Karin Müller-Kelwing, Die Dresdner Sezession 1932. Eine Künstlergruppe im Spannungsfeld von Kunst und Politik (Studien zur Kunstgeschichte, Band 185), Hildesheim/Zürich/New York 2010, Georg Olms Verlag, 618 S., 78,00 EUR, ISBN 978-3-487-14397-2


Der künstlerische Elitenwechsel, den die Nationalsozialisten nach der Machtübernahme vollzogen, ist von der kunstgeschichtlichen Forschung ausführlich dokumentiert worden. Dies gilt sowohl für die Ausschaltung der als „entartet“ diffamierten Moderne als auch für die Förderung und Heroisierung einer neuen „deutschen“ Staatskunst. Über die künstlerische Grauzone, das weite Feld einer gemäßigt modernen, gegenständlich arbeitenden Kunst, in dem der größte Anteil der Kunstproduktion der 1930er Jahre entstand, wissen wir dagegen bis heute nur sehr wenig. Karin Müller-Kelwing hat mit ihrer Dissertation über die „Dresdner Sezession 1932“ erste Schritte unternommen, um dieses Feld zu erschließen.

Die 1932 gegründete Künstlergruppe ist nicht zu verwechseln mit der „Dresdner Sezession Gruppe 1919“, die nach dem Ersten Weltkrieg mit Künstlern wie Otto Dix und Conrad Felixmüller die Tradition einer sozialkritischen, arbeiternahen Dresdner Kunst begründete, welche in den späten 1920er Jahren nach dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise und im Zuge der sich verschärfenden sozialen Gegensätze von der Dresdner ASSO, der Assoziation revolutionärer bildender Künstler, aufgenommen und fortgesetzt wurde. Mit den politischen und sozialen Ansprüchen dieser Gruppen, die mit dem veristischen Realismus, dem politischen Expressionismus und neuen bildkünstlerischen Agitationsformen eigene, radikale Ästhetiken hervorbrachten, hatte das Programm der „Dresdner Sezession 1932“ trotz personeller Überschneidungen nicht mehr viel zu tun. In der Tradition der Sezessionsbewegungen formulierte man den Willen zur künstlerischen Selbstständigkeit und Erneuerung, ohne sich jedoch politisch und ästhetisch zu sehr festzulegen. Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Situation, von der die meisten Künstler zu Beginn der 1930er Jahre betroffen waren, wenn sie nicht als Beamte oder Angestellte im Dienste des Staates standen oder mit dem Prominentenstatus gesegnet waren, verstand sich die „Dresdner Sezession 1932“ als eine Künstlergenossenschaft, die vor allem die wirtschaftlichen Interessen ihrer Mitglieder vertrat und versuchte, ihnen Ausstellungsmöglichkeiten zu verschaffen. Die Manifestkultur der Avantgarde war einem organisatorischen Pragmatismus gewichen.

Vor diesem Hintergrund ist es sicherlich kein Zufall, dass von der „Dresdner Sezession 1932“ kein Gründungsmanifest erhalten ist, sondern allein Ausstellungskataloge, die das künstlerische Selbstverständnis und die künstlerischen Aktivitäten der Gruppe dokumentieren. Im Herbst 1932 fand die erste Schau in den Räumen des Sächsischen Kunstvereins statt, im Herbst des folgenden Jahres beteiligte sich die Gruppe an einer gemeinsamen Ausstellung Dresdner Künstlergruppen, wenige Monate später warb sie in einer Ausstellung „Weihnachtshilfe der Dresdner Sezession“, die in den Räumen einer privaten Galerie stattfand, um finanzielle Unterstützung und Lebensmittelspenden für ihre Mitglieder. 1934 beteiligte man sich an der „Sächsischen Kunstausstellung“, und als die Ausstellungsmöglichkeiten in Dresden versiegten, begab man sich unter dem Motto „Land und Leute“ 1936 in die nähere Umgebung, nach Altenburg und Freiberg, um sich dort zu präsentieren und Interessenten und Käufer zu finden. Die Ausstellung in Freiberg war der letzte öffentliche Auftritt der „Dresdner Sezession 1932“. Soweit es der Quellenlage zu entnehmen ist, wurde die Gruppe nicht verboten, löste sich auch nicht auf, sondern hörte einfach auf zu existieren.

Angesichts der nur sehr kurzen und wenig spektakulären Geschichte der „Dresdner Sezession 1932“ und eines kaum erkennbaren künstlerischen Profils, das die Gruppe zu einem Fall von allenfalls regionaler Bedeutung macht, kann man sich durchaus fragen, ob es sich um ein geeignetes Thema für eine kunstgeschichtliche Dissertation handelt. Die Art und Weise, in der Karin Müller-Kelwing die Geschichte der Dresdner Künstlergruppe aufarbeitet, widerlegt allerdings die Zweifel. Mit äußerster Akribie dokumentiert und kommentiert sie die Forschungslage, sortiert die in sorgfältiger Recherche zusammengetragenen Quellen und rekonstruiert die kunstgeschichtlichen, sozialgeschichtlichen und kunstpolitischen Hintergründe. Es war die richtige Entscheidung, das Hauptaugenmerk nicht auf die Ästhetik der Bilder zu legen, sondern die Akzente in den Bereichen der Institutionsgeschichte, der Künstlersozialgeschichte und der Kunstpolitik zu setzen. Faktenreich und detailliert entwirft die Autorin so – unter Einbeziehung der Vor- und der Nachgeschichte der „Dresdner Sezession 1932“ – eine Organisationsgeschichte Dresdner Kunst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Wie eingangs erwähnt, ist es vor allem das Verhalten der Künstler in den ersten Jahren nach 1933, das die „Dresdner Sezession 1932“ zu einem interessanten Thema von fachübergreifender Bedeutung macht. Karin Müller-Kelwing verfügt über ausgezeichnete, fundierte Kenntnisse der nationalsozialistischen Kunstpolitik und kann das Verhalten und die Aussagen der Künstler sehr genau einschätzen. Es ist überaus spannend zu lesen, wie sich die Künstler, dem Sezessionsgedanken folgend, ihrer Eigenständigkeit und Unabhängigkeit zu versichern suchen und sich gleichzeitig, je bedrohlicher die Zustände werden, den politischen Bedingungen mehr und mehr anpassen. Künstler, die ursprünglich dem linken politischen Lager zugehörig waren, übernehmen die Rhetorik der neuen politischen Führung und werden am Ende sogar Mitglied der NSDAP. Das Beharren auf künstlerischer und institutioneller Selbstständigkeit, jenseits aller Vorgaben der Reichskammer der bildenden Künste, und das zaghafte Eintreten für den schon früh diffamierten und aus seinem Dresdner Lehramt entlassenen Otto Dix, der anfänglich mit der Gruppe ausstellte, deutet Karin Müller-Kelwing – der Sympathie für ihre Künstler geschuldet, aber etwas überpointiert – als schwache Zeichen des Widerstands. Deutlich überwiegen aber die beschriebenen Anpassungsleistungen, die die Künstler erbrachten. Es drängt sich die Frage auf, was die Freiheit der Kunst, für die die Künstler eintraten, wert war, wenn sie sich dafür in politische Abhängigkeit begeben mussten? 

Die Bereitschaft, für das Aufrechterhalten eines vermeintlichen Ideals dem wirtschaftlichen und politischen Druck nachzugeben, ist symptomatisch für die künstlerischen, intellektuellen und wissenschaftlichen Milieus im Nationalsozialismus. Karin Müller-Kelwing ist es in einer bemerkenswerten Studie gelungen, an dem an sich eher unscheinbaren, in dieser Hinsicht aber signifikanten Beispiel der „Dresdner Sezession 1932“ die Widersprüche künstlerischen Handelns im Nationalsozialismus sichtbar werden zu lassen. Der umfangreiche wissenschaftliche Anhang mit Künstlerbiographien, tabellarischen Übersichten, ausführlichen Quellen- und Literaturverzeichnissen und vor allem mit Faksimiles sämtlicher relevanter Dokumente bestätigt am Ende noch einmal die beachtliche Forschungsleistung und verleiht dem Band einen hohen wissenschaftlichen Gebrauchswert.


Zum Rezensenten:
Prof. Dr. Martin Papenbrock, geb. 1963, ist apl. Professor für Kunstgeschichte am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und Vorsitzender der Guernica-Gesellschaft e.V.

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