theologie.geschichte - Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte


Christian Dahlke

Kirche, wohin gehst du? Tradition und Kirche im Gegenwind

Akademietagung zur Piusbruderschaft im Erbacher Hof, Mainz


Am 7. November 2009 fand im Erbacher Hof, der Akademie des Bistums Mainz, eine Tagung zum Thema „Piusbruderschaft“ statt. Unter der Überschrift „Kirche, wohin gehst du? Tradition und Kirche im Gegenwind“ betrachteten sieben Referenten, darunter namhafte Theologen wie Karl Kardinal Lehmann, Wolfgang Beinert und Karl-Heinz Menke verschiedene Aspekte der Piusbruderschaft und beleuchteten sie aus theologischer, soziologischer und philosophischer Perspektive.

Begrüßt wurden die Teilnehmer von Akademiedirektor Prof. Dr. Peter Reifenberg, der in seiner Einleitung auf die aktuellen Debatten um Vatikan und Piusbrüder hinwies.

Zu Beginn der Vortragsrunde stellte Prof. Dr. Karl-Heinz Menke (Bonn) in seinem Referat "die traditionalistischen Wurzeln der Pius-Bruderschaft" dar. Für Lefebvre, den Gründer der Priesterbruderschaft, waren unter anderem die Schriften Joseph Marie Comte de Maistres (1753-1821) und Louis Gabriel Ambroise Comte de Bonalds (1754-1840) maßgebend, in denen diese ihre Auffassung von Traditionalismus vertraten. Beide müssen vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der französischen Revolution gesehen werden, die für die Kirche v. a. negative Folgen hatte. In ihren Ausführungen, wie etwa über die Beziehung von Autorität und Gehorsam gegenüber der Wahrung der Ordnung (de Maistre) bzw. die widernatürliche Abstraktion der Einzelvernunft durch Reformation und Revolution (de Bonald) lassen sich, so Menke, deutliche Vorläufer für das Denken Lefebvres finden. Es waren vor allem die Erfahrungen mit der französischen Revolution und ihren Folgeerscheinungen wie Neohumanismus, Liberalismus und persönlicher Freiheit des Menschen, die in den Schriften de Maistres und de Bonalds negativ konnotiert und von Lefebvre rezipiert wurden. Auf diesem Boden seien die Grundüberzeugungen der Piusbruderschaft gewachsen. Diese lehnt jeden Gedanken an eine Entwicklung der Dogmen ab, wendet sich gegen den Protestantismus, der als Ursache von Liberalismus und Humanismus (den vermeintlich schärfsten Feinden der Kirche) gilt, verurteilt das Zweite Vatikanische Konzil, da es z. B. die Autorität des Papstes in eine Kollegialität der Bischöfe aufgelöst habe und spricht den Menschen die Religionsfreiheit ab, die wiederum als Folge des um sich greifenden Liberalismus verstanden wird. Damit verbunden, so Menke, sei die Überzeugung der Piusbrüder, dass das Christentum und in ihm die katholische Kirche, die einzig wahre Religion sei. Abschließend führte Menke noch zwei Modelle zur Überwindung der aufgerissenen Gräben zwischen Traditionalismus und Rationalismus an. Maurice Blondel (1861-1949) sprach sich, vereinfacht gesprochen, für eine ‚Vermischung‘ beider Positionen aus. Dies wird laut Menke von Josef Ratzinger und Henri de Lubac mit ihrem Kommentar zu Dei Verbum für das Zweite Vatikanische Konzil nochmals aufgegriffen.

Das zweite Referat wurde von Prof. Dr. Alois Schifferle (Eichstätt) gehalten und beleuchtete "das Traditionsverständnis Erzbischof Lefebvres im Lichte der Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils und der Probleme heute".

Schifferle zeigte auf, dass sich das Traditionsverständnis Lefebvres vor allem auf die Treue zur vorkonziliaren Tradition gründet und sich in einer Ablehnung von „Neomodernismus“ und „Neoprotestantismus“ manifestiert. Seit dem Zweiten Vaticanum, konstatierte Lefebvre, seien den in seinen Augen verderblichen Einflüssen des Liberalismus und Protestantismus, welche schon mehrfach von der Kirche verurteilt worden seien, Tür und Tor geöffnet worden.

Das Traditionsverständnis Lefebvres betreffe darüber hinaus besonders die Liturgie. Für Lefebvre sei die neue Liturgie gleichsam eine neue Theologie, der Wandel des Kultes gleich der Veränderung der Tradition. Daher lehne er die Liturgiereform des Konzils ab.

Für die Pius-Brüder gebe es, so Schifferle, keinen Grund zur Trennung vom Tridentinischen Konzil. Laut eigenen Aussagen wollen die Pius-Brüder lieber auf die Konzilien und Päpste der letzten vier Jahrhunderte hören, als das heutige Lehramt anzuerkennen, das den „Reformatismus“ predige. Auf dieser Grundlage arbeitete Schifferle das Kirchenbild der Piusbruderschaft heraus, welches unter das Stichwort „Burgenmentalität“ gefasst werden kann. In diesem Bild nehmen die Priester eine autoritäre, von den Laien gänzlich abgehobene Stellung ein. Die Liturgie wird zum wichtigsten Aspekt der gesamten Theologie erhoben und die Religionsfreiheit gänzlich abgelehnt. Dies erscheint wie eine Abkehr von der Welt, wie ein „Sich – Abriegeln“ und wird daher mit dem Bild der Burg in Verbindung gebracht. Dem stellte Schifferle das Kirchenbild des Zweiten Vaticanums gegenüber, das von dem „Volk Gottes auf dem Weg“ spricht und in den wesentlichen Punkten konträr zu den Auffassungen der Piusbruderschaft steht. Schifferle schloss seinen Vortrag mit der Frage, ob auf diesem Hintergrund Gespräche zwischen Vatikan und Piusbruderschaft überhaupt einen Sinn hätten.

Der Religionssoziologie Dr. Jean-Louis Schlegel (Paris) referierte über "das aktuelle politische Umfeld der Pius-Bruderschaft in Frankreich" und ging dabei zunächst auf die Rezeption der neuzeitlichen Geschichte Frankreichs durch Lefebvre ein. Dabei stellte Schlegel heraus, dass Charles Maurras, führender Kopf der rechtsorientierten Action française für Lefebvre ein Vorbild war und beide sich in ihrer Argumentationsweise stark ähneln. In der öffentlichen Wahrnehmung komme es daher oft zu Parallelisierungen zwischen Maurras und Lefebvre. Während der Atheist Maurras keinerlei Interesse an der Bibel zeigte, zitierte Lefebvre fast nie die Bibel, sondern nur Texte der kirchlichen Tradition. Auch die Französische Revolution mit dem ihr folgenden Liberalismus und der Laizität sei ein gemeinsames Feindbild. Schlegel legte dar, dass diese politisch „rechte“ Grundpositionierung der Piusbruderschaft bis heute anhält und sich in integralistischen Versuchen, Kirche und Staat wieder unter eine Hand zu bekommen, auswirkt. Hinzu kommen enge Kontakte zur Front National unter dem rechtsextremen Jean-Marie Le Pen, deren katholischer Flügel im Wesentlichen von den Integralisten der Piusbruderschaft gebildet und unterstützt wird. Der Bruderschaft und der Partei ist gemeinsam, dass sie jegliche Form von Einwanderungen, vor allem von Muslimen, ablehnen und öffentlich dagegen protestieren. Dabei werden auch rassistische Stereotypen und diffamierende Äußerungen über die Einwanderer benutzt.

Nach dem „Fall Williamson“ hat sich das bisher recht neutrale Bild der Bruderschaft in der französischen Öffentlichkeit zum Negativen hin gewandelt. Es herrscht eine allgemeine Ratlosigkeit, wie man die Bewegung einordnen soll. Schlegel sieht in der Bruderschaft eine sektenähnliche Gruppierung und ist demnach sehr skeptisch, was die zukünftigen Dialoge bringen werden.

Der Theologe Dr. Sven Boenneke (Mainz) sprach über "das kirchliche Handeln der Pius-Bruderschaft – ein Realitätstest". Er beschäftigte sich vor allem mit der Haltung der Bruderschaft gegenüber der Messfeier der katholischen Kirche. Laut Boenneke ziehen die Piusbrüder die nachkonziliare Liturgie der Kirche hinsichtlich ihrer Gültigkeit in Zweifel. Der „novus ordo“ sei zwar nicht per se ungültig, aber Gott nicht wohlgefällig. Die Gemeinschaft spreche auch von einer „Protestantisierung“ der Liturgie nach dem Konzil. Die Gültigkeit der „novus ordo“-Messe hänge von der Intention des Priesters ab, der die Messe zelebriert. Grundsätzlich werde aber aus Sicht der Piusbrüder davon abgeraten, die „neue Messe“ zu besuchen. Stattdessen sollen die Gläubigen der Eucharistie im Ritus der „Messe aller Zeiten“ von 1570 beiwohnen. Die Absage an die nachkonziliare Liturgie und die eigenmächtige Beibehaltung des tridentinischen Ritus begründen die Piusbrüder mit dem Eintritt des Kirchennotstandes, der durch den Amtsmissbrauch des Papstes eingetreten sei. Die Bruderschaft zieht hier eine Trennlinie zwischen „Katholizismus“ (den sie beansprucht zu vertreten) und „Konziliarismus“ (den sie mit der römisch-katholischen Kirche gleichsetzt). Sie hält diese beiden Formen für miteinander unvereinbar. In den Bereichen des kirchlichen Handelns (Theologie, Liturgie, Lehramt etc.) gehen, laut Boenneke, die Piusbrüder nur in dem Maße mit dem Papst konform, in dem er der vorkonziliaren Tradition verhaftet ist. Wann sich der Papst also „korrekt“ verhält oder nicht, wird von der Pius-Bruderschaft eigenmächtig entschieden. Im Allgemeinen, so konstatiert Boenneke, will die Pius-Bruderschaft Rom bekehren. Er stellt sich daraufhin die Frage, ob unter diesen Bedingungen die geplanten Gespräche überhaupt zu einem fruchtbaren Ergebnis kommen können. Boenneke geht, wie viele andere Theologen, von einem klaren Nein aus, auch wenn insgeheim noch auf Überraschungen gehofft wird.

Der fünfte Referent der Tagung, Prof. em. Dr. Wolfgang Beinert (Regensburg) ging in seinem Vortrag „Bloß Pastoral oder dogmatisch verpflichtend?" auf die Verbindlichkeit des Zweiten Vatikanischen Konzils ein. Dabei hielt er fest, dass, geschichtlich betrachtet, ein Konzil immer ein „Antikonzil“ bedingte. Am deutlichsten treten hierbei die Sedisvakantisten hervor, die das Zweite Vatikanische Konzil nicht als dogmatisierendes Beschlussgremium, sondern als pastoraltheologische Arbeitsgruppe verstünden, deren Beschlüsse nicht bindend seien. Laut Beinert sei der Charakter des Zweiten Vaticanums aber pastoral aufgrund seiner Adressaten und zugleich dogmatisch wegen seiner Inhalte. Es gäbe keine Einseitigkeit des Zweiten Vaticanums hinsichtlich der Pastoral. Ebenso seien die dogmatischen Verlautbarungen des Konzils gleichrangig mit denen aller anderen Konzilien im Laufe der Kirchengeschichte und deshalb gleichermaßen anzuerkennen. Wer dies nicht tut, muss sich, so Beinert, nach seiner Rechtgläubigkeit fragen lassen. Daher seien auch die Aussagen der Pius-Bruderschaft hinsichtlich des letzten Konzils sachlich schlichtweg falsch. Beinert sagte zum Abschluss: „Eine Pastoral ohne Dogmatik ist inhaltsloses Gerede; bei einer Dogmatik ohne Pastoral könne man sich in ein philosophisches Oberseminar setzen, man würde nichts verstehen.“

Der Ökumene-Referent des Bistums Mainz, Dr. Anton van Hooff, hielt sein Referat zum Thema „Tradition ereignet sich in der Geschichte. Was bleibt im Wandel?“ Er sagte dabei wörtlich, dass „Lefebvre und die Piusbrüder die lebendige Tradition des Glaubens verlassen haben.“ Die Kirche vertrete ein „vielschichtigeres Bild der Überlieferung“, während die Pius-Bruderschaft dieses Bild zu stark vereinfache, indem sie die Kontinuität als göttlich, die Veränderungen in der Interpretation von Glaubensaussagen aber als eigenmächtige  menschliche Handlung ansehe, die illegitim und daher abzulehnen sei. Die Menschheitsgeschichte verkomme in dieser Sichtweise zu einem „Vehikel“ für die unabänderlichen Dogmen, die sich durch alle Jahrhunderte der Geschichte ziehen. Daher, so van Hooff, findet bei den Pius-Brüdern kein Austausch zwischen Glaube und Menschheitsgeschichte statt. Daraus resultiere ein tiefer Graben zwischen Glaube und Gesellschaft, den die Pius-Bruderschaft in Kauf nehme, um ihr Traditionsverständnis durchzusetzen.

Zum Abschluss der Tagung nahm Karl Kardinal Lehmann, der Bischof von Mainz, eine Synthese der vorangegangenen Referate vor und stellte anhand verschiedener Texte heraus, dass von der biblischen Überlieferung bis hin zum Zweiten Vatikanischen Konzil ein durchgängiger „roter Faden“ von Offenbarung, Tradition und Kirche verlaufe. So habe sich schon Paulus bei seinen Schriften und Lehren immer rückversichert, was die Kirche sagt. Er stützte sich damit auf das Bekenntnis der damals noch jungen und wenig organisierten Kirche (vgl. 1 Kor 15,1-11). Allerdings seien schon zur Zeit des Alten Testaments die Anfänge einer Tradition der Offenbarung spürbar (vgl. Dtn 26,5-9). Diesen im Alten Testament beginnenden „roten Faden“ zog Lehmann über die Jahrhunderte der Kirchengeschichte hinweg bis hin zum Zweiten Vatikanischen Konzil und dessen Dekret über die Offenbarung Dei verbum. Lehmann sagte wörtlich: „Natürlich wird diese wechselseitige Bestimmung von Offenbarung und Schrift, Tradition und Kirche im Lauf der Jahrhunderte immer wieder, je nach Situation, Zeitgenossen, kulturellen Milieus und den verschiedenartigen Zugängen unterschiedlich formuliert. Aber es bleibt bei dem aufgezeigten Grundgefüge.“ Dieses Grundgefüge ist laut Lehmann die Korrelation zwischen der heiligen Schrift und dem kirchlichen Lehramt. Die Kirche habe die Aufgabe, das Wort Gottes zu verkünden, sie stehe aber nicht über dem Wort, sie verkünde nur das, was überliefert ist. Insofern sei Dei verbum ein „eindrucksvoller Text, der eine Zusammenfassung der verbindlichen Aussagen der Kirche darstellt, andererseits aber genügend Offenheit für die theologische Arbeit aufweist.“

Zur Tagung soll voraussichtlich im Frühjahr 2010 ein Tagungsband erscheinen, in dem alle Referate zugänglich sind.




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