Horst Junginger, Die Verwissenschaftlichung der „Judenfrage“ im Nationalsozialismus (Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, Bd. 19), Darmstadt 2011, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 480 S., 59,90 EUR, ISBN 978-3-534-23977-1
Im Mittelpunkt der religionswissenschaftlich inspirierten Studie
steht der Versuch der Nationalsozialisten, den Rassenantisemitismus
wissenschaftlich zu legitimieren und somit das Odium eines primitiven
Radau-Antisemitismus, gegründet auf vormodernen Vorurteilen,
abzustreifen. Horst Junginger geht dabei insbesondere der Frage nach,
wie sich tradierte christlich-religiöse Stereotypen der
Judenfeindschaft und moderne nicht-religiöse Begründungen
gegenseitig beeinflussten und ergänzten. Denn entgegen dem
Anspruch der Nationalsozialisten, einen modernen, naturwissenschaftlich
unterfütterten Rassenbiologismus zu vertreten, stand das NS-Regime
bei der Rassengesetzgebung vor dem Dilemma, dass sich das Konstrukt
einer einheitlichen jüdischen Rasse nicht mit
naturwissenschaftlichen Methoden nachweisen, sondern nur mit dem
Kriterium der Religionszugehörigkeit definieren ließ. Die
Unterscheidung zwischen „Ariern“ und „Juden“, die aus dem deutschen
Volk ausgeschlossen werden sollten, beruhte allein auf der Auswertung
der kirchlichen Taufverzeichnisse. „Nichts außer der Religion
ermöglichte die Verwandlung eines Juden in einen Rassejuden und
keine andere Urkunde als der Taufschein bedeutete das Entree-Billet in
den arischen Rassenverband.“
Die nationalsozialistischen Bemühungen zur Erforschung der
„Judenfrage“ fielen im akademischen Milieu der Eberhard Karls
Universität auf einen sehr fruchtbaren Boden, wie Junginger an der
Geschichte dieser traditionsreichen, zutiefst protestantisch
geprägten Universität nachweist. Hier war man noch in der
Weimarer Zeit stolz darauf, keinen jüdischen Hochschullehrer auf
eine ordentliche Professur berufen zu haben.
Tübingen war zugleich die Wirkungsstätte des hochangesehenen
Theologen Gerhard Kittel, der 1926 die Nachfolge Adolf Schlatters
angetreten hatte. Er galt als ausgewiesener Experte für das antike
Judentum und palästinische Urchristentum und übernahm 1933
die Neuherausgabe des Theologischen
Wörterbuchs zum Neuen Testament, das Kittel als das
„antijüdischste Buch der ganzen Welt“ bezeichnete. Im Mai
desselben Jahres trat er (zusammen mit drei weiteren Professoren der
Evangelisch-theologischen Fakultät) der NSDAP bei und
plädierte in seiner Schrift Die
Judenfrage für die strikte Ausgrenzung der jüdischen
Minderheit. Er berief sich dabei auf den tradierten christlichen
Antijudaismus, der für ihn – wie für viele andere Theologen
dieser Zeit – zum Grundbestand des christlichen Weltbildes und der
christlichen Verkündigung zählte. Da die Juden den
Erlöser getötet hätten und sich einer Konversion zum
Christentum, dem neuen Bund, verweigerten, könne die Lösung
der „Judenfrage“ nur im Zuge einer strengen Separierung erfolgen. Er
erwog auch „eine gewaltsame Ausrottung des Judentums“, die aber
für „eine ernsthaft Betrachtung nicht in Frage“ komme. Um der
Assimilation und inneren Zersetzung zu begegnen, pries Kittel als
Vorbild die Ghettoisierung der Juden bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts
an, womit das Christentum einen wesentlichen Beitrag zur
Rassenentwicklung des Abendlandes geleistet habe. Erst im Gefolge von
Aufklärung und Emanzipation habe die Gefahr eines neuen
Weltjudentums wieder erstehen können. Wenn der
nationalsozialistische Staat sich nunmehr dieser Gefahr erwehre, so
verfolge er damit nicht nur ein staatspolitisch wünschenswertes
Ziel, sondern greife den Grundgedanken der christlich-mittelalterlichen
Separierung wieder auf.
Die Entwicklung und Radikalisierung dieser und ähnlicher
Positionen analysiert Junginger in einem breiten Kontext, der das ganze
Geflecht unterschiedlicher Disziplinen und Forschungsstätten der
nationalsozialistischen „Judenforschung“ nachzeichnet. Im Mittelpunkt
steht jedoch die Universität Tübingen und das intellektuell
wie moralisch desaströse Wirken der dort beheimateten
Hauptprotagonisten.
Die wissenschaftliche Beschäftigung sollte immer auch einen
praktischen Beitrag zur Lösung der „Judenfrage“ leisten, auch wenn
dies nach 1945 aus naheliegenden Gründen geleugnet wurde. So
arbeitete etwa Kittel sehr aktiv in der 1936 in München
gegründeten Forschungsabteilung
Judenfrage des Reichsinstituts für Geschichte des neuen
Deutschlands (Walter Frank) mit, leistete Zuarbeiten für
die Wanderausstellung Der ewige Jude
(1937/38) oder verfasste gutachterliche Stellungnahmen zur rassischen
Bestimmung der persischen, afghanischen und kaukasischen Juden (1943).
Sein Schüler Karl-Georg Kuhn wiederum wurde 1942 zum ersten
außerplanmäßigen Professor des Dritten Reiches
für die Erforschung des Judentums und der „Judenfrage“ ernannt und
beteiligte sich aktiv an der Ausplünderung jüdischer
Bibliotheken im besetzten Osteuropa.
Als anerkannte Talmud-Experten bedienten Kittel und Kuhn im
wissenschaftlichen Gewande die antisemitischen Klischees, wonach es
Juden im Talmud gestattet oder gar geboten sei, Nichtjuden zu
töten, und orchestrierten damit die nationalsozialistische
Rhetorik der legitimen Selbstverteidigung gegen die jüdische
Weltverschwörung. So erklärte Kittel in einem Gutachten
für den geplanten Schauprozess gegen Herschel Grynspan
ausdrücklich, die Schüsse auf Ernst vom Rath in der Pariser
Gesandtschaft seien als Fanal eines jüdischen Angriffskrieges zu
verstehen.
Die Radikalisierung der NS-Judenpolitik bedurfte dieses Zuspruchs
sicherlich nicht, doch erst die wissenschaftliche Legitimierung der
tradierten, vielfach religiös begründeten antijüdischen
Ressentiments schuf die Aura einer objektiven Notwendigkeit zur
Lösung der „Judenfrage“. So ist es nach Ansicht Jungingers kein
bloßer Zufall, dass eine beachtliche Anzahl der Exekutoren der
Endlösung aus dem studentischen Milieu der Universität
Tübingen stammte: Rudolf Bilfinger, Erich Ehrlinger, Alfred Rapp,
Martin Sandberger, Walter Stahlecker, Eugen Steimle oder Ernst und
Erwin Weinmann. Sie stellten keine sozialen Außenseiter dar,
sondern kamen aus gut bürgerlichen, teils tief protestantisch
geprägten Elternhäusern – fünf der Genannten hatten ihr
Studium sogar mit einer Promotion abgeschlossen. Aus dem weiteren
Tübinger Umfeld stammten auch die berüchtigten
Einsatzgruppenführer Theodor Dannecker und Paul Zapp. Sie waren,
wie Junginger in biographischen Skizzen ausführt, bereits
weltanschaulich gefestigte Antisemiten, als sie dem SD und der SS
beitraten. „Sie mordeten nicht, weil man es ihnen befohlen hatte,
sondern weil sie es für richtig hielten und weil sie in ihrem
Innern von der Notwendigkeit überzeugt waren, zum Wohle
Deutschlands so viele Juden als nur irgend möglich umzubringen.“
Sie waren, wenn man so will, Täter mit gutem Gewissen. Gewiss
hatten angesehene akademische Lehrer wie Gerhard Kittel, Karl-Georg
Kuhn oder Max Wundt nicht offen zur Ermordung des europäischen
Judentums aufgerufen, aber sie hatten mit ihrer Hetze die
Außerkraftsetzung aller moralischen Maßstäbe und
rechtlichen Normen der bürgerlichen Gesellschaft legitimiert.
Nach 1945 gelang fast allen Tätern nach der Verbüßung
relativ kurzer Gefängnisstrafen die Rückkehr in ihr
bürgerliches Leben, wobei eine sehr aktive kirchliche Lobby 1958
auch die Freilassung Sandbergers, eines der Haupttäter des
Völkermordes im Baltikum, erreichte. Kuhn wurde von einer
nachsichtigen Spruchkammer entlastet und konnte 1949 seine akademische
Laufbahn (nunmehr wieder im Rahmen der Evangelisch-theologischen
Fakultät) zunächst in Göttingen, später in
Heidelberg fortsetzen. Kittel verstarb 1948 vor Aufnahme eines
Spruchkammerverfahrens.
„Die im Medium der Rasse“ erfolgte wissenschaftliche Begründung
für das ‚Judenproblem’ war nicht nur imstande“, so das
Resümee Jungingers, „religiöse und nichtreligiöse
Aspekte der Judenfeindschaft zu einer explosiven theologischen Mischung
zusammenzuballen. Sie bildete auch das Missing link zwischen
‚gewöhnlichen’ Formen der Judenfeindschaft und genozidalen
Antisemitismus der Schoah.“ Diese These wird gewiss auch auf
Widerspruch stoßen, da vielfach mit einer antithetischen
Gegenüberstellung argumentiert wird und der religiöse
Antijudaismus die Konversion zum christlichen Glauben als
Überlebenschance bereithielt. Dennoch stehen „beide Formen der
Judenfeindschaft nicht in einem antagonistischen
Ausschließlichkeitsverhältnis zu einander“, wie Junginger zu
Recht betont. „Vielmehr charakterisiert sich auch der moderne
Antisemitismus durch das Nebeneinander von religiösen und
nichtreligiösen Faktoren und zeichnet sich durch eine Vielzahl von
Übergängen und Mischformen aus.“ Diesen engen Konnex am
Beispiel der Eberhard-Karls-Universität gezeigt zu haben, ist der
Verdienst dieser Studie.
Zum Rezensenten:
Dr. Clemens Vollnhals M.A., geb. 1956, ist Stellvertretender Direktor
des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung e.V. und
Lehrbeauftragter für Zeitgeschichte an der TU Dresden.
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