Yvonne Al-Taie, Daniel Libeskind: Metaphern jüdischer Identität im Post-Shoah-Zeitalter, Regensburger Studien zur Kunstgeschichte 4, Regensburg 2008, Schnell & Steiner-Verlag, 39.90 EUR, 171 S., ISBN: 978-3795420901
Mit dieser sorgfältig strukturierten und klar geschriebenen
Studie legt Yvonne Al-Taie die erste Gesamtschau von Libeskinds
architektonischem Werk vor. Sie bespricht nicht nur alle bisher
realisierten Bauten, sondern setzt sich auch detailliert mit Libeskinds
Schriften und nur im Entwurf vorhandenen Projekten auseinander.
Im Mittelpunkt der Analyse steht Libeskinds Bezugnahme auf
jüdische Tradition. Al-Taie sucht nach Spuren des Jüdischen,
die sich explizit in Libeskinds Schriften finden und, wie sie
herausarbeitet, sich als Metaphern in den Gebäuden wiederfinden.
Al-Taie beginnt ihre Ausführungen mit methodischen
Überlegungen und ordnet Libeskind zunächst in die allgemeine
Architekturgeschichte und dann spezifisch in die „jüdische“
Kunstgeschichte ein. Sie problematisiert Konzeptionen des
„Jüdischen“, das sich weder thematisch noch durch die
Identifikation eines Künstlers als Jude fassen lässt.
Anstelle einer Festschreibung des „Jüdischen“ also, stellt Al-Taie
„die Frage, wie sich das (Selbst-)Verständnis von jüdischer
Identität in Libeskinds Architektur manifestiert und in welcher
architektonischen Formensprache es seinen Ausdruck findet“ (36).
Diesen Überlegungen folgt der zweite Teil des Buches, der
ebenfalls stark theoretisch orientiert ist. Hier geht es um die
Verschränkung von jüdischen Motiven in Libeskinds
Interpretation der Stadt. Im Vordergrund stehen hier zunächst
literarische Bezüge, die sich in Libeskinds umfangreichen
Schriften zur städtischen Architektur und Städteplanung
finden. So konstruiert Libeskind das Jüdische Museum in Berlin als
einen Ort, der die Biographien einzelner Berliner Bürger
miteinander vernetzt und in Beziehung zu einander setzt. Die Stadt wird
hier zum Ort der Begegnung, die sich im Mikrokosmos der Architektur
nachvollziehen lässt.
Die Beziehung spezifischer Biographien zur Stadt spielt eine Rolle in
zwei Projekten Libeskinds. Geht es im Felix-Nussbaum-Haus in
Osnabrück um Nussbaums Relation zu Osnabrück und die
Bedeutung Osnabrücks für Nussbaum, so finden sich Bezüge
zu James Joyces Ulysses in Libeskinds Entwürfen für Berlins
Potsdamer Platz. Ein weiterer Bezugspunkt ist das Leben der
jüdischen Gemeinde. Libeskinds neue Synagoge in Dresden spricht
die Verflechtung jüdischen und nichtjüdischen Lebens in
deutschen Städten an. Seine Architektur nimmt Bezug auf die
Zerstörung jüdischen Lebens in jüngster Geschichte,
erhebt das genuin jüdische Symbol des Davidsterns zum Zentrum des
Gebäudes und löst die Formensprache des Gebäudes von
christlicher Sakralarchitektur. „Zum einen dienen ihm hier die
Holzsynagogen des Mittelalters als Vorbild, die es auch in der Region
um Dresden gab, zum anderen greift er auf die jüngsten Vorbilder
aus dem 20. Jahrhundert zurück, die eine eigenständige
Formensprache für die Synagogenarchitektur entwickelten“ (71). Die
Mischung aus architektonischer Autonomie und reichen Bezugspunkten zum
nichtjüdischen städtischen Umfeld, soll zum Dialog einladen,
der die vielfältigen historischen, literarischen und
religiösen Verflechtungen erhellt.
Der Begriff der Leere trat schon in Libeskinds Entwurf für den
Alexanderplatz auf und tritt in den Mittelpunkt der expliziten
architektonischen Auseinandersetzung mit der Shoah in den Projekten
Jüdisches Museum Berlin und dem Entwurf für das Mahnmal
für die ermordeten Juden Europas in Berlin. Libeskinds Architektur
nimmt nicht nur auf literarische und religiöse Traditionen Bezug,
seinen Entwürfen liegt auch eine bestimme Geschichtsphilosophie
zugrunde, die konkreten Ausdruck in seinen Gebäuden findet.
In Anlehnung an Benjamin hat nach Libeskind die Vergegenwärtigung
von Vergangenem zunächst etwas mit der Bedeutung und Nutzbarkeit
vergangener Ereignisse für die Gegenwart zu tun, so dass jedes
Verständnis der Vergangenheit primär von der jeweiligen
Gegenwart bestimmt wird und nicht in erster Linie die Vergangenheit „an
sich“ heraufbeschwört. Die Shoah eröffnet eine neue Dimension
von Geschichte, die der Grenzerfahrung oder des Endes der Geschichte.
Im Dialog mit dem französischen Philosophen Jacques Derrida und
dessen Konzept des „Endes“ und/oder der „Leere“ entwickelt Libeskind
eine architektonische Formensprache, die das Ende der Geschichte im
Holocaust zugleich als Anfang und Bezugspunkt für geschichtliches
Erzählen ausdrücken soll.
Geschichte erzählen heißt Vergangenes gegenwärtig
machen, es in Bezug zur Gegenwart setzen. Wenn dies architektonisch
geschieht oder Geschichte in Museen ausgestellt wird, stellen Objekte
Bezüge her, verweisen auf Vergangenes. Für Libeskind sind
diese materiellen Bedeutungsträger jedoch unzureichend, wenn vom
Holocaust die Rede ist. Objekte können, so argumentiert er, die
komplexen Beziehungen und historischen Möglichkeiten hier nicht
vollständig ausleuchten. Objekte haben kein Vokabular für
totale Zerstörung, für die Eliminierung einer Zukunft,
für das erfahrene Leid und die Schuld der Täter und
Zuschauer. Im Jüdischen Museum Berlin sucht Libeskind diesem
Unsagbaren einen Raum zu geben, „einen Raum, der sich fest in die
Berliner Stadtgeschichte eingeschrieben hat, zugleicht aber
unzugänglich bleibt“ (89). Al-Taie fragt nach der Bedeutung und
Darstellbarkeit des Unsagbaren, der Leere, der Abwesenheit in
Libeskinds Architektur. In Libeskinds Verquickung von Benjamins Begriff
der Erinnerung mit Derridas Explikation der Leere, konkretisiert in der
Shoah, entsteht die Möglichkeit aus der Erinnerung des Holocaust
eine Zukunft erwachsen zu lassen, die das Ende, den Bruch in der
Geschichte, zum Angelpunkt der weiteren Geschichtsschreibung macht.
Architektonisch realisiert wird diese Geschichtsphilosophie sowohl im
Holocaustturm im Jüdischen Museum, der vom eigentlichen Museum
isoliert steht, als auch in den sich durch alle Ebenen des Museums
ziehenden Voids – die nicht-begehbaren, aber von außen in ihrer
Isolation erfahrbaren Leerräume –, die die Ausstellungsräume
begleiten.
Im letzten Teil des Buches untersucht Al-Taie die Bedeutung von Buch
und Schriftzeichen in Libeskinds Architektur. Sie analysiert die Buch-
und Schriftverständnisse, die dem Felix-Nussbaum-Haus zugrunde
liegen, sowie die kabbalistische Buchstabenmystik, die sich im Bau der
Duisburger Synagoge und dem angrenzenden Gemeindezentrum
niederschlägt. Der Teil endet mit einer Betrachtung des
Jüdischen Museums Dänemark in Kopenhagen, dessen Struktur auf
einer Meditation des Wortes mitzvah basiert, und einer Analyse des
Jüdischen Museum San Francisco, das l’chaim architektonisch
buchstabiert. Libeskind operiert hier im Bereich der Mystik (und in
Anlehnung an Derrida), in der der Buchstabe synonym mit seiner
Bedeutung ist, welche sich als die Heiligkeit des Wortes manifestiert.
„Von dieser Voraussetzung ausgehend, kann die physische Form des
Buchstabens ins Architektonische übertragen werden, wodurch die
gebaute Form zum Träger transzendenter Bedeutung erhoben wird“
(157).
Al-Taie folgert, dass das „Jüdische“ in Libeskinds Projekten in
drei verschiedenen Dimensionen zum Ausdruck kommt: 1) in der
Auseinandersetzung des Architekten mit jüdischer Kultur und
Religion; 2) in der Einschreibung dieser Auseinandersetzung in
architektonische Formen, welches zur Folge hat, dass Räume keine
neutrale Ausstellungsfläche mehr sind; und 3) in der
Geschichtsphilosophie des Architekten, die auf den Verlust
jüdischer Menschen auch dann Bezug nimmt, wenn das vorliegende
Projekt keinen explizit „jüdischen“ Bezug hat, wie z.B. Libeskinds
Städteplanungsprojekte.
Das Buch, das als Magisterarbeit begann, ist eine solide
Einführung in Libeskinds Schaffen, die das Motiv des
„Jüdischen“ konsequent in seinen Werken nachzeichnet. Es macht
neugierig auf Al-Taies weitere Arbeiten.
Rezensentin:
Hannah Holtschneider
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