theologie.geschichte - Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte

Dirk Ansorge (Hrsg.), Antisemitismus in Europa und in der arabischen Welt, Frankfurt a. M. 2006, Bonifatius-Verlag, 19.90 EUR, 318 S., ISBN: 9783874765183.


Trotzdem der vorliegende Band bereits 2006 erschienen ist, hat er an Aktualität nicht verloren. Antisemitische Stereotype sind ungeachtet des europaweiten Engagements gegen Antisemitismus etwa im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, politischer Statements, Medienanalysen, wissenschaftlicher Publikationen und nicht zuletzt der Konzeption und Bereitstellung von Unterrichtsmaterialien noch immer virulent. Antisemitische Straftaten haben in der Bundesrepublik zugenommen, insbesondere im Bereich der Propagandadelikte, aber auch in Bezug auf Gewalttaten. In vielen Ländern beschränkt sich die Beobachtung antisemitischer Vorkommnisse noch immer ausschließlich auf das rechtsextreme Spektrum und vernachlässigt damit judenfeindliche Übergriffe, die einen anderen gesellschaftlichen oder politischen Hintergrund haben.

In seiner Einleitung thematisiert der Herausgeber Dirk Ansorge die aktuellen Formen und Motive des Antisemitismus, die sich aus einer unreflektierten, einseitigen, die Grenzen zum Antisemitismus durchbrechenden Israelkritik ergeben. Dies ist auch auf eine Opfer-Konkurrenz zurückzuführen, die aus einer einseitigen Parteinahme für die Palästinenser entsteht und nicht zuletzt durch die Medien geschürt wird. Dieser Opfer-Diskurs eignet sich etwa in Deutschland hervorragend, um die ehemaligen Opfer zu Tätern zu stempeln und damit die eigene Vergangenheit zu entschulden. Der Nahostkonflikt wird zum Katalysator für Antisemitismus, so Ansorge, „nicht nur in der arabischen Welt, sondern auch in Europa“.

Der Politologe Karl-Heinz Klein-Rusteberg beschäftigt sich mit aktuellen Debatten in den USA, um der Frage nachzugehen, ob die aktuelle Judenfeindschaft ein neuer Antisemitismus sei. Er tut dies an zwei Beispielen. Zunächst setzt er sich mit einigen Artikeln des amerikanischen Literaturkritikers Leon Wieseltier auseinander, der die in der Folge der Anschläge auf das World Trade Center in New York im September 2001 in den USA vor allem von Journalisten jüdischer Herkunft für die verbalen und tätlichen Angriffe auf Israel verwendete „groteske“ NS-Vergleichsterminologie heftig kritisierte. Gewöhnlich finden wir solche Vergleiche im pro-palästinensischen und anti-israelischen politischen Spektrum. Beide Seiten nutzen Vergleiche mit dem Holocaust, um die Ereignisse möglichst plastisch zu schildern und ihnen eine Dramatik zu verleihen, die unmittelbare Aufmerksamkeit erzeugt. Klein-Rustebergs zweites Beispiel ist das Buch „The Plot against Amerika“ von Philipp Roth, indem es um die fiktive Präsidentschaftskandidatur des Fliegers und Antisemiten Charles Lindbergh geht. Klein-Rusteberg versucht deutlich zu machen, wie stark historische Ereignisse in die Gegenwart wirken und historische Argumente sich ins Gegenteil verkehren können, wenn etwa die „fundamentale Ablehnung Israels auch als Friedensbotschaft“ auftritt.

Kann man Klein-Rustebergs Argumentation als ein Plädoyer gegen die These eines „neuen Antisemitismus“ lesen, so hilft die Begriffserklärung des Historikers Georg Christoph Berger Waldenegg in diesem Punkt nicht weiter. Berger Waldenegg konstatiert, die verschiedenen Definitionen dessen, was „Antisemitismus“ meint, fielen sehr unterschiedlich aus. Diese Feststellung ist zweifellos richtig, aber lässt sich daraus auch ableiten, dass eine kurze und knappe Erklärung des Begriffs, die in vielen Zusammenhängen hilfreicher ist, als komplizierte Strukturanalysen, so kategorisch sei, dass „kein Zweifel möglich erscheint“? Jede Definition lässt die Möglichkeit offen, über Grenzfälle zu diskutieren. Selbst wenn eine als allgemeingültig geltende Definition vorläge, muss doch immer noch danach gefragt werden, in welchem Kontext eine entsprechende Aussage gemacht wurde. Dass der Antisemitismusbegriff eine Wortschöpfung des 19. Jahrhunderts ist, die von einem falschen Wortstamm ausgeht, ist längst keine neue Erkenntnis mehr. Der Begriff meint einzig und allein „Judenfeindschaft“ und hat nichts mit „Semiten“ zu tun, die keine Volksgruppe, sondern Angehörige einer Sprachfamilie sind. Berger Waldeneggs Ausführungen überzeugen nicht. Warum kann „Antisemitismus“ im heutigen Sprachgebrauch nicht als ein Terminus verwendet werden, der als Sammelbegriff für die verschiedenen Formen der Judenfeindschaft dient, die bis heute Aktualitätswert haben: die christliche Judenfeindschaft; der moderne Antisemitismus mit all seinen Stereotypisierungen vom reichen, geldgierigen, mächtigen Juden; der heute weitgehend marginalisierte Rassenantisemitismus; der sekundäre Antisemitismus, der der Entschuldung der Vergangenheit dient; der Antizionismus in seiner heutigen Wortbedeutung, die sich längst vom innerjüdischen Diskurs entfernt hat. Berger Waldenegg zeigt eine Reihe von Beispielen, über deren antisemitische Ausrichtung sich sicherlich diskutieren lässt. Letztlich bleibt der Autor aber eine eigene Definition schuldig.

Im europäischen Rahmen bedient man sich heute einer „Working definition“, die von der Menschenrechtsabteilung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und der Europäischen Beobachtungsstelle für Rassismus und Xenophobie 2005 erarbeitet wurde: „Der Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und / oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“ Es folgt eine Reihe von Beispielen des Antisemitismus im öffentlichen Leben, in den Medien, Schulen, am Arbeitsplatz und im religiösen Umfeld, die helfen sollen, antisemitische Stereotype zu erkennen. Vielleicht kann diese Vorlage hilfreich sein - auch wenn sie nicht jeden befriedigt - das ständige Bedürfnis „Antisemitismus“ definieren zu wollen,  obsolet werden zu lassen.

Klaus Holz kommt in seinem informativen Beitrag, der die aktuelle Situation nicht nur in Deutschland beleuchtet, zu Recht zu dem Ergebnis, dass es sich nicht um einen neuen Antisemitismus handelt, weil nur die „hergebrachten Strukturen des Antisemitismus an die veränderte weltgeschichtliche Lage angepasst“ werden. Neu ist für Holz eigentlich nur, dass sich in verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Lagern ein identischer Antisemitismus etabliert, nämlich ein antizionistischer Antisemitismus. Der Autor beschäftigt sich auch mit dem „islamisierten Antisemitismus“ und bezieht sich dabei auf das von Michael Kiefer 2002 geprägte Begriffspaar, das die Problematik antisemitischer Vorurteile in Teilen der europäischen Bevölkerung mit muslimischem Migrationshintergrund umschreibt. Überzeugend ist auch die hier von Holz, wie bereits an anderer Stelle, wieder aufgegriffene Konstruktion der Juden als „Dritte“. Die Gesellschaft lässt sich danach unterteilen in eine „wir-Gruppe“, eine Gruppe „der anderen“ (Minderheiten; Fremde) und schließlich die Juden, die außerhalb stehen und eben nicht als „anderes Volk“, „andere Rasse“ oder „andere Religion“ gesehen werden, sondern als mächtige „dritte“ Gruppe, die vermeintlich die Weltherrschaft anstrebt und dies auch noch im Geheimen tut.

Der Soziologe Werner Bergmann fasst in seinem Beitrag zum Phänomen des sekundären Antisemitismus, der sich auf Schuldabwehr gründet, noch einmal die von Klaus Holz erarbeiteten Motive des Antisemitismus zusammen. Seine weiteren Ausführungen konzentrieren sich auf die historische Entwicklung des Schuldabwehr-Antisemitismus seit 1945. Er stützt sich dabei auf Einstellungserhebungen und auf Zuschriften an den Zentralrat der Juden in Deutschland, die in selbst entlarvender Weise den Versuch einer Entschuldung der deutschen Vergangenheit dokumentieren. Bergmann konstatiert, dass der Antisemitismus heute keine sozialen Trägerschichten mehr hat und auch religiöse Differenzen keine große Rolle mehr spielen. Reste religiös bedingter, antijudaistischer Vorurteilsstrukturen sind allerdings noch immer virulent, sie lassen sich noch im Vorwurf einer angeblich jüdischen Rachsucht finden, wobei sich dahinter heute häufig Versuche einer Erinnerungsabwehr und Entlastungsstrategie verbergen. Religiöse Traditionen spielen also nach wie vor eine Rolle, werden aber in den Dienst eines neuen Motivs gestellt. Ebenso verhält es sich mit aktuellen Formen der Judenfeindschaft, die sich gegen Israel und/oder die israelische Politik wenden. Biblische Motive wie der Bethlehemitische Kindermord werden auf Israel transferiert und Israelis zu notorischen Kindermördern stilisiert. Bergmanns Ausführungen widersprechen der These eines „neuen Antisemitismus“. Er zeigt wie historische Muster des Antisemitismus bis heute wirken. Schlüssig belegt Bergmann auch, dass Erinnerungsabwehr per se nicht antisemitisch ist, aber dazu genutzt wird, diejenigen, die durch ihre Präsenz die Erinnerung wach halten, als „Störenfriede“ aus der Gemeinschaft auszuschließen. Solche Motive sind ebenso wie Opferdiskurse, die das eigene Leid mit dem Holocaust gleichsetzen, nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern, Motor für antisemitische Haltungen. Die beginnende Auseinandersetzung mit der doppelten Vergangenheit hat in den letzten Jahren vor allem in Ländern Ost- und Mitteleuropas antisemitischen Vorurteilen neue Nahrung gegeben.

Die Osteuropa-Historikerin Viktoria Pollmann zeigt am Beispiel Polen, dass auch hier nicht von einem „neuen Antisemitismus“ die Rede sein kann. Seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist der Antisemitismus integraler Bestandteil des extremen Nationalismus, aber auch der Katholischen Kirche in Polen. Die Autorin macht deutlich, dass das Kriegsende 1945 keineswegs eine Zäsur bedeutete. Antisemitische Haltungen waren kein Tabu, sie entluden sich gar in Pogromen, wie jenem von Kielce im Sommer 1946. Die tradierten antijudaistischen Motive wurden ergänzt durch Vorurteile, die aus der Unterstellung erwuchsen, Juden seien Kommunisten und damit ebenso Feinde des Polentums wie der Kirche. In den 50er und 60er Jahren wirkte sich die antisemitische Welle in der Sowjetunion auch auf die Politik Polens aus. Juden wurden als Kosmopoliten und als Internationalisten diffamiert, die dem polnischen Staat gegenüber nicht loyal seien. Die staatlich gelenkte Verfolgungswelle konnte sich auf lange tradierte antisemitische Vorurteilsstrukturen in der Bevölkerung stützen und führte am Ende dazu, dass die meisten Juden das Land verließen. Auch nach der politischen Wende 1989 hatte die Kirche einen starken Einfluss in Polen und spielte eine nicht unerhebliche Rolle in öffentlichen Debatten um die Auseinandersetzung mit einer doppelten Vergangenheit. Nicht zuletzt konnte sich der antisemitische Sender „Radio Maryja“ mit Unterstützung der Kirche etablieren. Obgleich Papst Benedikt XVI. die Hetze des Senders missbilligt, findet der Sender nach wie vor Unterstützung bei Kirchenleuten und auch bei prominenten Politikern. Allerdings, so die Autorin, hat sich der Einfluss der Kirche insofern gewandelt, dass sie nur noch ein Faktor der geistigen Beeinflussung unter vielen ist und Umfragen zeigen, dass, ähnlich wie in anderen Ländern auch, antisemitische Einstellungen eng mit Lebensalter und Bildungsgrad zusammenhängen.

Frankreich ist seit 2000, dem Beginn der zweiten Intifada, immer wieder wegen antisemitischer Übergriffe in den Schlagzeilen. Der Journalist Danny Leder untersucht das Verhältnis von Muslimen und Juden im Land. Bis Mitte der 90er Jahre herrschte der Eindruck, als gebe es keinerlei Probleme im Zusammenleben von Muslimen und Juden in Frankreich. Leder sieht die antisemitischen Übergriffe, die in den Jahren 2000 und 2002 in Frankreich sprunghaft anstiegen und insbesondere von Jugendlichen in den Randbezirken der Städte begangen wurden, als Vorfälle, die sich „in einer Grauzone zwischen ‚allgemeiner’ Jugendgewalt und dem unter Muslimen grassierenden Judenhass“ bewegen. Nachdem die Entwicklung von der Politik zunächst unterschätzt wurde, haben staatliche Stellen 2004 mit einem Maßnahmenkatalog und einer schnellen und strengen Ahndung der judenfeindlichen Anschläge reagiert. Leder konstatiert zu Recht, dass daraufhin im Jahr 2005 die Zahl der antisemitischen Vorfälle zurückging. Hier bleibt allerdings zu ergänzen, dass sich nach der Drucklegung des hier vorliegenden Bandes die Situation erneut negativ entwickelte. Der Libanonkrieg 2006 hat dazu geführt, dass die Zahl der tätlichen Übergriffe im Jahr 2006 (213) erneut um 40% angestiegen ist. Verbale antisemitische Übergriffe und Schändungen haben im gleichen Zeitraum um 7% zugenommen: 2006 wurden 158 Fälle registriert und 2005 148.[1] Antisemitische Beleidigungen und Beschimpfungen stiegen um 71% von 2005 48 Fällen auf 2006 82. Nicht nur der Libanonkrieg, sondern vor allem auch die Entführung, Misshandlung und Tötung des 23-jährigen Ilan Halimi im Februar 2006, auf die Leder noch ausführlich eingeht, haben die Situation wieder verschlechtert. Die Täter waren junge franko-arabische und franko-afrikanische Muslime. Der Tod Halimis löste allgemeine Entrüstung aus, muslimische Würdenträger nahmen an Trauermärschen teil. Gleichzeitig stieg aber auch die Gewalt gegen Juden in den Vorstädten wieder an. Leders Beitrag bleibt nicht bei der Bestandsaufnahme stehen, er geht auf mögliche Hintergründe und Ursachen für die Gewalt gegen Juden ein. Er beschreibt die Defizite der Integration französischer Staatsbürger mit muslimischem Hintergrund und verweist auf die Opferdiskurse. Gerade in den letzten Jahren hat die Auseinandersetzung mit dem Holocaust in Frankreich einen hohen Stellenwert erhalten. Das wiederum führt dazu, dass sich insbesondere Jugendliche aus Familien, die aus den ehemaligen Kolonien Frankreichs ins Mutterland gekommen sind, in der Wahrnehmung ihrer eigenen Verfolgungsgeschichte zurückgesetzt fühlen. Die Beschäftigung mit ihrer Geschichte ist ein Desiderat, das neben der Diskriminierung im Alltag, auf dem Arbeitsmarkt usw. Neid auf die jüdische Bevölkerung auslöst, die z. T. aus den gleichen Regionen stammt. Unter einem Teil der französischen Muslime hat sich die Vorstellung verfestigt, Juden würden sich eine „Monopolstellung“ als Opfer herausnehmen. Solche Vorurteile bedient ganz prominent der schwarze Komiker und Bühnenautor Diedonné M’Bala M’Bala. Er hat den Jugendlichen vorgeführt, dass man mit provokanten antijüdischen Slogans und entsprechendem Verhalten Öffentlichkeit erzeugen kann.

Die Grundlage für die Ausführungen Leders, der sich mit den europäischen Auswirkungen des ursprünglich aus Europa in die arabische und nordafrikanische Welt getragenen Antisemitismus beschäftigt, bietet der Islamwissenschaftler Jochen Müller. Er beleuchtet in seinem Beitrag die Hintergründe des Antisemitismus und Antizionismus in der arabischen Öffentlichkeit. Zu Recht verweist Müller auf die Interpretation des Antisemitismus als eine „umfassende Weltanschauung“. Zu folgen ist seinen Ausführungen auch in Bezug auf den Antizionismus, der heute häufig die Rolle des durch den Holocaust diskreditierten Antisemitismus einnimmt und ideologisch-politischer Kern des arabischen Nationalismus ist. In der arabischen Welt, so Müller, haben „häufig aus Europa importierte klassische antisemitische Stereotypen Eingang in eine sich als antizionistisch begreifende Propaganda gegen Israel und seine Politik gefunden“. Dieser Antisemitismus kann im Gegensatz zu fiktionalen Konstrukten über die Juden, wie sie in den europäischen Ländern grassieren, Anbindung finden an einen realen Konflikt – die territoriale Auseinandersetzung um Palästina. Müller zeigt wie antijüdische Koranauslegungen von Islamisten und konservativen Predigern, aber auch antisemitische Konstrukte europäischer Provenienz - wie die „Protokolle der Weisen von Zion“ - Eingang in populäre arabische Fernsehsendungen und Printmedien finden. Wesentlicher Motor judenfeindlicher Haltungen sind antisemitische Verschwörungstheorien. Ein Verdienst dieses Beitrags ist es, zu zeigen, dass es dazu in der arabischen Welt durchaus auch Gegenstimmen gibt. Die häufig einseitige und pauschalisierende europäische Wahrnehmung des Antisemitismus/Antizionismus in den arabischen Ländern verstellt den Blick auf kritische Stimmen. Müller zitiert neben anderen die palästinensisch-britische Autorin Ghada Al-Karmi, die antisemitische Verschwörungstheorien für gefährlich hält, weil sie analytisches Denken blockierten und damit die „wirklichen Gründe für die Niederlage der Araber“ verdeckten. Der Staat Israel wird zur Projektionsfläche eigener Schwäche und Demütigung durch äußere Feinde.

Einen zentralen Beitrag für die Einschätzung des Antisemitismus in der arabischen Welt liefert der Historiker und Spezialist für die Geschichte der orientalischen Christen Bernard Heyberger, wenn er die Rolle der Christen bei der Vermittlung antisemitischer Stereotypen in dieser Region beleuchtet. Heyberger beginnt mit seiner historischen Retrospektive Mitte des 19. Jahrhundert und widmet sich besonders der „Damaskus-Affäre“ 1840 und ihren Folgen. Auslöser war eine Ritualmordbeschuldigung. Derartige Unterstellungen tauchten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer Reihe von Städten in der arabischen Welt immer wieder auf. Heyberger macht deutlich, dass „das Vordringen des Westens in den Orient eine bedeutsame Rolle bei der Verbreitung judenfeindlicher Stereotypen gespielt“ hat und die Beschuldigung gegen Juden, dem Experten Bernard Lewis folgend, stets in einem christlichen Kontext auftraten. Wie Müller sieht auch Heyberger den Einfluss eines aufkommenden arabischen Nationalismus als ein wesentliches Element bei der Verbreitung des Antisemitismus, dessen christliche Wurzeln den Boden in der arabischen Welt bereitet hatten. Heyberger endet mit der Bemerkung, dass die erste arabische Übersetzung der „Protokolle der Weisen von Zion“ von einem maronitischen Priester vorgelegt wurde.

Die Rezeption der „Protokolle“ und die Rolle des Islam bei der Verbreitung antisemitischer Stereotype beleuchtet der Islamwissenschaftler Stefan Wild. Seine wichtige Grundthese lautet: „Der nahöstliche Antisemitismus ist Folge, nicht Ursache des Nahost-Konflikts.“ Wild zeichnet den Weg der „Protokolle“ in die arabische Welt nach. Nachdem bereits in den 20er Jahren die erste arabische Übersetzung durch einen Christen vorlag, wurde erst 1951 die erste von einem Muslim übertragene Fassung in Ägypten veröffentlicht. Das antisemitische Pamphlet eignete sich hervorragend im Kampf gegen den Zionismus und den Staat Israel. Heute hat sich auch bei seriösen arabischen und palästinensischen Historikern die Überzeugung durchgesetzt, dass es sich bei den „Protokollen“ um ein antisemitisches Machwerk handelt, allerdings scheint ihr Einfluss auf die öffentliche Meinung eher gering zu sein. Die „Protokolle“ sind, so Wild, im breiteren gebildeten Diskurs, im Feuilleton der arabischen Presse nach wie vor populär und nehmen teilweise „bedrückende Ausmaße“ an, werden aber immer wieder auch von Journalisten kritisch hinterfragt. Außer in den Medien finden sie – vielleicht noch viel bedenklicher – Verbreitung in Schulbüchern, an Universitäten und im religiösen islamischen Diskurs. Wild positioniert sich in der Debatte um die Ursachen des Antisemitismus in der arabischen Welt eindeutig auf der Seite derer, die den Antisemitismus/Antizionismus als Folge des Palästina-Konflikts sehen und die Vorstellung, judenfeindliche Stereotypen seien in der arabischen Welt als Fortsetzung einer bis auf Mohammed und den Koran zurückreichenden arabisch-islamischen Tradition zu werten,  ablehnen.

Der Historiker und Kulturwissenschaftler Omar Kamil beschäftigt sich mit dem Thema der Holocaustleugnung bei arabischen Intellektuellen. Für ihn nehmen die arabischen Gesellschaften den Holocaust durch dessen Leugnung wahr. Kamil untersucht die Gründe dieses arabischen Leugnungsdiskurses. Er geht von einer Grundthese aus, nach der die „eingeschränkte Wahrnehmung des Holocaust durch arabische Intellektuelle“ sich dort aufzeigen lässt, „wo sich das Leiden der Araber unter dem Kolonialismus als Konkurrenz zum jüdischen Leid im Holocaust in die Geschichte eingeschrieben hat“. Ebenso wie in manchen europäischen Diskursen liegt auch hier eine der Ursachen für antisemitische Vorurteile in der Opferkonkurrenz. Kamil verweist darauf, dass es noch keine umfassende empirische Studie zur Rezeption des Holocaust in der arabischen Welt gibt, wenngleich in den letzten Jahren einige Beiträge erste Ansätze in diese Richtung bieten. Kamil unterzieht einige dieser Arbeiten einer kritischen Analyse und kommt zu dem Ergebnis, dass die Auseinandersetzung mit dem Holocaust von Wahrnehmungsdefiziten und Rezeptionsblockaden geprägt ist. Er führt dies darauf zurück, dass die „Begegnung arabischer Intellektueller mit der Moderne“ zu einem „historischen Bruch bezüglich der Wahrnehmung der Juden“ führte. Juden galten als Schutzbefohlene, als Schwache. Mit dem Kolonialismus wurde der mit Europa identifizierte Jude Teil der Kolonialmächte. Hier sieht Kamil nicht nur die Gründe für die Holocaustleugnung, sondern auch eine der Ursachen für den arabischen Antisemitismus, der mit der Staatsgründung Israels und der Wahrnehmung des Landes als eine Fortsetzung des arabischen Kolonialismus ein weiteres Moment hinzugewann. Letztlich zeigt Kamils Beitrag auch im Hinblick auf die Problematik des Antisemitismus unter Muslimen mit Migrationshintergrund in Europa, welche zentrale Rolle der Kolonialismus und die Opferkonkurrenz zwischen Holocaust und Kolonialismuserfahrung in dieser Gemengelage spielen.

Der Islamwissenschaftler und Theologe Samir Khalil Samir liefert erneut eine Begriffsbestimmung zum Antisemitismus, betont die häufig falsche Interpretation des Wortteils „Semit“ und verweist auf die philologische Bedeutung des Terminus „Semiten“,  der eine Sprachgruppe meint. Dies ist jenen entgegenzuhalten, die immer wieder behaupten, Araber könnten keine Antisemiten sein, weil sie selbst „Semiten“ seien“. „Antisemitismus“ allerdings ist eine Wortschöpfung, die ausschließlich Feindschaft gegen Juden bedeutet. Für problematisch halte ich allerdings Samirs Erklärung des Begriffs „Antizionismus“, mit der er in diesem Band auch eher alleine steht. Samir geht von der ursprünglich innerjüdischen Debatte zum Zionismus aus, in der die Gegner eines eigenen Staates in Eretz Israel als Antizionisten bezeichnet wurden. Der Begriff hat sich aber inzwischen von dieser engen Bedeutung entfernt und meint heute Formen des Antisemitismus, die sich gegen Israel wenden und etwa das Existenzrecht des Staates in Zweifel ziehen oder gar ablehnen. Samir blendet damit jene Motive und Muster des Antisemitismus aus, die lange Tradition haben und nun gegen den Staat Israel oder dessen Bürger instrumentalisiert werden, also „Jude“ durch „Israeli“ ersetzen und sich damit einer weniger delegitimierten Form bedienen, um klassische antijüdische Vorurteile zu transportieren. Es gäbe noch eine ganze Reihe von weiteren kritischen Anmerkungen zur Interpretation des Nahost-Konflikts in diesem Beitrag, ich will mich hier aber nur auf eine Aussage beschränken, die die einseitige Position des Autors besonders verdeutlicht. Er spricht davon, dass die Gründung des Staates Israel ein Unrecht darstellt, wobei er sie zumindest heute als Faktum anerkennt. Der UNO-Beschluss 1947 hat beiden Parteien, der jüdischen und der arabischen Bevölkerung einen Teil des Territoriums zugesprochen. Die jüdischen Bewohner Palästinas haben die Gelegenheit genutzt, einige Monate später einen eigenen Staat zu gründen, das hätte die arabische Bevölkerung ebenso tun können. Dass in der Folge der Staatsgründung und des Unabhängigkeitskrieges bzw. der Nakba auf beiden Seiten Unrecht Geschehen ist, steht außer Zweifel. Die Vorgeschichte der Staatsgründung, die Frage, wem Teile des Territoriums gehörten (etwa Landkäufe jüdischer Siedlerorganisationen von arabischen Großgrundbesitzern etc.) und vieles mehr sind komplexe Sachverhalte, denen dieser Beitrag nicht gerecht wird. Ausgewogen und informativ hingegen ist Samirs Beitrag dort, wo er sich mit theologischen Fragen bzw. mit antijudaistischen Topoi auseinandersetzt.

Ausführlich und kenntnisreich geht Dirk Ansorge, Theologe und Herausgeber dieses Bandes in seinem abschließenden Beitrag auf das Verhältnis Katholische Kirche, Antisemitismus und Staat Israel ein und macht deutlich, wie Diplomatie und Theologie in Bezug auf das Verhältnis von Juden und Christen ineinander greifen. Ansorges These, dass die radikalsten Propagandisten des Antisemitismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht im Westen, sondern in der islamisch geprägten Welt auftreten und dies auch bestimmte Milieus mit muslimischem Migrationshintergrund in Europa einschließt, ist weitgehend zuzustimmen. Allerdings würde ich dies insofern eingrenzen, als es die aus der Propaganda resultierenden tätlichen Übergriffe und Gewaltakte betrifft. Bezieht man sich auf das weite Feld der Propaganda, dann wären sicherlich noch rechtsextreme Milieus in Russland und anderen Ländern Ost- und Mitteleuropas genauer zu untersuchen. Auch in diesen Ländern spielt übrigens der Antizionismus eine wichtige Rolle, war er doch vor der politischen Wende Staatsdoktrin. Schlüssig umreißt Ansorge die Komplexität des Verhältnisses der Katholischen Kirche zum Land Israel und dem jüdischen Anspruch auf das „heilige Land“ sowie die wechselvolle Geschichte der Beziehungen zwischen Vatikan und Israel. Meines Erachtens zieht Ansorge allerdings zu starke Grenzen zwischen religiöser Judenfeindschaft, Antizionismus und Antisemitismus und übersieht dabei das häufige Ineinandergreifen und Überlappen dieser verschiedenen Formen des antijüdischen Vorurteils. Auch wenn er dies nicht explizit sagt, so sind für ihn doch allesamt eher einzelne Phänomene. Ungeachtet dessen bietet dieser Beitrag eine wichtige Zusammenfassung der Geschichte der Beziehungen zwischen Juden und Christen nach 1945, vor allem aber zum Umgang mit Vergangenheit und Schuld. Ein solcher Beitrag kann nicht alle Facetten der vielschichtigen Problematik beleuchten, aber ein Hinweis auf sektiererische radikale Gruppierungen wie die Priesterbruderschaft Pius X, die die Liturgieform des Zweiten Vatikanischen Konzils ablehnt und in deren Reihen antisemitische Inhalte verbreitet werden,  wäre hilfreich gewesen. Aktuell wäre noch zu ergänzen, dass die Wiederzulassung der Tridentinischen Messe durch Papst Benedikt XVI – zwar in bestimmten Grenzen, doch einen Rückschritt gegenüber dem Zweiten Vatikanischen Konzil bedeutet. Allerdings hat der Papst die Karfreitagsliturgie gegenüber der alten Form verändert und damit die vorkonziliare Judenfürbitte abgeschafft.

Insgesamt bietet der Band, der die Beiträge zweier Tagungen der Katholischen Akademie des Bistums Essen im Jahr 2005 enthält, eine guten Einblick in das Spektrum heutiger Formen des Antisemitismus und aktueller Debatten, wobei Formen, wie sie im linken politischen Umfeld immer wieder in Erscheinung treten zugunsten einer naturgemäß stärkeren Fokussierung auf die theologische Auseinandersetzung außen vor blieben.


[1] Service de protection de la communauté juive, Rapport sur l’antisémitisme en France, 2006, S. 4.


Rezensentin:
Juliane Wetzel



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