Harutyun Harutyunyan, Die Einigung Europas - ein christliches Projekt. Die europäische Integration und die Haltung der Kirchen in ökumenischer Perspektive. Berlin 2008,40,50 EUR, 345 S., ISBN: 978-3-8325-1835-6
Ein Theologe aus Armenien schreibt in Deutschland eine Arbeit über die Entwicklung der EU und die Stellung der Kirchen dazu. Das verspricht eine ungewöhnliche Perspektive - und tatsächlich findet die Dissertation von Harutyun Harutyunyan Zugänge zum Thema, die man unter demselben Titel von einem westeuropäischen Theologen wohl kaum lesen würde, insbesondere die intensive Beschäftigung mit der Haltung der orthodoxen Kirchen zur europäischen Integration.
Harutyunyan gliedert sein Buch in vier Kapitel, von denen zwei jeweils zusammen gehören: Zunächst untersucht er die abgeschlossenen Phasen der europäischen Einigungspolitik und ihre religionspolitischen Implikationen (1) und daran anschließend die Stellungnahmen der Kirchen zu diesem Prozess (2). In einem neuen, deutlich analytischerem Zugang fragt er nach den Grundlagen und -werten der gegenwärtigen Europapolitik (3) und entsprechend nach der Rolle der Religion und der Kirchen im künftigen Europa (4). In allen Abschnitten kommen nicht nur die Akteure der EWG, EG und EU zu Wort, sondern auch die Kirchen der europäischen und asiatischen Nachbarn, über die Grenzen gegenwärtiger Beitrittsverhandlungen Brüssels hinaus (also neben den Christen der Türkei etwa auch die Orthodoxie in Russland).
Europäische Fiktionen
Eine Schwäche von Harutyunyans Arbeit sei gleich genannt,
die sie jedoch mit vielen Dissertationen teilt: Streckenweise muss man eine
Fleißarbeit lesen, wo vieles relativ Bekannte zusammengetragen und
hintereinander gestellt wird. Das ist dann bei der Sprache politischer und
kirchlicher Grundsatzerklärungen besonders ermüdend. Die Mühe
lohnt sich jedoch, weil man eine Menge gerade über die "Ränder"
europäischer Religionspolitik erfährt, die deren Brüche und
Aporien deutlich werden lässt. Ich wusste jedenfalls nicht, dass z.B.
Großbritannien Motorrad fahrende Sikhs von der Helmpflicht ausnimmt
(46) und auf Schiffen der Royal Navy satanistische Kulthandlungen zulässt
(49). Zentraler ist die Dekonstruktion, der Harutyunyan die Rede von europäischer
Identität und Wertegemeinschaft unterwirft. Dabei ist der Autor in
seinen Wertungen leider vorsichtiger als das Material es zulässt, dass
er erhellend zusammenstellt. Das macht nämlich deutlich, wie sehr die
unterschiedlichen Konzepte europäischer Identität jeweils auf
selektiven und konstruierten Lesarten europäischer Geschichte beruhen.
Der Europäer ist demnach entweder christlicher Abendländer oder
aufgeklärter Humanist (vgl. 127-133). Beide Konstrukte haben jeweils
auch ausgrenzende Funktion. Europa definiert sich selbst, so wie es auch
die Begriffe Afrika, Asien und Amerika erfunden hat (126), um zu regeln,
wer dazu gehört und wer nicht. Die moderne EU-Politik und die gesellschaftliche
Realität in der EU kommen mit diesen Grenzen jedoch nicht überein.
Entsprechend konfus fällt die ominöse Diskussion um europäische
oder gar religiöse Grundwerte Europas aus (194-222). Auch Harutyunyan
erliegt mitunter der hier herrschenden Wirrnis. So behauptet er einmal, die
Widersprüche im europäischen Einigungsprozess resultierten "nicht
unbedingt aus einem Konflikt unterschiedlicher Werte, sondern vielmehr aus
einem Mangel an umfassenden Werten" (220). Andererseits findet er "die Anmerkung
J. Homeyers zutreffend, dass es zurzeit in der europäischen Gesellschaft
keinen Wertemangel gibt, sondern einen Wertbindungsmangel." (208) Was also:
Haben wir zu wenig Werte oder zu viele, auf die wir uns nicht einigen können?
Oder haben wir in dieser Endlosdiskussion nicht in Wahrheit einen völlig
inflationär gebrauchten und dadurch entwerteten Wertebegriff?
Kirchen zwischen Abkapselung und Anpassung
Zu dem erfrischend fremden Blick auf die hiesige Theologie gehört
auch Harutyunyans Darstellung der römisch-katholischen Staatsdoktrin.
Gewiss ist allgemein bekannt, dass Rom noch bis 1960 die Religionsfreiheit
nicht anerkannte und im Grunde nur einen katholisch dominierten Weltanschauungsstaat
als legitim ansah. Aber man liest in Harutyunyans Darstellung (51-60) noch
das Erstaunen darüber, wie sich das katholische Lehramt innerhalb eines
Jahrzehnts in dieser Frage - ganz gegen sein offizielles Selbstverständnis
- um 180 Grad drehen konnte und faktisch sehr verspätet sein "Programm
Mittelalter" für Europa aufgab. Vor diesem Hintergrund analysiert Harutyunyan
dann die Stellungnahmen der orthodoxen Kirchen in den osteuropäischen
Transformationsstaaten mit geschärftem Blick. (68-92) Er kommt zu dem
Schluss, dass diese Kirchen mehrheitlich nach traditionellem Staatskirchentum
und kommunistischer Unterdrückung noch keine angemessene Haltung zum
(post-)modernen Pluralismus gefunden haben, sondern eher in einer Verteidigungsposition
verharren - übrigens auch die Orthodoxie im langjährigen EU-Mitgliedsstaat
Griechenland. Überraschend liest sich da, dass der armenische Patriarch
Mesrop II. (mit Sitz in Istanbul) den EU-Beitritt der Türkei ausdrücklich
mit Blick auf ein "multikulturelles " Europa befürwortet, dass den
Zusammenstoß westlicher und östlicher Zivilisation verhindern
könne. Er zog sich damit die Kritik der offiziellen armenischen Regierungspolitik
zu (87).
In seiner Schluss-Analyse ordnet Harutyunyan die Kirchen in ihrer Haltung zur EU drei Grundtypen zu (260 ff.): Es gibt 1. die Befürworter der Integration, die "mit dem Geist der Aufklärung und der säkularen Integration einverstanden sind". Hier verortet Harutyunyan die protestantischen Großkirchen, denen er kritisch eine Tendenz zur "alles-mitmachenden Einstellung ... mit dem Zeitgeist im Einklang" (264) attestiert. 2. findet er "aktive Gegner, die sich auf keinen Fall von der Idee des christlichen Europa verabschieden" (260) wollen. Dazu gehörte die katholische Kirche bis zum II. Vatikanischen Konzil und dazu gehören bis heute einige orthodoxe Kirchenleitungen, insbesondere die Russlands. Drittens nennt Harutyunyan die "passiven Gegner, die sich im gegenwärtigen Integrationsprozess unsicher und fremd fühlen" (260), was für größere Teile der Orthodoxie gilt, aber auch für die Stellungnahmen der Zeugen Jehovas. Schließlich spricht Harutyunyan von den "kritischen Begleitern" (260), deren Haltung er in den Erklärungen europäischer Ökumene und in der heutigen katholischen Kirche findet. Es ist deutlich, dass Harutyunyans Sympathie dieser Haltung gilt. Er kritisiert sowohl die Tendenz zur Selbstisolation als auch die zum mitmachenden Einverständnis und führt sie hellsichtig auf zwei Fehlhaltungen der Vergangenheit zurück: Die Kirchen hätten die Emanzipation der Menschen lange als gegen das Christentum gerichtet bekämpft, andererseits aber gegenüber den europäischen Diktaturen zu häufig geschwiegen (274). Angesichts dieser Erblast hält es Harutyunyan noch für "offen, ob alle Großkirchen die Rolle des kritischen Begleiters in Europa auf Dauer übernehmen und gemeinsam verantwortungsvoll praktizieren werden" (277).
Selbstverteidigung oder Sendung
Den wertvollsten Gedanken der Arbeit Harutyunyans sehe ich in seiner
immer wieder insistierenden Frage, ob de Kirchen im Blick auf die europäische
Einigungspolitik nur auf ihre Selbstverteidigung achten, oder ob sie eine
Sendung für Europa wahrnehmen. Daran entscheidet sich wohl, ob sie
zu einer kritischen Begleitung wirklich fähig sind oder beim "Problem
der schönen Worte" (277) hängen bleiben. Selbstverteidigung schaut
nur auf den Erhalt noch vorhandener Privilegien, auf staatskirchenrechtliche
Bevorzugung oder leistet in einem Rückzugsgefecht "Widerstand gegen
die Säkularisierung" (116). Offensiv träumt sie - in der katholischen
und orthodoxen Variante - zum Teil immer noch, "den eigenen Kontinent ...
unter der Schirmherrschaft des Christentums zu halten", möglicher Weise
in einer Art "neopatristischen Synthesis" (115). In seiner Kritik daran gesteht
Harutyunyan den Kirchen durchaus "einen Anspruch auf die aktive Teilnahme
am Gesellschaftsleben und am europäischen Einigungsprozess" zu (119).
In ihrer Sendung für Europa müssten die Kirchen jedoch selbst auch
Umkehr zeigen, wie Harutyunyan mit Bezug auf den ungarischen Theologen András
Máté-Tóth herausstellt. Sie würden dann ihre Verantwortung
für Europa auch als Bekenntnis zu ihrer Mitschuld an den europäischen
Spaltungen und Konflikten wahrnehmen (281). Umgekehrt "wirkt der Integrationsprozess
ökumenefördernd", wenn die Kirchen ihn als Vorbild für ihre
eigene Annäherung und durchaus pragmatische Zusammenarbeit über
bleibende Unterschiede hinweg nehmen würden (285). Würden die Kirchen
wirklich eine solche Sendung wahrnehmen, dann würde es ihnen nicht
nur um kirchliche und religiöse Themen in Europa gehen. Sie würden
sich "als geistliche Begleiter aktiv an der zukünftigen Organisation
des gesellschaftlichen Lebens beteiligen" (245). Was Harutyunyan anpeilt,
ist offenbar die Rolle einer echten moralischen, ja prophetischen Instanz
(so 238) statt eines kirchlichen Lobbyismus in Brüssel. Als drängende
Themen solcher Einsprache nennt er u.a. die Problematik einer Politik der
Militäreinsätze zur Schein-Lösung von Problemen der Dritten
Welt (ebd.), die Bioethik (242), aber auch "Umweltschutz, allgemeine Menschenrechte,
Arbeitsrecht, Armut, Migration, Rechtsradikalismus und Fundamentalismus."
(243 f.)
Theologisches Defizit
Leider bleibt dieses sich im vierten Teil der Arbeit abzeichnende
Programm insgesamt blasser, als es Harutyunyans Absicht sein dürfte.
Das liegt an einem Mangel an theologischer Begründungstiefe, den man
der Arbeit attestieren muss. Die Leitbegriffe wie Sendung, Verantwortung,
"prophetische Mahnung", dann aber auch "Dialog zwischen Politik und Religion"
(291) bleiben eigenartig unreflektiert. Die Stärke des Buches, eine
pragmatische, zugreifende Direktheit, hat hier ihre Grenze. Bezeichnender
Weise wird eine Andeutung zur theologischen Deutung der Profangeschichte nur
in einer Fußnote mit Bezug auf E. Schillebeecks kurz angerissen (276).
Man ahnt hier einen Ansatz, der Harutyunyans Stellungnahme ein Fundament geben
könnte. Aber es bleibt unbedacht, wie die Zielvorstellung Harutyunyans
vom Verhältnis der Kirchen zur Politik und zum ökumenischen Agieren
der Kirchen theologisch in ihrer Notwendigkeit begründet und damit auch
verbindend-verbindlich gemacht werden könnte. Dieses Defizit zeigt sich
auch am Schicksal des gewählten Buchtitels. Die Frage, ob die Einigung
Europas ein christliches Projekt sei, wird in den letzten Zeilen ganz pragmatisch,
ja geradezu statistisch beantwortet. Sie ist "kein christliches Projekt mehr",
weil die Akteure sich nun einmal nicht mehr alle als Christen begreifen, aber
"viele der Gestalter sind Christen und Europa verfolgt viele Ziele, die mit
christlichen Zielen übereinstimmen." (292) Eine weniger banale Antwort
kann Harutyunyan nicht geben, weil er zu wenig reflektiert, was im politischen
Kontext "christlich" heißen müsste. Das ist schade, denn die "Vision",
die das Buch offensichtlich bewegt, ist keineswegs banal.
Rezensent:
Gregor Taxacher
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