Albrecht Dümling, Die verschwundenen Musiker. Jüdische Flüchtlinge in Australien, Köln/Weimar/Wien 2011, Böhlau-Verlag, 444 S., 49.90 EUR, ISBN 978-3-412-20666-6


Mit Die verschwundenen Musiker. Jüdische Flüchtlinge in Australien legt Albrecht Dümling das Ergebnis von fast 20 Jahren Forschung vor, die in den 1990er Jahren mit einem ersten Kontakt zu dem Komponisten George Dreyfus und einer Tagung im Dresdner Zentrum für zeitgenössische Musik begann und in den folgenden Jahren durch ein Forschungsprojekt am Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung, ein Stipendium der australischen Nationalbibliothek und die Verleihung des Europäischen Kulturpreises KAIROS der Alfred Toepfer Stiftung weiter ermöglicht wurde. Entsprechend kenntnisreich ist seine Darstellung des Musikerexils in Australien, die nicht nur die Musikprominenz, sondern auch das Exil der „kleinen Leute“ auf dem fernen Kontinent in den Blick nimmt, und dabei einen umfassenden Forschungsansatz mit Fragen zur Biographik, Gesellschaftspolitik, Institutionen, Werken und zur Wirkungsgeschichte entwickelt. Indem Dümling gelegentlich die persönliche Bekanntschaft zu einzelnen Musikern und Musikerinnen hervorhebt, wird zudem deutlich, dass sich seine Forschung am Rande einer Zeit bewegt, die gerade noch von Zeitzeugen geprägt ist.

Albrecht Dümling beginnt seine Abhandlung mit einem Überblick über die Ausgangslage in Deutschland und Österreich. Immer mit Bezug auf konkrete Biographien schildert er die politisch-wirtschaftliche Lage jüdischer Gesellschaftskreise insbesondere in Berlin und Wien und die Möglichkeiten, Musik zum Beruf zu machen. Während im Bürgertum Männer den Musikerberuf oft erst ergreifen konnten, nachdem sie einen „ernsthaften“ Beruf erlernt hatten, war es für Frauen manchmal leichter, ihren Interessen nachzugehen, da niemand davon ausging, dass sie diesen Beruf jemals ausüben würden. In der politischen und wirtschaftlichen Situation der 1920er und 1930er Jahre und in der speziellen Situation des Exils bedeutete Musik für Frauen jedoch immer wieder die Möglichkeit, sich den Lebensunterhalt selbst verdienen zu können.

Nachdem die jüdischen Musiker aus ihren Stellungen gedrängt und manchmal noch im Jüdischen Kulturbund aktiv geworden waren, stellte sich die Frage nach einem geeigneten Fluchtziel. Australien war für die meisten nicht das Exilland erster Wahl, da es dünn besiedelt war und kein traditionsreiches Musikleben mit einer ausgeprägten Infrastruktur für Konzert, Oper und Musikausbildung vorweisen konnte. Musik hatte hier lange Zeit nicht hoch im Kurs gestanden und wurde nicht durch staatliche Subventionen gestützt. Zudem wurde Australien, das sich die nationalistische Parole „Ein Kontinent, eine Sprache und ein Volk“ (S. 54) auf die Fahnen geschrieben hatte, von Politik und Gewerkschaften gegen die Einwanderung abgeschottet. In den ersten Jahren nach 1933 war deshalb die Einwanderung nach Australien gering. Erst 1938, nach dem „Anschluss“ Österreichs und der Reichsprogromnacht, erhöhte sich die Zahl der Immigranten.

Nach dem Kriegseintritt Großbritanniens am 3. September 1939 erklärte auch Australien den Kriegszustand mit dem Deutschen Reich. Die Überwachung und Inhaftierung „feindlicher  Ausländer“ waren die Folge ebenso wie Aufrufe zum Boykott deutscher Musik. Am Beispiel der Weintraubs Syncopators, einer Berliner Jazzband, die ähnlich wie die Comedian Harmonists bis 1933 phänomenale Erfolge gefeiert hatte, wird deutlich, welche Auswirkungen die Überwachung, die Beschränkung von Aufenthaltsgenehmigungen, die Einschränkung der Reisefreiheit sowie die Internierung haben konnten. Auch Denunziationen – etwa von Mitgliedern einheimischer Bands, die Konkurrenz fürchteten – gehörten zu den Erfahrungen dieser Zeit. Ende 1939 musste das Ensemble ein Engagement im Rundfunk beenden. Bald folgte die monatelange Internierung einiger Bandmitglieder in Gefängnissen und Lagern. Die in Freiheit verbliebenen Mitglieder gerieten indessen in Existenzschwierigkeiten. Die ursprüngliche Formation kam auch nach dem Ende der Internierung nicht wieder zusammen, und die Bandgründer Horst Graff und Stefan Weintraub mussten letztlich den Musikerberuf aufgeben.

Das Ausmaß der Internierung war gewaltig. In 19 Lagern wurden etwa 7000 Personen, die bereits in Australien gelebt hatten, sowie weitere 8000 aus Übersee, die beispielsweise mit der Dunera von Großbritannien nach Australien deportiert worden waren, manchmal für Jahre unter primitiven Lebensbedingungen festgehalten. In den Camps Hay und Tatura bildete sich trotz der widrigen Umstände schnell ein erstaunliches Kulturleben heran. „Es gibt eine musikalische Gesellschaft, die Theaterspiele und literarische Abende organisiert – einschließlich Shakespeare- und Chaucer-Lesungen –, musikalische Komödien, Vaudevilles etc.“ (S. 215), fasste Major Julian Layton, ein Abgesandter der britischen Regierung, die Situation in einem Bericht zusammen. In Anlehnung an das Schneewittchen-Märchen der Brüder Grimm und den gleichnamigen Zeichentrickfilm Walt Disneys von 1937 entstand im Lager Tatura 1941 die Revue Snow White Joins Up. Das von zu Hause vertriebene Schneewittchen, Bezüge zur aktuellen politischen Situation und Pointen, die sich aus der Zweisprachigkeit der Internierten ergaben, boten dem Publikum Ansätze zur Identifikation.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs folgte eine weitere Phase der Unruhe, da sich die Flüchtlinge entscheiden mussten, ob sie in Australien bleiben wollten. Auch konnte in dieser Lage die Frage, ob der Lebensunterhalt mit dem Musikerberuf zu bestreiten sei, nicht immer positiv beantwortet werden, da nach 1945 das Engagement in festen Stellen weiterhin restriktiv behandelt wurde. So hatten sich zwar ab Mitte der 1930er Jahre in den Hauptstädten der sechs australischen Bundesstaaten nach und nach beständige Symphonieorchester entwickelt, aber die von dem Dirigenten Eugene Ormandy geäußerte Forderung, Musiker aus Europa sollten sich auf Orchesterstellen bewerben dürfen, verhallte folgenlos. Die australische Musikergewerkschaft bestand weiterhin auf Aufnahmesperren und Quotenregelungen.

Auch wenn Albrecht Dümling immer wieder von gescheiterten Musikerbiographien berichtet, erfuhr das australische Musikleben durch die Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich in fast allen musikalischen Sparten dauerhafte Anregungen. Im Bereich der Instrumentalmusik war es beispielsweise der Bratscher Richard Goldner, der auf Repertoirepflege und Publikumsverhalten Einfluss nahm. Da er nicht Mitglied eines Orchesters werden konnte, begann er ersatzweise mit der Herstellung von Schmuck. Wirtschaftlich erfolgreich wurde er aber erst, nachdem er den Auftrag erhalten hatte, für die Armee einen speziellen Reißverschluss zu entwerfen. Die Einnahmen aus dieser Produktion ermöglichten ihm 1945 die Gründung des Instrumentalensembles Richard Goldner’s Sydney Musica Viva, das an Ideen Hermann Scherchens anknüpfte und in überaus sorgfältig geprobten Konzerten klassisches und zeitgenössisches Repertoire vorstellte. Nach über 600 Konzerten musste das Ensemble seine Tätigkeit 1951 wegen finanzieller Schwierigkeiten einstellen. Die Idee der Musica Viva wirkte aber fort und wurde später unter veränderten Vorzeichen wieder aufgenommen.

Albrecht Dümling ist es gelungen, die Biographien von fast 100 Musikern und Musikerinnen detailliert zu recherchieren. Ihre Lebenswege scheinen sowohl in den verschiedenen Kapiteln seiner Abhandlung als auch in einem umfangreichen Anhang mit Kurzbiographien auf. Daneben enthält der Band ausführliche Verzeichnisse von Literatur und Quellen, eine Liste der Schiffe, mit denen die Flüchtlinge nach Australien kamen, ein Personenregister sowie Kartenmaterial. Ein Bildteil in der Mitte des Buches rundet die Arbeit ab.


Zur Rezensentin:
Sophie Fetthauer, geb. 1971 ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Projektes Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Hamburg.

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