theologie.geschichte - Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte

Rainer Bendel (Hrsg.): Vertriebene finden Heimat in der Kirche. Integrationsprozesse im geteilten Deutschland nach 1945. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2008 (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands, Bd. 38), 79.90 EUR, 648 S., ISBN: 9783412201425


Der vorliegende Band geht auf die im Jahr 2006 veranstaltete 44. Arbeitstagung des Instituts für Ostdeutsche Kirchen- und Kulturgeschichte zurück und präsentiert in fünf Abschnitten die Tagungsbeiträge sowie in einem sechsten Abschnitt eine Quellendokumentation aus Beständen des Bistums Görlitz.

In seinem einführenden Beitrag weist Rainer Bendel auf zwei Herausforderungen der Forschung zu Vertreibung und Integration unter konfessioneller und kirchlicher Perspektive hin: Zum einen ist die Heterogenität der Erfahrungsräume sowohl der Betroffenen als auch der Einheimischen in den Aufnahmegebieten zu berücksichtigen, die jeweils zu unterschiedlichsten Erwartungshorizonten in einer Gesellschaft im Umbruch führten (vgl. S. 3ff.). Zum anderen stellte in den letzten Jahren die Frage der Archivsicherung im kirchlichen Raum und die Übernahme von Akten aus Vertriebenenvereinigungen in verschiedenen Bistumsarchiven sowie deren Erschließung ein Problemfeld dar, mit dem sich auch die kirchengeschichtliche Forschung im Dialog mit Archivaren auseinandersetzt.

Aus der ersten Herausforderung leitet Bendel das Desiderat weiterer vertiefter Regional- und Lokalstudien ab. Fünf solcher Beiträge finden im Abschnitt A des Bandes Berücksichtigung. Marco Eberhard untersucht am Beispiel der württembergischen Diasporastadt Nürtingen den Prozess der Gemeindebildung nach dem Zuzug überwiegend sudetendeutscher Katholiken. Die weiteren Beiträge fokussieren auf die Herausforderungen für die Seelsorge in der SBZ/DDR: Daniel Lorek arbeitet die federführende Rolle des Erzbischöflichen Kommissariates Magdeburg in der Ausbildung pastoraler MitarbeiterInnen heraus. Mit der Ausbildung von KatechetInnen in Görlitz und Cottbus sowie dem Aufbau der Seelsorge im Gebiet Görlitz allgemein beschäftigen sich Beate Cwiertnia und Svenja Hecklau, wobei zum einen die Rolle des Kapitelsvikars und späteren Bischofs Ferdinand Piontek und zum anderen die langfristigen Probleme durch Abwanderungsprozesse dargestellt werden. Den Regionalstudien vorangestellt ist ein Überblick von Josef Pilvousek und Elisabeth Preuß, der sowohl einen kurzen Forschungsüberblick, eine Darstellung der Quellenerschließung als auch Thesen für die weitere Forschung beinhaltet. Die Autoren fordern u. a. eine Neubewertung des Integrationsbegriffs, dem sie den (m. E. unscharfen und zeitgenössich anmutenden) Begriff der „Beheimatung“ vorziehen; des Weiteren wird eine kritische Überprüfung der Statistiken und Flüchtlingszahlen sowie eine Einbeziehung der liturgischen und pastoralen Prägung aus den Herkunftsgebieten eingefordert, folglich die Berücksichtigung des erwähnten Erfahrungsraumes. Letzterer wird in diesem Sammelband nur im einzigen Beitrag des Abschnitts D thematisiert: Martin Zückert stellt den Stand der kirchengeschichtlichen Erforschung der böhmischen Länder im 20. Jahrhundert vor. Akzente setzt Zückert auf das Einsetzen von Veränderungsprozessen religiöser Praxis vor der Zäsur 1945 sowie auf die Forderung nach einer stärker kontextuell arbeitenden Kirchengeschichte.

Der Abschnitt B ist kirchlichen Eliten in der Vertriebenenseelsorge gewidmet. Die Beiträge von Hans-Jürgen Karp und Sebastian Holzbrecher konzentrieren sich auf herausragende Akteure wie den ermländischen Bischof und späteren Vertriebenenbischof Maximilian Kaller sowie den aus Schlesien stammenden Breslauer und späteren Kölner Weihbischof Joseph Ferche, die beide zu Identifikationsfiguren katholischer Vertriebener wurden. Mit dem Klerus als Elitegruppe und seiner Integration im Bistum Meißen und im Diözesangebiet Görlitz-Cottbus beschäftigt sich Ulrike Winterstein, wobei in ihrem Projekt neben der kollektiven Perspektive auch individuelle Erfahrungen und Lebenswege Berücksichtigung finden sollen.

Individuelle und kollektive Erfahrung und Erinnerung stehen ebenfalls im Zentrum des folgenden Abschnitts „Vertreibungserfahrungen intergenerationell“. Unterschiede in der zeitgenössischen und späteren Wahrnehmung im Verhältnis von Vertriebenen und Kirche untersuchen Christian Erdmann-Schott am Beispiel der evangelischen Kirche und Karolina Lang hinsichtlich der katholischen Ermländer. Der bereits erwähnte Bischof Kaller konnte für die letztgenannten, so Lang, den „imaginations- und inszenierungsstarken Katholizismus zum Zwecke einer Gemeinschaftsstiftung“ erfolgreich nutzen (S. 173). Allerdings konnte auch die Kirche die seelischen Belastungen der Nachkriegszeit vielfach nicht heilen. Dies wird im Beitrag von Christa Müller, Elisabeth Heidtmann und Michael Ermann deutlich, die das Projekt „Kriegskindheit“ der Ludwig-Maximilians-Universität München vorstellen, eine psychoanalytisch angelegte Studie, die sowohl auf Psychotherapieberichten als auch auf Forschungsinterviews beruht. Erste Befunde deuten auf verbreitete Schuld- und Schamgefühle der betroffenen Generation hin (vgl. S. 184f.). Deren Verdrängung veranlasst die Autoren zu dem eindringlichen intergenerationellen Appell, miteinander zu reden, zu forschen und zu erinnern.

Einen breiten Bogen zum Thema kollektives Gedächtnis und Erinnerungskultur spannt Otfried Pustejovsky. In seinem Beitrag zeichnet er zunächst die jüngste gesellschaftliche und mediale Wahrnehmung und Bewertung von Vertreibung und Kriegserfahrung nach und greift anschließend die These auf, dass breite Bevölkerungsschichten am Posttraumatischen Belastungssyndrom litten und an den Spätfolgen noch heute leiden (vgl. S. 202ff.). Ebenso wie Müller, Heidtmann und Ermann plädiert Pustejowsky für die intensivierte Auseinandersetzung mit Lebens- und Familiengeschichten und fordert nichts weniger als eine Überprüfung des europäischen Geschichtsbildes (S. 213).

Der Abschnitt E des Bandes führt zurück von den Zeitzeugenberichten zu überlieferten Quellen. In kurzen Beiträgen wird die Überlieferungslage in deutschen (Bistums-)Archiven (Thomas Scharf-Wrede für die Diözesanarchive und Benita Berning zur Ackermann-Gemeinde), in polnischen (Maria Dębowska) sowie tschechischen Archiven (Otfried Pustojewsky) beleuchtet. Es folgt mit der Dokumentation (F) schließlich der quantitativ größte Abschnitt des Bandes (S. 289–635). Winfried Töpler hat hier unter der Überschrift „Der zehntausendfüßige Menschenwurm“ und mit einleitenden historischen Ausführungen zum Bistum Görlitz eine Quellenedition zur Vertriebenenankunft und -integration in der unmittelbaren Nachkriegszeit zusammengestellt.

Insgesamt erschließt sich mit diesem Sammelband für Forschende der profanen und kirchlichen Integrationsgeschichte eine Vielzahl von Quellenbeständen und zwar über die Edition zu Görlitz hinaus, da viele Beiträge über ein detailliertes Quellenverzeichnis verfügen. Dies liegt nicht zuletzt darin begründet, dass etliche Beiträge auf Qualifikationsarbeiten beruhen und die Provenienz der Quellen hier deutlich herausgearbeitet wird. Diese Einbeziehung und Publikation von Ergebnissen aus Abschlussarbeiten ist sehr zu begrüßen. Allerdings ist die wissenschaftliche Tiefenschärfe des Bandes sowohl im Vergleich dieser Arbeiten untereinander als auch im Vergleich zu den übrigen Autoren im Ergebnis von sehr unterschiedlicher Reichweite.



Rezensentin:
Sabine Voßkamp

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