Beatrix Borchard/ Heidy Zimmermann, Musikwelten - Lebenswelten. Jüdische Identitätssuche
in der deutschen Musikkultur, Köln 2009, Böhlau-Verlag,
49,90 EUR, 406 S., ISBN: 978-3-412-20254-5
Zum 100. Todestag von Joseph Joachim fand in Hamburg vom 9.-11. November 2007 eine Tagung statt, die sich mit der "Rolle der Musik im jüdischen Akkulturationsprozess" (9) beschäftigte. Die Ergebnisse haben Borchard und Zimmermann jetzt in einem Sammelband vorgelegt, dessen Untertitel "Jüdische Identitätssuche" den Fokus stärker auf die Musiker und Komponisten selbst, auf ihre aktive Teilnahme am Prozess der Identitätsbildung richtet.
Nur sechs der insgesamt 23 Beiträge befassen sich explizit mit Josef Joachim. Seine Person ist eher Zentrum und Bezugspunkt als Schwerpunkt. Im Wechsel zwischen "übergreifenden Fragestellungen ... und Fallstudien" (10) werden z.B. die "Hörwelt der Synagoge" (Reinhard Flender), das Wirken Salomon Sulzers (Barbara Boisits) und Lea Mendelssohns (Cornelia Bartsch), die "antijüdische Metaphorik" Schumanns (Janina Klassen) und die Geschichte des Sternschen Konservatoriums (Cordula Heymann-Wentzel) untersucht. Sechs Beiträge widmen sich der Zeit nach 1933. So geht Ulrike Migdal "auf einige Aspekte ´jüdischer Musik´ in Theresienstadt" (350) ein und Sophie Fetthauer behandelt die "Identitätsfindung der jüdischen Displaced Persons" in Bergen Belsen nach dem Krieg.
Joseph Joachim als "unjüdischer" Interpret
Joseph Joachim wurde 1831 in Westungarn geboren. Er machte zunächst Karriere als Violinsolist. Die wichtigsten Violinkonzerte des 19. Jahrhunderts sind ihm gewidmet. Joachims Leistungen als Dirigent und Komponist stehen im Schatten seiner größeren Bedeutung als Interpret, Pädagoge und Musikpolitiker. Er wurde 1869 Gründungsrektor der Berliner Musikhochschule. Hochgeehrt und vom Hof unterstützt konnte Joachim in dieser Funktion seine Vorstellungen von deutscher Musikkultur der musikalischen Jugend der Gründerzeit vermitteln.
Joachim ließ sich 1855 in Hannover protestantisch taufen, hat aber "als professioneller Musiker die Frage seiner jüdischen Herkunft offenkundig nicht thematisiert" (123). Welche Rolle spielen Akkulturation und Identitätssuche bei Joachim? An seinem Beispiel zeigt sich die Vielschichtigkeit und Ambivalenz der Problematik. Von vielen in mehrfacher Hinsicht unterschiedlichen Aspekten, die im Buch angesprochen werden, seien wenige herausgegriffen.
1850 ging Joachim als Konzertmeister nach Weimar und schloss Freundschaft mit dem gerade 20-jährigen Hans von Bülow. Als Joachim sich 1857 öffentlich von Liszt distanzierte, kam es vorübergehend zum Bruch. Die spätere Beziehung war durch Bülows "Eifersucht auf Joachims weit ältere und tiefere Freundschaft mit Brahms" (187) belastet; Bülows Bewunderung für den Geiger und Interpreten Joachim blieb trotzdem "zeitlebens ungebrochen" (188).
Vor diesem Hintergrund persönlicher Beziehungen erläutert Hans-Joachim Hinrichsen eine Argumentationsweise, die er im Untertitel seines Beitrags als "Rezeptionsparadoxon" (181) bezeichnet. Bülow war als erklärter Antisemit wie Wagner von der "Existenz eines wahrnehmbaren ´Judentums in der Musik´" (188) überzeugt. Da nun aber Joachims Spiel für Bülow "ein Ideal von Vollendung" (Brief an Wüllner, 188) darstellte und dem postulierten Negativbild jüdischer Musikauffassung in keiner Weise entsprach, blieb nur die Möglichkeit, Joachim als Ausnahme zu begreifen. Hinrichsen belegt "Bülows durchgängige Betonung des ´Unjüdischen´ an Joachims Interpretationskunst" (189).
Bach als Weltbürger und Beethoven als Prophet
Wie Rezeption und Interpretation zusammenwirken, untersucht Michael Heinemann am Beispiel von Bachs Chaconne. Bachs Musik galt im protestantischen Preußen als genuin geistlich. Die Aufführung Bachscher Kammermusik im Konzert, d.h. im Kontext von Unterhaltung, erschien als nahezu unzulässige Profanierung. Dass man aus Rücksicht auf ein Publikum, das an das Hören alter Musik erst herangeführt werden musste, die Partiten zunächst mit einer Klavierbegleitung aufführte, rückte sie noch mehr in die Nähe einer virtuosen Darbietung. Virtuosität aber wurde zunehmend mit Seichtigkeit und ´jüdischer´ Opportunität konnotiert.
Wenn nun Joachim etwa ab Mitte der 1850er Jahre die Chaconne ohne Begleitung aufführte, so gab es für diesen Schritt in Richtung Werktreue nach Heinemann "nicht nur künstlerische Gründe" (112). Zugleich mit einem Interpretationsideal, das Werkstreue anstelle von Virtuosität propagierte, setzte Joachim ein Verständnis der Bachschen Musik außerhalb der christlichen Deutung durch. Der Thomaskantor wurde zum "musikalischen Weltbürger" (111).
Umgekehrt verhält es sich mit Beethoven. Im 19. Jahrhundert entstand eine Reihe von programmatischen Deutungen seiner Sinfonien. Bekannt war Wagners Programm zur 9. Sinfonie, das den Sätzen Verse aus Faust zuordnet und das "im Umfeld der revolutionären Ereignisse von 1848 ... eine revolutionäre Aktualisierung" (124) erfuhr.
Die "ganz andere Interpretation" (124) Joachims betrachtet Beate Angelika Kraus. Unter Joachims Leitung gab es drei Aufführungen zwischen 1856 und 1864 in Hannover. In einem Brief an seine Frau formulierte er, die Sinfonie wirke immer wie sein eigenes "religiöses Glaubensbekenntnis, vom Propheten selbst gesprochen" (122). Joachim sieht die Sinfonie im "Kontext eines Sakralwerkes mit Chorälen" (124), das Beethoven-Bild, das er vermittelt, wird sich später verfestigen: "Beethoven als Erlöserfigur, sein Werk als weltanschauliche Botschaft" (134)
Berliner Zukunftsreligion
Indem Joachim Bachs Instrumentalmusik aufführte und werktreu interpretierte, rückte er sie gleichermaßen von christlicher Vereinnahmung und antijüdischen Klischees weg. Indem er Beethovens 9. Sinfonie sakral deutete, bekannte er sich zu einer überkonfessionellen Zukunftsreligion, der auch beispielsweise Brahms huldigte. Jan Brachmann fällt auf, dass "in Brahms´ Bibelvertonungen Christus konsequent nicht vorkommt" (221) und er konstatiert einen "liberalen Protestantismus, der eine Art zivilreligiöse Gemeinschaft von Juden und Christen anstrebte" (222).
Der Eigenbeitrag der Herausgeberin Beatrix Borchard führt die Aufwertung der deutschen Instrumentalmusik zur modernen Ersatzreligion auf Moses Mendelssohn zurück, der 1755 in einem musikästhetischen Traktat auf die Fähigkeit der Instrumentalmusik verwies, "kulturelle Bedeutung zu transportieren, gerade weil sie textlos" (57) ist. So ist es für Borchard "durchaus kein Zufall, dass Beethovens Instrumentalmusik im Zentrum der Programme" (55) seiner Enkelin Fanny Hensels stand. Als geniale, aber Musik nicht professionell, d.h. nicht kommerziell ausübende Künstlerin gab Hensel der Idee der ´reinen´ Tonkunst Gestalt, und Ludwig Rellstab fand die adäquate Formulierung: Hensels halböffentliche Bühne im Gartensaal der Leipziger Str. 3 war für ihn ein "Opferaltar der Kunst" (52).
Die sakrale Metaphorik - in einem Nachruf wird Joachim als "Priester der Kunst" (41) bezeichnet - geht Hand in Hand mit der "Vereinnahmung von Joachims Kunst für die deutsche Sache" (41). Joachim spielte eine Schlüsselrolle bei der "Durchsetzung des musikästhetischen Paradigmas einer als spezifisch deutsch verstandenen Instrumentalmusik" (9), zugleich wurde das Profil der Berliner Musikhochschule "als konservatives Institut unverkennbar durch ihn geprägt" (114).
Joachims Wirken als Interpret, Pädagoge und Kulturpolitiker war mit einer Idee "des spezifisch ´Deutschen´ im Sinne von ´Tiefsinn, Arbeit, Gründlichkeit´ in Abgrenzung zu allem ´Nicht-Deutschen´" (41) sehr gut zu vereinbaren. Ganz als wäre es eine besondere Ehre, formulierte der Pfarrer in der Grabrede: "ein deutscher Künstler war´s" (41).
Assimilation versus Zionismus - eine innerjüdische Debatte
Welche gravierende Rolle Wagners Pamphlet Das Judentum in der Musik spielte, wird allein dadurch belegt, dass kaum ein Aufsatz ohne Verweis auf die Schrift auskommt. Heidy Zimmermann verknüpft "Wagners neiderfüllten Judenhass" (20) mit der leidenschaftlichen innerjüdischen Debatte über "die Frage, welche Art von Musik als spezifisch jüdisch gelten soll und warum" (21), denn gerade angesichts "der antisemitischen Polemik positionieren sich die jüdischen Selbstdefinitionen in einem breiten Spektrum von der traditionalistischen über die aufgeklärt-assimilatorische Haltung bis zu einer dezidiert kulturzionistischen Ausrichtung" (21).
Zimmermann als zweite Herausgeberin klärt in ihrem Beitrag Grundlagen und Begriffe, zumal der Umgang der einzelnen Autoren "mit dem Thema jüdische Herkunft und entsprechenden Begrifflichkeiten "bewusst nicht vereinheitlicht" (9) wurde. Sie referiert eine "enge, zweckgerichtete Definition" (29) jüdischer Musik, die "die Funktion und den soziokulturellen Kontext als Kriterium in den Vordergrund rückt" (29) und eine weite Definition, die den "überproportionalen Anteil von Juden an der abendländischen Kunstmusik" (25) berücksichtigt. Zimmermann verweist auf die Problematik der zweiten Definition: "Keine der auf Musik der Juden bezogenen Darstellungen ... verzichtet auf die Erwähnung von Komponisten wie Mendelssohn, Mahler und Schönberg. Ironischerweise scheint diese Blickrichtung die antisemitischen Zuschreibungen, mit denen Konvertiten wie säkulare Juden auf ihre Herkunft behaftet wurden, zu perpetuieren." (29f.)
Ausblick
Die Tagung habe "mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben" (11), schreiben die Herausgeberinnen im Vorwort. Das ist gut so, denn diese Feststellung öffnet Raum für weitere Forschung. Noch immer fehlt eine zuverlässige Monographie zu Louis Lewandowski. Allein die Tatsache, dass er nicht "Kantor der Berliner Reformgemeinde" war, sondern Musikdirektor der großen, die Mitte und Mehrheit der praktizierenden Berliner Juden repräsentierenden Neuen Synagoge, wäre einen eigenen Aufsatz wert.
Rezensentin:
Margit Erfurt-Freund
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