Fabian Wittreck, Nationalsozialistische
Rechtslehre und Naturrecht. Affinität und Aversion, Tübingen
2008, Mohr-Siebeck-Verlag, 19,00 EUR, 81 S., ISBN 978-3-16-149864-0
Zwischen Ablehnung und Anziehung
Fabian Wittreck analysiert die Relevanz
naturrechtlichen Denkens für die NS-„Rechtslehre“
Fabian Wittreck ist Professor für Öffentliches Recht an der
Westfälischen Wilhelm-Universität Münster. Einem allgemeinpolitisch
interessierten Zeitungsleser wurde er vor kurzem dadurch bekannt, dass sein
„akademischer Lehrer Horst Dreier“ (Vorwort) ihn im Zusammenhang mit dessen
umstrittener Position zur Folter zitierte. Diese hat eine heftige Polemik
ausgelöst, die Dreier am Ende eine Berufung zum Verfassungsrichter
kostete. Mit „Nationalsozialistische Rechtslehre und Naturrecht“ erschien
nun die Antrittsvorlesung seines Schülers Wittrecks als „Werkstattbericht“
(Vorwort) bei Mohr Siebeck.
Schon im Untertitel deutet sich die Janusköpfigkeit des Naturrechts
für den Nationalsozialismus an: „Affinität und Aversion“. Die
Entwickler der nationalsozialistischen „Rechtslehre“ (Wittreck begründet
überzeugend, warum es sich dabei eigentlich nicht um eine Lehre handelt,
stellt den Begriff aber dennoch nicht in Anführungszeichen) stehen
dem Naturrecht höchst ambivalent gegenüber, denn sie sind mit
dem Problem konfrontiert, dass das Paradigma des Neuen, das sich Hitler
auf die Fahnen geschrieben hatte, eine zu starke Anbindung an die Tradition
verbietet, sich in dieser andererseits Elemente finden lassen, die sehr
gut zur Abgrenzung gegenüber den verhassten Konzepten der bürgerlich-liberalen
Rechtsauffassung (Individualismus) ausgeschlachtet werden könnten.
Bedient man sich jedoch ernsthaft dieser Konzepte, entstehen neue Probleme,
ist doch das katholische Naturrecht in seiner klassischen Ausrichtung seit
Thomas von Aquin am Menschen und nicht am Volk orientiert, das Vernunftnaturrecht
der Aufklärung qua definitionem rationalistisch, was den Nazis als
kaltherzige „Logelei“ galt, und beide zusammen von einem Universalismus getragen,
der überhaupt nicht zur Begründung einer aus den Völkern der
Welt herausragenden „Herrenrasse“ passt. Abgesehen davon nehmen sie sämtliche
„klassischen“ Schwierigkeiten der Naturrechtsvorstellung mit (Konkretisierung,
Rechtssicherheit) und müssen sie im Sinne des Systems lösen. Dessen
Gesetze seien gerade Ausdruck einer gemeinsam „gespürten“ Ordnung für
das Hier und Jetzt, so dass es zu einer Unterwanderung des Rechtssystems
nicht kommen könne. Zugleich vermeide dieses jedoch die Bindungslosigkeit
und den Formalismus des Rechtspositivismus’, der stets in einen Relativismus
abzusinken drohe, durch jenes ominöse vorrechtliche „Erspüren“
und „Erleben“, das sich nicht er-, sondern nur bekennen lasse.
Wittreck negiert mit seiner Abhandlung die „Gründungserzählung
der bundesdeutschen Rechtsphilosophie“ (S. 1), die sich auf die Radbruchsche
Formel als der naturrechtlichen Forderung einer Rückbindung des Gesetzes
an Gerechtigkeit und Vernunft stützt und den Rechtspositivismus, der
diesen materialen Vorbehalt nicht kennt, für das Nazi-Unrecht in Gesetzesform
mitverantwortlich macht. Er möchte dafür sorgen, dass die „Positivismuslegende“
(S. 2), die sich „außerhalb von Fachkreisen als bemerkenswert zählebig
erweist“ (S. 3), aus den Köpfen verschwindet. Dazu legt er in rechtshistorischer
Feinarbeit dar, dass sich NS-Juristen explizit oder implizit auf Naturrechtsgedanken
bezogen, dass einige ein „nationalsozialistisches Naturrecht“ entwickeln
wollten und dass es begriffliche, argumentationslogische und funktionale
Parallelen zwischen Nazi-Recht und Naturrecht gebe.
Aufschlussreich ist dabei vor allem Wittrecks Darstellung der Auseinandersetzung
von NS-Juristen mit der katholischen Naturrechtstradition. Einerseits hielt
manch einer das „mittelalterliche Ordnungsdenken aristotelisch-thomistischer
Herkunft“ (S. 28, Anm. 32) für anschlussfähiger an die „neue Zeit“
als das Vernunftnaturrecht der Aufklärung und suchte nach ebensolchem
Anschluss (wenn er sich auch in Hinweisen wie dem erschöpfte, dass „in
den Adern des Hl. Thomas v. Aquin [...] ,ja auch deutsches Blut floß’“,
S. 33). Andererseits gab es entschiedene Vorbehalte, die im „Kampf gegen
den ,politischen Katholizismus’“ (S. 29) dazu führten, jenes „von der
Gleichheit aller Menschen vor Gott ausgehende“ (S. 33, Anm. 45) katholische
Naturrecht wegen dessen „Rassenblindheit“ (S. 33) abzulehnen: „Der Grundmangel
aller katholisch-kirchlichen Rechtslehre ist, daß sie Volk nicht kennt
und nicht anerkennt“ und: „Es verstößt in seiner Universalität
und gewollten Über-Natürlichkeit gegen die elementaren Gesetze
der Natur und gegen die natürliche Ordnung nach Rassen und Völkern“
(S. 33, 45). Zudem ergreife das Naturrecht katholischer Provenienz für
„schwächliche und erbkranke“ Menschen Partei und sorge sich um „unheilbar
Kranke und Geisteskranke“, was einem NS-Recht entgegenstehe, dem die „schrankenlose
Anpassung an zoologische und biologische Gesichtspunkte das bedingungslos
durchzuführende oberste Gesetz“ sein müsse (S. 34, Anm.
34). Hier zeigt sich, was katholisches und nationalsozialistisches Naturrecht
unterscheidet: Die Vorstellung von der „Natur des Menschen“, die in diesem
Fall der „Biologie des Menschen“ entspricht, in jenem Fall eine gottgewollte
Seinsform meint, der man als solcher unabhängig von ihrer konkreten
Erscheinung unbedingt Achtung und Sorge entgegenbringen muss.
Obwohl in der NS-„Rechtslehre“ die „Aversion [dominiert]“ (S. 42), gibt
es Bemühungen um ein eigenständiges NS-Naturrecht, wie Wittreck
an zwei Autoren illustriert: Raimund Eberhard und Hans-Helmut Dietze. Eberhard
will ein „Modernes Naturrecht“ (1934) installieren, „ein biologisches, ein
rassengesetzliches Naturrecht“ (S. 36). Seine „eklektische, streckenweise
esoterische“ Schrift bleibt jedoch „ohne Resonanz“ (S. 37). Anders Dietzes
Habilitationsschrift „Naturrecht in der Gegenwart“ (1936) – „der Band wird
in der zeitgenössischen Literatur breit rezipiert“ (S. 37 f.). Inhaltlich
gibt es bei Dietze durchaus Parallelen zu Eberhard, sucht doch auch er ein
„neues“, ein „deutsches“ Naturrecht (S. 38). Dietze meint, dieses finden
zu können, indem er Tönnies’ Gemeinschaftsbegriff naturrechtlich
deutet und dem traditionellen abstrakten „Naturrecht der Gesellschaft“ ein
neues konkretes „Naturrecht der Gemeinschaft“ entgegenstellt, das von den
„Wesensgesetzen“ eines „Samfund“ – gemeint ist das, was sich zusammengefunden
hat – lebt und sich in ihnen manifestiert (S. 38 f.), bspw. im deutschen
Volk, das damit ein eigenes Naturrecht brauche. Das verwirrt, zielt doch
der Begriff Naturrecht gerade nicht auf die juridische Lösung für
konkrete soziale Zusammenhänge, sondern stellt abstrakte Grundsätze
bereit, nach denen eine Lösung in einer bestimmten historischen Situation
zu organisieren ist. Wittreck stellt fest: „Das ganze Buch steht unter einer
unerträglichen Spannung, weil die fast manische Fixierung auf das Konkret-individuelle,
auf die Ableitung von Naturrechtssätzen aus jeder einzelnen Konstellation,
nur allzu deutlich im Widerspruch dazu steht, daß sie zugleich Ausdruck
einer absoluten Rechtsidee sein sollen“ (S. 41). Die Quadratur des Kreises
scheitert.
Dennoch lassen sich, so Wittreck, Parallelen aufzeigen zwischen NS-„Rechtslehre“
und Naturrechtstradition. Diese sind zunächst begrifflicher Art. So
kommt der Naturrechts-Terminus „übergesetzliches Recht“ im NS-Recht
des öfteren vor, dort allerdings wiederum in einer völkisch verbrämten
Bedeutung, etwa als „übergesetzliches volksverbundenes Recht“ (so 1935
in der Deutschen Richterzeitung,
S. 44). Wittreck schließt jedoch allein aus der Bezugnahme auf einen
„Corpus an objektiven Regeln, die dem menschlichen Gesetzgeber vor- oder
übergeordnet sind“, dass „die zentralen Phrasen der völkischen
oder ,rassegesetzlichen’ Rechtslehre als strukturell naturrechtlich“ anzusehen
sind, auch wenn die betreffenden Autoren „diesen Begriff meiden oder gar
brüsk zurückweisen mögen“ (S. 45). Doch es bleibe nicht bei
der Terminologie. Aus der „naturrechtsanalogen Struktur“ folge die Übernahme
der naturrechtsimmanenten Probleme und infolgedessen auch der „naturrechtstheoretischen
Lösungs- und Argumentationsstrategien“, die, so Wittreck, „ganz unverkrampft
kopiert werden“ (S. 46). Zudem erfolge eine Legitimierung des Neuen aus dem
Natürlichen (sei dies „Volk“, „Blut“, „Boden“, „Rasse“ oder auch „Samfund“),
was einer „Tendenz der Naturrechtstradition“ ähnele, nämlich „überkommene
Ordnungen als vorgegeben und damit erhaltenswert zu adeln“ (S. 53).
Ist damit das Naturrecht schlechthin diskreditiert? Folgt aus dem Missbrauch
des Gedankens vor- bzw. überpositiver Bindung des Gesetzes an die Natur
des Menschen durch jene Nazi-Juristen, die diese mit „Volk“, „Rasse“ und
„Blut“ identifizierten, dass sich sein moralisierender Gebrauch zur Kritik
eines Rechtssystems, welches sich materialiter zu weit vom Menschen entfernt
hat, a priori verbietet? Nein, denn Wittreck macht zweierlei deutlich: 1.
Inhaltlich gibt es Unterschiede zwischen dem nationalsozialistischen und
dem traditionellen Naturrechtsbegriff, etwa zum katholischen Naturrecht;
2. Formal ist das NS-Naturrecht als „hinkendes Naturrecht“ konzipiert: Wenn
Naturrecht Maßstab für die Kritik am positiven Recht sein soll,
so versagt hier gerade das nationalsozialistische Naturrecht, weil dies lediglich
ein Maß darstellt, das das System selbst anlegt, um sich zu legitimieren,
„an dem es aber nicht gemessen werden will“ (S. 55). So steht am Ende Wittrecks
Mahnung, dass „[d]ie Idee des Naturrechts [...] keinen Deut weniger gegen
Mißbrauch gefeit [ist] als der Rechtspositivismus“, was „kein Grund
für eine generelle Verabschiedung der Naturrechtstradition“ ist, „aber
ein Grund für Bescheidenheit“ (S. 57).
Florian Wittreck legt eine sehr kenntnisreiche Abhandlung vor, die durch
zahlreiche Querverweise zu einer Fundgrube in Sachen Naturrecht und Nazi-Diktatur
wird. Das Literaturverzeichnis, das „durchaus als Bibliographie gedacht“
ist (Vorwort), umfasst alleine 20 Seiten und ein Großteil des Buches
besteht aus einem imponierenden Anmerkungsapparat mit zahlreichen informativen
Fußnoten. Wittreck kündigt an, mit der Schrift nur „erste Ergebnisse
eines größeren Forschungsvorhabens“ angedeutet zu haben (Vorwort).
Mit diesem wird er Neuland betreten, denn: „Eine durchgehende Darstellung
des Verhältnisses von Nationalsozialismus und Naturrecht fehlt.“ (S.
5). Man darf gespannt sein, wie Wittreck die Forschungslücke im Detail
schließen und zu welchen Schlussfolgerungen er dabei gelangen wird.
Rezensent:
Josef Bordat
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