Gerhard Lindemann, Für Frömmigkeit in Freiheit. Die Geschichte der Evangelischen Allianz im Zeitalter des Liberalismus (1846-1879) (Theologie: Forschung und Wissenschaft, Bd. 24), Münster 2011, LIT Verlag, 1064 S., 129,90 EUR, ISBN 978-3-8258-8920-3


Die insgesamt 1060 Seiten umfassende Arbeit gliedert sich in vier Teile, wobei der Teil 3 noch einmal in einen Teil A und B und jeder Teil in sich in Unterkapitel aufgeteilt ist. Der Teil 1 behandelt die Gründung der Evangelischen Allianz (= EA), der Teil 2 die Zeit der politischen Reaktion 1849-1858; der Teil 3 umfasst die Jahre von 1859 bis 1873, die als Zeit der Entstehung und Formierung des Staatensystems in der westlichen Welt und als eine Phase wirtschaftlicher Prosperität und politischer Liberalisierung gekennzeichnet werden. Abschnitt A reicht von 1859 bis 1865 und trägt die Überschrift „Zeit der Einigungs- und Befreiungskriege in Europa und Nordamerika“, Abschnitt B betrifft die Jahre 1866-1873, für welche die „Veränderung des Machtgleichgewichts in Mitteleuropa und die innere Konsolidierung der USA“ als charakteristisch angesehen wird und umschließt die Ausweitung der Allianz auf einen weiteren Kontinent. Der vierte Teil 1874-1879 markiert den „Ausklang des liberalen Zeitalters“. Alle Teile enden jeweils mit einem Resümee. Die gesamte Untersuchung wird einer „abschließenden Bilanz“ (937-947) unterzogen, woran sich ein umfassendes Quellen- und Literaturverzeichnis (949-1044), ein kurzes Abkürzungsverzeichnis (1045 f.) sowie ein Personenverzeichnis anschließt (1047-1060).

Das Buch ist eine im Sommersemester 2004 von der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg angenommene Habilitationsschrift und widmet sich den Anfangsjahren der 1846 in London im Umfeld der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts entstandenen EA (engl. Evangelical Alliance). Dies geschieht unter englischer Führung auf internationaler Ebene und reiht sich in unterschiedliche internationale Vernetzungen und Organisationen ein (15f.). In der Arbeit werden der organisations- und theologiegeschichtliche sowie der praktische Weg der EA nachgezeichnet, die Konzepte, Verläufe und Auswirkungen der ersten internationalen Versammlungen herausgearbeitet, und die Aufgabenbereiche, insbesondere die im Januar durchgeführte Gebetswoche, die Förderung der internationalem Kommunikation, der Aufbau nationaler Zweigvereine, der Einsatz für Bewahrung und Erweiterung der Glaubens- und Gewissensfreiheit in einzelnen Ländern und Regionen, beleuchtet und ans Licht gebracht.

Die EA eignet sich dafür, die entstehende Globalisierung nicht nur auf die Diplomatie-, Kriegs- und Handelsgeschichte zwischen den Staaten zu begrenzen, sondern sie auszudehnen auf NGOs als Bausteine einer „Globalgeschichte“. Die Geschichte der EA eignet sich außerdem als Modell, weil hier innerkirchliche Entwicklungen, Theologien, Frömmigkeitsformen, unterschiedliche Mentalitäten, Nationalismen, Werte, Sprachen und Begriffsunterschiede, Kulturen und ihre Einflüsse sowie Denominationen und ihre Traditionen aufeinanderprallen und daher Stereotype und Vorurteile wahrgenommen und, wenn möglich, abgebaut werden mussten (19).

Zu den Voraussetzungen, die zur Entstehung der EA geführt haben, zählen: der Expansionsdrang der europäischen Mächte (24), die Erweckungsbewegung diesseits und jenseits des Atlantik mit einem Endzeitbewusstsein, der damit einhergehende Erlebnischarakter von Bekehrung, Glauben und Gefühl, der Individualismus und der massive Einsatz von Mitteln auch außerparlamentarischer Art zur Bekämpfung sozialer Übel. Die evangelicals innerhalb der etablierten Kirchen und bei den Dissenters hat man jüngst (in Anlehnung an das anglikanische Ökumene-Modell des Chicago/Lambeth Quadrilateral) mit dem Ausdruck „Bebbington Quadrilateral“ beschrieben. Der Historiker David Bebbington (Sterling University) hatte die evangelicals durch das Zusammenwirken von vier Merkmalen definiert: die letztgültige Bedeutung der Hl. Schrift, die zentrale Stellung des Kreuzes, die individuelle Bekehrung und die sozial-missionarischen Aktivitäten.

Als 1844 die Anti State Church Association vor allem von Baptisten und Kongregationalisten gegründet wurde, war das einer Annäherung der low church (evangelicals) der Church of England an die Dissenters hinderlich, also keine gute Voraussetzung für ein Zusammengehen. Dagegen aber gab es andere Kräfte, die gerade das versuchten und die vom europäischen Kontinent Rückendeckung erhielten. Dies erfolgte aus den Zentren des kontinentalen Erweckungschristentums mit seinen Vernetzungen. Der Ruf nach einer Einheit aller Evangelischen auf der Basis von wenigen zentralen Hauptlehren vereinte sich mit der Bekämpfung von Gegnern, vor allem der hochkirchlichen Bewegung, des Katholizismus, der neu entstehenden Plymouth Brethren und dem allgemeinen Indifferentismus. In Schottland beging man 1843 die 200-Jahrfeier der Westminster Assembly, was z.B. zu der von einem Kaufmann, John Hendersen, angestoßenen und finanzierten Herausgabe eines Sammelbandes Essays on Christian Union mit Aufsätzen vieler prominenter Theologen, die für die Gründung der EA mit verantwortlich waren, führte. Auch in den USA kam es zu verstärkten Anstrengungen, wie sie z.B. in der Person des Lutheraners Samuel Simon Schmucker und der von ihm 1839 mit begründeten Society for the Promotion of Christian Union sichtbar werden.

Entscheidend für die Vorbereitung wurde eine Konferenz Anfang Oktober 1845 in Liverpool. Hier wurde schon eine Glaubensgrundlage erarbeitet, der Name „E.A.“ vorgeschlagen und festgehalten, dass die zu bildende Allianz aus Einzelpersonen, nicht aus Denominationen bestehen sollte. Die dort erarbeiteten Grundsätze waren tatsächlich richtungsweisend und wurden durch eine zweite Vorbereitungstagung im Januar 1846 in Liverpool verstärkt. Zugleich gab es erhebliche Differenzen aus unterschiedlichen Richtungen. Der anglikanische Erzbischof von Dublin untersagte es beispielsweise seinen Geistlichen, in der EA mitzuwirken. Mitglieder der schottischen Free Church ließen ihre Mitarbeit (vorübergehend) ruhen, und die Quäker und ihre Verbündeten bei den Vorbereitungen sahen sich damit konfrontiert, dass sich die EA auch zu den Sakramenten und dem kirchlichen Amt äußerte. Die britische Antisklavereibewegung suchte zu verhindern, dass Sklavenhalter aus dem Süden der USA bei der Allianz mitmachen durften, weil die Sklaverei fundamentale Grundsätze des Glaubens verletze. Andere appellierten an alle „Jünger Christi“, ihre Einheit kundzutun, um dem Wachsen des Papsttums (popery) und des Aber- und Unglaubens Einhalt zu gebieten. Diese Polemik verletzte auch Hochkirchler innerhalb der Anglikaner.

Die Gründungsversammlung der Allianz tagte in der Freemasons' Hall in London, was gelegentlich Anlass zur Polemik bot: Was suchten evangelikale Christen bei den Freimaurern? Sie begann am 19. August 1846 und dauerte bis zum 2. September. Eröffnet wurde sie von dem methodistischen Pastor Jabez Bunting, der den Vorschlag unterbreitete, dass der Anglikaner Edward Bickersteth die Andacht (devotional exercises) übernehmen solle, was gebilligt wurde. Den Vorsitz der Versammlung übernahm dann Sir Culling Eardley (Smith), ein Anglikaner, der sich bei den Vorbereitungen ins Zeug gelegt hatte. Interessant ist, dass Professor Tholuck aus Halle die geringe deutsche Beteiligung auf unzureichende Englischkenntnisse deutscher Theologen zurückführte. Diese Beobachtung gilt für das ökumenische Engagement deutscher Theologen bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber nicht nur diese Beobachtung verbindet dieses erste ökumenische Experiment mit späteren  Versuchen. Eigentlich sind schon bei den Vorbereitungen und der Gründungsversammlung viele ökumenische Fragen angeschnitten: Liegt das Schwergewicht auf Fragen der Lehre oder der Praxis? Welche Rolle kommt den Denominationen zu und wie können die denominationellen Unterschiede im Licht der Gemeinsamkeiten beurteilt werden? Wie stehen Taufe, Abendmahl (Eucharistie) und Amt zur angestrebten Einheit? Welches ist die höchste Autorität? Wenn man die Bibel zu dieser Autorität erhebt und ihr „göttliche Inspiration, Autorität und Genügsamkeit“ attestiert und zugleich jedem Gläubigen Recht und Pflicht zum Umgang mit der Hl. Schrift zugesteht, dann fragt sich, wie die Exegese zu geschehen hat. Wenn eine Glaubensbasis formuliert wird, was ist dann grundsätzlich-axiomatisch und was ist abgeleitet? Ist die Basis ein ausschließendes Dokument oder bleiben Spielräume, so dass auch Gemeinschaften, die nicht alles mittragen können, dennoch willkommen sind?

Neben der neun Punkte umfassenden Basis, deren Entwurf auf der Gründungsversammlung revidiert wurde, beschloss man,

* dass die EA sich aus eigenverantwortlichen Individuen zusammensetzen sollte,

* dass es bei Meinungsunterschieden keinen Zwang zum Kompromiss oder eine einfache Beibehaltung der Unterschiede geben sollte, sondern das Aushalten der eigenen Auffassung unter dem Gesichtspunkt brüderlicher Liebe,

* dass die EA keine neue kirchliche Organisation anstreben wollte,

* dass es Mitgliedern der EA nicht zustehe, diejenigen zu verurteilen, die außerhalb der EA stehen und

* dass diese Haltung nach außen, z.B. in der Publizistik, zum Zuge kommen sollte.


Zu den Zielen der EA sollten gehören:

* die Einheit aller Jünger Christi, die bereits gegeben sei und die man deshalb auch nicht zu bewerkstelligen brauche, darzustellen;

* den Informationsaustausch aus allen Teilen der Welt in Gang zu setzen;

* das wahre (= protestantisch-evangelikale) Christentum gegen „Papismus“ und andere Formen des Aber- und Unglaubens zu fördern, wobei interessanterweise der deutsche Baptist Oncken sagte, dass der Unglaube in Deutschland die weit größere Gefahr sei als der Katholizismus;

* Publikationen der EA herauszugeben;

* eine Gebetswoche in der ersten Januarwoche jeden Jahres durchzuführen.


Bei der Frage der Organisationsform konnten sich die Briten mit ihrer Vorstellung  von einem Zentralverein in England mit Zweigvereinen in den unterschiedlichen Ländern nicht durchsetzen, so dass man der EA eine föderative Gestalt mit an den jeweiligen Kontext angepassten „Zweigvereinen“ (District Organizations) gab. Zu einer Zerreißprobe geriet die Frage, ob Sklavenhalter Mitglieder sein könnten. Die Diskussion darüber wird in Lindemanns Buch breit vorgeführt (109-129 und öfter auf die Diskussionen in den USA bezogen). Die Mitgliedschaft von Frauen und Katholiken kam nur kurz zur Sprache; eine Nichtzulassung von Katholiken wurde nicht formuliert, später ein Ladies' Committee ins Leben gerufen.

Zu den ersten Aktivitäten der EA gehörte die Herausgabe des Magazins Evangelical Christendom ab 1847, gegenseitige Besuche und die Durchführung der Gebetswoche im Januar 1848. Zum Einsatz für Religionsfreiheit kam es, nachdem sich im Schweizer Kanton de Vaud (Waadtland) eine Freikirche 1847 konstituiert hatte, die sich bald mit Verboten und Strafen konfrontiert sah und für die die EA Partei ergriff. Die Gründungen von Allianzen in unterschiedlichen Ländern wird aufgelistet (158-206), wobei der britische Zweig nicht den erhofften Zulauf hatte. Auch in den USA stieß die Allianz auf wenig Resonanz, was auch auf Deutschland zutrifft. In den USA wurde zwar die Sklaverei verurteilt (unalterable opposition to this stupendous evil), aber vorrangiges Ziel war die Einheit, so dass man auch Sklavenhalter zuließ.

Es kann hier kein Referat über das gesamte Buch erfolgen, sondern einige Beispiele sollen herausgegriffen werden. Für deutsche Leser sind die Abschnitte, die sich mit den Verhältnissen in deutschen Ländern befassen, sehr instruktiv, zumal die Ereignisse sehr detailliert beschrieben werden. Die Zerklüftung des Landes in viele Kleinstaaten mit eigenen Landeskirchen und die Furcht bzw. die Bedenken gegen das Aufkommen anglo-amerikanischer „Sekten“ – Baptisten und Methodisten -, dazu die unterschiedlichen theologischen Schulen und der Konfessionalismus bereiteten keinen guten Nährboden für die EA. Außerdem kollidierten ihre Versuche der Einheit mit den Anstrengungen des Deutschen Evangelischen Kirchentages, mehr Gemeinsamkeiten im evangelischen Deutschland zu erreichen. Immerhin aber unterbreitete der Berliner Pfarrer Kuntze 1848 dem Kirchentag in Wittenberg den Vorschlag, eine deutsche EA als Zusammenschluss gläubiger Individuen zu gründen, weil er der düsteren Ansicht war, 99% des Volkes seien vom Christentum abgefallen!

Die EA nutzte zwei Weltausstellungen 1851 in London und 1855 in Paris, hier erstmals in einem „katholischen“ Land mit vielfach säkularisierter Bevölkerung auf dem europäischen Festland, zu internationalen Tagungen mit Bestandsaufnahmen der Lage des Christentums in den unterschiedlichen Ländern. 1857 kam man unter den Auspizien des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. in Berlin zusammen. Inzwischen hatten vor allem die Briten damit begonnen, eine stärkere Öffentlichkeitsarbeit, diplomatische Maßnahmen und Entsendung von Abordnungen in Krisengebiete zu betreiben. An Deutschland wurde immer wieder der Mangel an Religionsfreiheit beklagt, exemplarisch vorgeführt an den Verfolgungsmaßnahmen gegen die Baptisten, deren drei führende Repräsentanten Oncken, Köbner und Lehmann an der Gründungsversammlung teilgenommen hatten. In Homburg v.d.H. (heute Bad Homburg) wurde 1853 eigens eine Konferenz zum Thema durchgeführt, und natürlich kam die Frage 1857 in Berlin zur Sprache.

Die in dem Buch geschilderten Maßnahmen gegen die neue „Sekte“ - Gleiches ließe sich auch in Bezug auf die Methodisten sagen - sind über weite Strecken eine Skandalgeschichte, die in den gängigen Handbüchern der Kirchengeschichte geflissentlich übergangen wird. Sie zeigt aber anschaulich, dass schon im 19. Jahrhundert das Aufeinanderprallen zweier verschiedener Konzepte von Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit angelegt ist, was bis in unsere Tage Auswirkungen hat. Einige der sog. Sektenexperten der Großkirchen betonen noch heute, dass das anglo-amerikanische Verständnis von Religionsfreiheit sich von der deutschen Auffassung unterscheide, so als ob sich ein elementares Menschenrecht unterschiedlichen Kontexten anpasse und als ob es nicht den herrschenden Kirchen hätte abgetrotzt werden müssen, was – mutatis mutandis – bis zur Gegenwart gilt, wenn man beispielsweise an den Rummel um das Kruzifixurteil des BVG denkt. Auch das lehrt ein Blick in die Anfangsgeschichte der EA. Der britische Sekretär der dortigen EA hatte Recht mit der Behauptung, dass nahezu im gesamten protestantischen Deutschland „schärfste Intoleranz“ herrsche. Für Friedrich Julius Stahl, Mitglied im preußischen Evangelischen Oberkirchenrat und Vorsitzender der Berliner Pastoralkonferenz, war „unbegrenzte Religionsfreiheit“ nichts anderes als „Anarchie auf religiösem Gebiet“, und für Ernst Wilhelm Hengstenberg „ein Stück Revolution“, weshalb größte Vorsicht geboten sei.

Nicht nur die Religionsfreiheit war permanent auf der Agenda der EA, auch Fragen der Sonntagsheiligung, der Mission, des Kampfes gegen den Unglauben, gegen Rationalismus, Skeptizismus, Atheismus sowie das ultramontane Wiedererstarken der Papstkirche, hochkirchliche Tendenzen und ein myopischer Konfessionalismus hielten die Protagonisten und die EA mit ihren Zweigvereinen (in Deutschland anfänglich als „Evangelischer Bund“ bekannt) in permanenter Kampfstimmung. Die Ausweitung nach Indien, der dornige Weg in den USA und weitere Berichte aus einzelnen Ländern, darunter auch das Osmanische Reich, beenden dieses Kapitel. Das folgende Kapitel ist ähnlich aufgebaut: die äußeren Bedingungen wie die Kriege (Einigungskrieg in Italien, deutsch-dänischer Konflikt, amerikanischer Bürgerkrieg) werden in ihrer Bedeutung behandelt, und dann als weiterer Höhepunkt der Entwicklung die Allianzkonferenz in Genf 1861 mit ihren Auswirkungen sowie eine weitere Weltausstellung in London 1862, die genutzt wurde, um internationale Aufmerksamkeit auf die EA zu ziehen. Wiederum ist das Thema Religionsfreiheit zentral, und die Schilderungen der Arbeit in den Ländern zeigen, wie stark sich die EA auch für einzelne Individuen, die Verfolgungen ausgesetzt waren, engagieren konnte.

Das nachfolgende Halbkapitel beschäftigt sich vornehmlich mit den Allianzkonferenzen in Amsterdam (1867) und in New York (1873), nachdem es in den USA zu einer Neugründung der EA gekommen war. Herausragend bei der inhaltlichen Gestaltung erwies sich der Deutschschweizer Philipp Schaff, der in Deutschland Theologie studiert hatte, in die USA ausgewandert war und dort als Theologieprofessor wirkte. Der abschließende 4. Teil behandelt die Allianzversammlung in Basel 1879 und ihre Wirkungen. In dieser Zeit ist eine spürbare Liberalisierung der Religionspolitik in etlichen Ländern für ein Wachsen der EA und ihrer Anliegen verantwortlich. Gleichzeitig treten ihre Repräsentanten sehr selbstbewusst gegenüber Politikern auf, was besonders auffällig in Konstantinopel bzw. dem Osmanischen Reich ist, aber auch für Russland gilt.

Der biblische Ruf nach Einigkeit unter Christen aus unterschiedlichen Nationen und Kulturen durch Begegnung und geistlichen Austausch, ohne dass die Einzelnen ihre denominationellen Besonderheiten aufgeben mussten, ist die Triebfeder, die zur Gründung der EA führte. Dazu gesellten sich bald praktische Fragen, wie sie dann wieder in der ökumenischen Bewegung im 20. Jahrhundert auftreten. Insofern ist die EA in der Tat eine erste umspannende „Ökumene“, auch wenn sie sich bewusst nicht die Kirchen, sondern eigenverantwortliche Christen aus unterschiedlichen (protestantischen) Kirchen als Partner wählte. Religionsfreiheit, aber auch Fragen der Wirtschaftsethik (Indien; Opiumhandel) und der Friedensethik während der ausgebrochenen Kriege zeigen die Notwendigkeit, gesellschaftliche Themen anzusprechen, aus christlichem Geist eine Verständigung zu suchen und durch Lobbyarbeit und Diplomatie die gefundenen Einsichten umzusetzen. Auch hier nimmt die EA vorweg, was die ökumenische Bewegung später wieder aufgreift. Die Berichte über den Zustand der Kirchen in einzelnen Ländern sowie die Gebetswoche in der ersten Januarhälfte zeigen eine globale Sicht, die geistlich untermauert wird. In gewisser Weise ist die EA Ausdruck „evangelischer Katholizität“ und die New Yorker Allianzkonferenz 1873 das Gegenstück zum Ersten Vatikanischen Konzil.

Das Buch enthält unendlich viele Fakten und Informationen. Man muss geradezu von einer „Detailverliebtheit“ des Autors sprechen, was indes keineswegs negativ gemeint ist, was aber den gewaltigen Umfang erklären hilft. Der Fleiß beim Zusammentragen der Details und der abertausende Anmerkungen ist bewundernswert. Dennoch will es scheinen, dass der Leser oft keinen „roten Faden“ mehr erkennen kann und dass bei der Suche danach auch die Resümees wenig Hilfe bieten, weil ausgerechnet diese nach Meinung des Rezensenten zu kurz geraten sind. Dem Verf. ist lebhaft zuzustimmen, dass es für heutige „Ökumeniker“ und „Evangelikale“ äußerst empfehlenswert wäre, sich mit der Anfangsgeschichte der EA vertraut zu machen. Dann wären Kurskorrekturen auf allen Seiten bitter notwendig. Wie erklärt es sich sonst, dass ausgerechnet ein dezidierter Fundamentalist aus Deutschland in der weltweiten Allianz für das Thema „Religionsfreiheit“ Verantwortung trägt?


Zum Rezensenten:
Dr. Erich Geldbach, geb, 1939, Prof. em. für Ökumene und Konfessionskunde an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, langjähriger Wissenschaftlicher Referent am Konfessionskundlichen Institut des Evangelischen Bundes in Bensheim.

Refbacks

  • Im Moment gibt es keine Refbacks




Tübingen Open Journals - Datenschutz