von Nietzsches „Genealogie der Moral“ als Programm der kritischen Entlarvung der moralischen Ideale „affirmative Genealogie des Universalismus“ und widmet ihrer Rechtfertigung ein eigenes Kapitel in der Mitte des Buchs (S. 147-203). Statt zur Destruktion führt das Erkennen der Entstehung hier zur Anerkennung des Wertes!

Entsprechend dieser Methode der affirmativen Genealogie kann der Schlüssel für die Entstehung der Menschenrechte als Komplex universalistischer Werte nicht nur in historisch kontingenten Überzeugungen, Weltbildern und Tradition gesucht werden, sondern entscheidend dort, wo diese Werte plötzlich auch bindende Kraft erzeugen und den Charakter von Unbedingtheit annehmen. Joas glaubt, diesen entscheidenden Ursprung der Evidenz und Bindung in der Überzeugung von der Sakralität der Person und deren Institutionalisierung im Recht gefunden zu haben. Den ganzen seit über hundert Jahren in Gang befindlichen Debatten über die Ursprünge der Menschenrechte in bestimmten Traditionen stellt er die auch im Titel des Buchs festgehaltene These (bisweilen auch als „Vorschlag“ oder „Botschaft“ klassifiziert) gegenüber, den Glauben an die Menschenrechte und die universale Menschenwürde als Ergebnis eines Prozesses der Aneignung zu verstehen, „in dem jedes einzelne menschliche Wesen mehr und mehr und in immer stärker motivierender und sensibilisierender Weise als heilig angesehen und dieses Verständnis im Recht institutionalisiert wurde“ (S.18). Jeder Mensch wurde von da an als Wesen begriffen, an dem etwas heilig ist. Das, was Sakralität ausmacht, ist Joas zufolge aber nicht ein Transzendenzbezug und eine spezifisch-religiöse Bedeutung, sondern „subjektive Evidenz und affektive Intensität“ (S. 18). Das ist – nebenbei bemerkt – auch eine bemerkenswerte Deutungsalternative zur gängigen Auffassung vom unaufhaltsamen Fortschreiten der Säkularisierung.

Mit der These von der Sakralisierung der Person greift Joas einen Begriff auf, den er bei Émile Durkheim, einem der Gründerväter der Soziologie, findet (S. 81-101). Die Energie, den Gedanken von Menschenwürde und Menschenrechten zu formulieren, durch die geschichtlichen Entwicklungen und Ereignisse hindurch lebendig zu erhalten und zu verbreiten, sieht Joas aus zwei Quellen fließen, nämlich den positiven, wertkonstituierenden Erfahrungen einerseits und den erschütternden, traumatisierenden Gewalterfahrungen, die mit eigenem und fremdem Leid gemacht wurden, andererseits. Die Abschaffung bzw. Zurückdrängung des Folterinstituts und die Antisklavereibewegung sind die historischen Beispiele, an denen Joas die menschenrechtliche Produktivität illustriert. Zu Recht sei die gewonnene Auffassung von der Sakralität der Person institutionalisiert und dadurch der Bedingtheit der geschichtlichen, kulturellen und individuellen Sichtweisen entzogen worden. Für diese Möglichkeit, an universalen Geltungsansprüchen festzuhalten, obschon sie zuerst in geschichtlich partikularen Kontexten formuliert wurden (und weiterhin werden), beruft sich Joas auf den „existentiellen Historismus“, den der evangelische Theologe Ernst Troeltsch in den 1920er Jahren konzipiert hat.

Die Mitwirkung der Religion, besonders der jüdisch-christlichen Tradition, sieht Joas (unbeschadet der Rolle der Aufklärung) in den Vorstellungen von der unsterblichen Seele des Menschen als des (sakralen) Kerns jeder Person und des Lebens des einzelnen als einer Gabe, „aus der Verpflichtungen resultieren, die das Recht auf Selbstbestimmung über unser Leben begrenzen“ (S. 20). Diese zwei Elemente des christlichen Menschenbilds im Kontext der Menschenrechte und unter heutigen Denkvoraussetzungen einschließlich des damit verbundenen dramatischen Wertewandels neu zu plausibilisieren, sieht Joas als eine spannende Herausforderung an, deren Bewältigung dem Christentum „unzweifelhaft weithin gelungen ist“ (S. 21). Er erkennt darin aber zusätzlich eine Chance für religiöse und kulturelle Traditionen, „ohne mit sich selbst zu brechen, neue Gemeinsamkeiten miteinander [zu] finden“ (S.21), also Werte zu generalisieren.

Dies alles wird in sechs Kapiteln entwickelt, abgestützt auf internationale Forschungsliteratur, die der Autor eigenständig auswertet, um seine Thesen möglichst plastisch zu modellieren. Der Einbezug dieses Materials macht die Lektüre für den Leser des Buchs ausgesprochen interessant, weil er vieles erfahren kann, was in der deutschsprachigen Standardliteratur zu den Menschenrechten so selten präsentiert wird. Die starke Berücksichtigung angloamerikanischer und protestantischer Literatur hat allerdings auch zur Folge, dass der romanisch-lateinische Diskussionsstrang unberücksichtigt bleibt; dabei hätte gerade das Kapitel über die Sklaverei von den kolonialethischen Reflexionen katholischer Vordenker der Barockscholastik, die später über protestantische Autoren wie Hugo Grotius und Samuel von Pufendorf bis in die Formulierungen der Menschenrechtskataloge hinein Wirksamkeit entfaltet haben, Gewinn ziehen können.

Dass der Soziologe die ideengeschichtlich denkenden Rechtsgeschichtler, Philosophen, Theologen und Ethiker kritisch darauf aufmerksam macht, dass der Aufstieg der Menschenrechte und der Idee universaler Menschenwürde nicht nur aus theoretischen Überlegungen, anthropologischen Überzeugungen und der Genialität einzelner Intellektueller resultieren kann, sondern auch einen Generator für Geltung sowie ein Bedingungsfeld von „Praktiken, Werten und Institutionen“ (S. 204) benötigte, ist Teil seiner Profession und insoweit erwartbar. Ob allerdings die philosophischen und theologischen Bemühungen um die Begründung der Menschenrechte damit wirklich ganz oder großenteils überflüssig werden, kann man durchaus in Frage stellen. Denn Begründungen schaffen systematische Kohärenzen und Konsistenzen mit den anderen Normen des Rechts, der Moral und sogar der Sitte. Und sie erlauben die reflexive und kritische Vergewisserung. Schließlich können sie auch zu Einsicht und Zustimmung beitragen. Wie wichtig diese sein können, macht Joas selber im Schlusskapitel über Wertegeneralisierung zumindest spürbar: Begründung kann selbst ein Element der Affirmation innerhalb einer affirmativen Genealogie sein. Tatsächlich wird man Genese und Geltung wohl stärker als bisher in ihrer Verbundenheit sehen müssen, als es das isoliert genommene Postulat der Unterscheidung nahezulegen scheint; denn praktische Geltung resultiert nicht automatisch aus abstrakter theoretischer Begründung; und die historisch situierte Genese enthält, sofern sie theoretisch reflektiert wird, immer auch (mal mehr, mal weniger) Elemente von Begründung.

Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb: ein wichtiges, anregendes und gut geschriebenes Buch.


Zum Rezensenten:
Dr. Konrad Hilpert, geb. 1947, Professor für Moraltheologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema Menschenwürde und Menschenrechte

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