theologie.geschichte - Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte


Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Verlag C. H. Beck: München 2008. Broschierte Studienausgabe in fünf Bänden, 98 EUR (einzeln 34,90 EUR), um 4900 S., ISBN: 978-3-406-57872-4. Gebundene Ausgabe in fünf Bänden, 198 EUR (einzeln 49,90 EUR), ISBN: 978-3-406-32490-1.


Hans-Ulrich Wehler sorgte am Rande des 47. Deutschen Historikertags 2008 in Dresden [1] mit der Veröffentlichung des fünften und letzten Bandes seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ für kontroverse Diskussionen.

Der Einzelkämpfer Wehler, der bis zu seiner Emeritierung an der Universität Bielefeld forschte, benötigte für seine „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ rund 20 Jahre, der erste Band 1700-1815“ war 1987 veröffentlicht worden.

Neben der gebundenen Ausgabe hat der Verlag C.H. Beck auch eine fünfbändige Studienausgabe herausgebracht.

Der Kongress der Historiker und Geschichtslehrer Deutschlands fand unter dem Motto „Ungleichheiten“ statt und war von zwei historischen Abschnitte dominiert worden, die Gesellschaft und Politik in Deutschland prägten: die Periode des Nationalsozialismus und die Existenz der DDR. Daher fanden auch die zentralen Veranstaltungen in der Semperoper, der Kreuzkirche oder dem Residenzschloss statt. Geschichte und die Auseinandersetzung mit ihr betrifft Jeden.

Daher erweiterte Bundespräsident Horst Köhler in seiner Festansprache im Rahmen der Eröffnungsfeier in der Semperoper die „Ungleichheiten“ aus der wissenschaftlichen Perspektive um die „Unterschiede“: die sozialen und menschlichen Dimensionen von Ungleichheit in einer Gesellschaft. Köhler stellte gleich zu Beginn zentrale Fragen: „Wie viel Ungleichheit verträgt die Demokratie? Wie viel und welche Arten von Ungleichheit braucht sie? Welche müssen wir als unabänderlich hinnehmen? Und mit welchen dürfen wir uns niemals abfinden?“. Im Mittelalter als „gottgewolltes Schicksal“ akzeptiert und gelebt, gelang in der Gründerzeit die Überwindung: „das Leistungsprinzip“ führte zu individueller Anerkennung des Menschen, zu Bildung und politischer Teilhabe. Hinzu kamen Integration und Identifikation. Die Rede Köhlers geriet so zu einer sozio- und ethno-historischen Ansprache, die dem „Historiker“ die wichtige Rolle des „Übersetzers“ und „Zuhörers“ gleichermaßen zusprach. [2]

Insofern entspricht Hans-Ulrich Wehler sowohl diesem Bild des Historikers als auch des Bürgers. In jedem Band untersucht er die Gesellschaft der Deutschen in ihren unterschiedlichen Staatsgebilden immer wieder entlang der vier Merkmale Wirtschaft, soziale Ungleichheit, politische Herrschaft und Kultur.

Der besondere Fokus liegt im Vergleich zu anderen Historiographien gerade auf der sozialen Komponente der deutschen Entwicklung: vom Feudalismus des 17. und 18. Jahrhunderts (Bd. I) arbeitet sich Wehler über die bürgerlichen und industriellen Reformen und Revolutionen der Jahre 1815 und 1849 (Bd. II) über das Kaiserreich ab 1871 (Bd. III) bis zu den beiden verheerenden-vermessenen Weltkriegen vor (Bd. IV), um im Abschlussband die Vergangenheit der beiden deutschen Staaten zu betrachten (Bd. V).

In unserer Gegenwart angekommen, fällt der Abgleich von DDR und BRD für die deutsche demokratische Variante kritisch, für die föderale durchweg positiv aus. Hierfür stand Hans-Ulrich Wehler in der Kritik. Denn die demokratische Verfasstheit der Bundesrepublik als gemeinschaftlicher Gradmesser zeigt deutlich: soziale Schichtung und Kontinuität von Eliten und Besitz haben das 20. Jahrhundert überdauert. Für den in dieser Zeitschrift wichtigen Fokus der zeitgeschichtlichen Rollen von Kirche und Religion in der Gesellschaft erscheint eine Besprechung der Bände IV und V sinnvoll.

In zwei einführenden Kapiteln des fünften Bandes werden die „demokratischen Rahmenbedingungen“ beider Nationen (V, 3-33) sowie die „Turbulenzen der Bevölkerungsgeschichte“ (V, 34-43) vorgestellt. Im dritten Kapitel, den „Strukturbedingungen und Entwicklungsprozessen der Wirtschaft“, werden in differenzierender Weise diese für die Bundesrepublik auf rund zehn Seiten beschrieben, für die DDR in der „Bevölkerungsgeschichte eines Abwanderungslandes“ auffallend kurz auf fünf Seiten (V, 43-47). Auf die DDR bezogen, arbeitet Wehler mit durchweg negativen Begriffen, die als Unterkapitel dienen: „Belastungen“, „Fetisch der kommunistischen Planwirtschaft“, „Debakel der ‚sozialen Landwirtschaft’“. Im Fazit wird mit dem Terminus „Ursachen des Scheiterns“ jedoch wieder zu einem objektiven, moderaten Ausdruck gefunden (V, 43-47).

Beschreibt Hans-Ulrich Wehler für die Bundesrepublik auf gut zehn Seiten die Entwicklung von westdeutschem Protestantismus und Katholizismus, so fällt die Berücksichtigung der Kirche in der DDR auf rund dreieinhalb Seiten eher kursorisch aus. Die maßgebliche Rolle der Kirche als gesellschaftlicher und politischer Freiraum zur Diskussion bestehender Verhältnisse und Ausgangspunkt der Reformbestrebungen, die maßgeblich zur Wiedervereinigung beitrugen, wird wesentlich in diesem Satz berücksichtigt: „Nur das Engagement zahlreicher Pfarrer in der protestantischen Dissidentenszene und im Umfeld der ‚Wende’ hat ein respektables Gegengewicht […] geschaffen“ (V, 407).

Fällt die jüngere Betrachtung der beiden großen Kirchen in Deutschland eher strukturalistisch aus (V, 366-373), so finden die klerikalen Auseinandersetzungen und Anpassungen im Umfeld der beiden Weltkriege umso mehr Berücksichtigung. In der Zeit zwischen 1914 und 1945 besteht die Rolle der Kirche, ob protestantisch oder katholisch, überwiegend aus dem Für und Wieder politischer Vereinnahmung: von der „heiligen“ Rechtfertigung des Ersten Weltkriegs, besonders am Beispiel des Berliner Theologen Otto Dibelius beschrieben, hin zur Anpassung an die Herrschaftsstrukturen des Nationalsozialismus im Zuge der Bewegung der „Deutschen Christen“ (IV, 21-26; 443f.). Diese Bewegung, auch als „SA-Jesu Christi“ bezeichnet (IV, 797ff.), bestand seit Mai 1932. Theologisch-kirchliche Programme traten hinter nationalistisch-völkische zurück. Ausführlich werden die pro-nationalsozialistischen Orientierungen innerhalb der katholischen Kirche geschildert (IV, 814ff.): theologisch vertreten durch Personen wie Joseph Lortz oder Heinrich Schmaus, publizistisch verbreitet durch Emil Ritter, Eugen Kogon oder Albert Mirgeler. Neue Organe entstanden, Bündnisse wie „Kreuz und Adler“ traten auf. In diesem Zusammenhang verweist Wehler besonders auf die Aktivitäten des Maria Laacher Abtes Ildefons Herweg. Als Gegenbewegung werden die innerkirchlichen Versuche des Berliner Bischofs Konrad von Preysing oder des Münsteraner Bischofs Clemens von Galen auf katholischer sowie besonders die Dietrich Bonhoeffers aus protestantischer Warte gesetzt. Die religiöse Verfolgung erreicht 1941 ihren Höhepunkt in Verboten kirchlicher Publizistik, dem sogenannten „Klostersturm“ und letztlich die Deportation in Konzentrationslager. „Seither“, so die Bilanz Wehlers, „lässt sich die Frage nicht zum Verstummen bringen, was katholische und protestantische Kirchenführer mit mehr Zivilcourage und weniger Bedenkenpflege selbst in einer totalitären Diktatur hätten verhindern können“ (IV, 816).

Im Epilog (V, 420ff.) umreißt Hans-Ulrich Wehler rückblickend das Projekt seines Entwurfs, wie „eine deutsche Gesellschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts aussehen könnte“, orientiert an einer „Synthese […] möglichst vieler wichtiger, von der gesellschaftlichen Entwicklung aufgeworfener Probleme“ (V, 420). Mit seinem in der thematischen Anlage erstmals verfügbaren Werk ist ihm dies auch gelungen. So liegt ein Stück jüngerer Sozialgeschichtsschreibung vor, das angesichts der hohen Materialdichte von anschaulicher und abwechslungsreicher Lesbarkeit ist – gleichwohl es der kirchlichen Perspektive der vergangenen rund 50 Jahre eher am Rande nachgeht.


[1] vgl. hierzu den in „t.g“ (Bd.3, 2008) veröffentlichten Tagungsbericht zum 47. Deutschen Historikertag in Dresden vom 30.09.-03.10.2008
[2] Die vollständige Rede des Bundespräsidenten Horst Köhler steht in einer Pressemitteilung des Bundespräsidialamtes zur Verfügung unter http://www.historikertag.de/Dresden2008/images/dokumente/Eroeffnungsrede_Koehler.pdf


Rezensent:
Hans-Christian Roestel




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