Thomas Mittmann, Kirchliche Akademien in der Bundesrepublik Deutschland, Gesellschaftliche, politische und religiöse Selbstverortungen (Geschichte der Religion in der Neuzeit, Bd. 4), Göttingen, 2011, Wallstein Verlag, 262 S., 29,90 Euro, ISBN 978-3-8353-0864-0.


Kirchliche Akademien – Orte, an denen sozialer und religiöser Diskurs zugleich entsteht, die aber wiederum selbst Teil des Diskurses einer Gesellschaft sind. Thomas Mittmann, der Verfasser des hier besprochenen Sachbuchs, begibt sich auf eine über 60-jährige Zeitreise gesellschaftlicher, politischer und religiöser Selbstfindung der beiden Großkirchen in der Bundesrepublik Deutschland. Der Verfasser widmet sich in erster Linie der Etablierung kirchlicher Akademien evangelischer und katholischer Prägung. Eine wichtige Rolle spielen aber auch die konfessionellen Medien oder nicht-kirchliche Organe, die über Tagungsangebote mit den Kirchen in Kontakt kamen.

Mittmann studierte Geschichte, Philosophie und Politikwissenschaften in Bochum, die Promotion erfolgte im Jahr 2005 [1] . Seit August 2005 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bereich Neuere Geschichte III und Theorie der Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum, derzeit im Rahmen der DFG-Forschergruppe Transformation der Religion in der Moderne. In diesem Kontext ist auch der hier besprochene Band entstanden. Die 2011 vorgelegte deskriptive Studie ist auf sehr aktuellem Stand, sie berücksichtigt Entwicklungen bis in das Jahr 2010. In fünf Kapiteln beschreibt Mittmann in chronologischer Weise und nach Konfessionen getrennt die Entstehungszusammenhänge kirchlicher Akademien in Deutschland, ihre Beziehungen und Funktionen im gesellschaftspolitischen Kontext bis in unsere Tage.

Für Mittmann beginnt die Entwicklung konfessioneller Bildungseinrichtungen bereits im Umfeld des Nationalsozialismus in Deutschland: So hätten die Deutschen Christen mit Blick auf eine adäquate Volksbildung bereits 1933 im Rheinland unter dem Namen Evangelische Akademie kirchliche Bildungs- und Schulungsinstitutionen eingerichtet. Ab 1945 wurden nach Ende des Krieges erste evangelische Einrichtungen gegründet – etwa im baden-württembergischen Bad Boll (S.17). In der Nachkriegszeit – ähnlich der bundespolitischen Landschaft - war die Dozentenschaft an kirchlichen Akademien von nationalsozialistischer Vergangenheit geprägt (ebd.). Mittmann widmet sich in seiner Darstellung stringent zunächst den protestantischen Akademien und hält fest, dass deren Ausrichtung sowohl eng an kirchenpolitische Kontexte aber auch an die Vorstellungen des jeweiligen Einrichtungsleiters geknüpft waren; wichtige Pfeiler der akademischen Ausrichtung seien Wissenschaft, Mission und Diakonie gewesen (S.20). Innerkirchliche Anerkennung erfuhren die Akademien offiziell auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag 1949, nachdem sich im Jahr zuvor bereits die Gesellschaft Evangelische Akademie in Deutschland gegründet hatte, ein Dachverband zur Unterstützung in „Freundeskreisen“ (S. 20f.).

Nach 1950 rückte die Zusammenarbeit mit den Medien in den Fokus der akademischen Tätigkeit: Die Christliche Presse-Akademie (CPA) entstand im Umfeld eines Journalistenlehrgangs in Bad Boll 1950 mit dem Ziel einer fachlichen und durch Theologen praktizierten berufsethischen Förderung des journalistischem Nachwuchses. Diese Arbeit wurde in den Folgejahren an Orten wie Loccum oder Hermannsburg weiter geführt, z.B. unter der Regie von Hans Lilje (S.26).

Wenn auch für den Verfasser die im Vorangegangenen beschriebenen evangelischen Akademien nicht direkt mit den katholischen zu vergleichen sind, entsprachen die katholischen Einrichtungen im Verlauf der 1950er Jahre – etwa in Würzburg, Aachen, Freiburg oder Hildesheim – den Einrichtungen protestantischer Prägung (S.43ff.). Mittmann wird zu Beginn seiner Arbeit noch deutlicher: „Die katholischen Akademien sind […] nur vordergründig zunächst einmal als Folge der protestantischen Gründungen zu verhandeln, auch wenn ihre Initiatoren bald um die Entwicklung einer eigenen konfessionellen Identität bemüht waren“ (S.18).

Besonders hinzuweisen ist in diesem Kontext auch auf die Etablierung von Akademien nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil im Jahr 1965 und später: es werden etwa anhand West-Berlins, Triers oder Schwertes exemplarisch Diözesaneinrichtungen herausgegriffen, die in ihrer Anfangszeit als „wandernde“ Institute ohne festes Domizil geführt wurden (S.59ff.).

Die Rolle der Akademien bei der Vernetzung von Protestantismus und Katholizismus im Zuge der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung – Stichwort „neue soziale Bewegungen“ – behandelt Thomas Mittmann in einem weiteren Abschnitt seiner Historiographie (S.105ff.). Themenfelder wie „Dritte Welt“, „Emanzipation der Frau“ oder „Friedenssicherung“ boten ab den 1960er Jahren „hervorragende Handlungsfelder für die Sicherung und Erweiterung kirchlicher Kompetenzen“ (ebd.).

Ein weiterer Aspekt von zentraler Bedeutung ist der zunehmende Einfluss der „religiösen Nachfrage“ auf die Entwicklung der Akademien (S.208ff.). Mittmann beschreibt hier die Tendenzen der Akademien seit den 1960er Jahre, ihr Programm und ihre Ausrichtung nicht mehr hauptsächlich durch Vorgaben der kirchlichen Institutionen, sondern zunehmend durch das veränderte Verhalten der Glaubenden bestimmen zu lassen. Von Bedeutung sei hier neben anderen religiösen Strömungen oder Weltreligionen insbesondere die distanziertere, individualisierte Religiosität, d.h. die Suche nach Sinn, die sich bis in die heutigen Tage fortsetzt. Die kirchlichen Akademien begegneten diesen gesellschaftlichen Tendenzen mit der Vermeidung einer allzu kirchlich klingenden Sprache, Mittmann schreibt von der „Selbstsäkularisierung kirchlicher Semantik“ (S.218f.).

Thomas Mittmann kommt in seiner Zusammenfassung (S.225ff.) zu dem Schluss, die Geschichte der protestantischen und katholischen Akademien in Deutschland zeige sowohl die kontinuierliche Relevanz von Religion als auch die stets vorhandene Anpassungsfähigkeit kirchlich-religiöser Bildungseinrichtungen auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg hätten sich die neu gegründeten Akademien als wandelbar und flexibel erwiesen. Sie werden – ob evangelisch oder katholisch geprägt – als Teil der Kirche beschrieben, die sich den wechselnden Anforderungen an ihre Position in der Gesellschaft anpassten und gleichzeitig stets aufs Neue zur Neubestimmung oder Festigung der Daseinsberechtigung von Kirche fungierten und fungieren.



[ 1] Die Promotionsschrift trägt den Titel „Vom Günstling zum Urfeind der Juden. Die antisemitische Nietzsche-Rezeption in Deutschland bis zum Ende des Nationalsozialismus“, Würzburg 2006. Zu diesen und weiteren Informationen vgl. Homepage der Ruhr-Universität Bochum: http://www.ruhr-uni-bochum.de/lehrstuhl-ng3/mitarbeiter/mittmann.html


Zum Rezensenten:
Hans-Christian Roestel M.A., geboren 1980 in Hamburg, Journalist in Saarbrücken.

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