Karl-Joseph Hummel/ Christoph Kösters (Hrsg.), Kirchen im Krieg. Europa 1939-1945, Paderborn 2007, Ferdinand Schöningh, 614 S., 48.00 EUR, ISBN: 978-3506756886.
Der vorliegende Band vereinigt bis auf zwei nicht kenntlich gemachte Ausnahmen die Beiträge eines internationalen und interdisziplinären Symposions „Kirchen im Krieg“, das im Oktober 2004 in der Katholischen Akademie in Bayern stattfand. Organisiert wurde es von der Kommission für Zeitgeschichte in Zusammenarbeit mit dem Marburger Lehrstuhl für evangelische Kirchengeschichte (Prof. Dr. Jochen-Christoph Kaiser). Ziel des Bandes ist es, „den Zweiten Weltkrieg als Forschungsfeld der kirchlichen Zeitgeschichte zu dimensionieren und aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln zu erschließen“ (Vorwort, S. 11). Gegliedert ist der Band in vier Teile: Teil I (S. 25-200) widmet sich der europäischen Dimension des Forschungsfeldes. Teil II (S. 203-242) fragt nach dem theologischen Kriegsverständnis auf katholischer wie protestantischer Seite. Teil III (S. 245-469) beschäftigt sich mit Christen in der Kriegsgesellschaft. Teil IV (S. 473-592) geht schließlich auf die Themenfelder Widerstand und Erinnerung ein. Man sieht bereits an den Seitenzahlen, dass das Hauptgewicht auf dem ersten und dritten Teil liegt. Die Theologiegeschichte ist dem gegenüber relativ unterbelichtet und scheint erst in den Anfängen zu stecken, während die Behandlung der Frage nach dem Widerstand bzw. Widerstandspotential auf Seiten der beiden Großkirchen in profunden Forschungsüberblicken präsentiert werden, die auf eine lange Forschungstradition zurückblicken können.
Der beeindruckende erste Teil steckt ein weites Panorama ab. Thomas Brechenmacher beleuchtet das Verhältnis von Heiligem Stuhl und europäischen Mächten im Vorfeld und während des Zweiten Weltkrieges. Dabei charakterisiert er das Dilemma, in welchem sich Pius XII. im Frühjahr 1939 befand: „entweder konsequent den Trennungsstrich ziehen, also Stärke demonstrieren, oder aber inkonsequent weiter lavieren, also ‚schwach’ handeln, dadurch möglicherweise jedoch die kirchliche Situation in Deutschland zu entschärfen“ (S. 38). Bei der Beurteilung des Verhaltens des Papstes führt Brechenmacher weniger dessen Überzeugung angesichts des Nationalsozialismus als vielmehr dessen politisch selbst zugedachte Rolle als potentieller Friedensvermittler an. Einerseits habe Pacelli an seiner Maxime der Unparteilichkeit festgehalten, also ‚schwach’ gehandelt, doch andererseits habe der Heilige Stuhl durch Stellungnahmen bereits gezeigt, dass er nicht unparteiisch war. Es wäre also mit Brechenmacher zu fragen, ob Pius XII. einer Illusion hinsichtlich der „Unparteilichkeit“ des Heiligen Stuhls angehangen sei (vgl. ebd.). Man könnte auch weiter fragen, wie man in der Forschung das Verhältnis zwischen Eugenio Pacelli (Person) zu Pius XII. (Amt) bewerten möchte.
Armin Boyens behandelt den in den Kriegsjahren im Aufbau begriffenen Ökumenischen Rat der Kirchen und nimmt so nach dem Heiligen Stuhl den zweiten transnationalen Akteur in den Blick. Es folgen Beiträge über die lutherischen Volkskirchen in den nordischen Ländern (Jens Holger Schjorring), zum belgischen und niederländischen Katholizismus (Lieve Gevers), zu den französischen Katholiken (Marie-Emmanuelle Reytier) und zum Katholizismus in Ostmitteleuropa (Emilia Hrabovec). Alle Aufsätze zeichnen sich dabei durch einen profunden Überblick zum Verhalten der Katholiken oder Protestanten angesichts des Nationalsozialismus in den diversen Ländern aus.
Wilhelm Damberg fragt im zweiten Teil „nach den um 1939 verbreiteten religiösen Deutungsmustern, mit denen die Katholiken dem Phänomen ‚Krieg’ begegneten, sowie [nach] den Verhaltensnormen, die daraus abgeleitet wurden“ (S. 203). Danach kann man davon ausgehen, dass die theologische Deutung des Krieges – sich verdichtend in der Lehre vom ‚gerechten Krieg’ – von der Antike bis zum Zweiten Weltkrieg ein hohes Maß an Kontinuität aufweist. Der Sprung von Thomas von Aquin ins 19. Jahrhundert auf S. 207 ist wohl so zu deuten, dass dazwischen nichts Wesentliches mehr passiert ist. Hier fehlen allerdings auch weitere Forschungen, um die Bandbreite des theologischen Deutungsangebots in der longue durée noch weiter auszuloten. Es erscheint plausibel, dass nach 1939 traditionelle Vorstellungen wie „Krieg als Strafe Gottes“, „Gehorsam gegen die Obrigkeit“ und „Leiden als Sühne“ rezipiert wurden. Der Beitrag von Christoph Holzapfel im dritten Teil wird zeigen, wie diese Deutungsmuster bei den Soldaten des Ersten und Zweiten Weltkrieges an ihre Grenzen stießen. Dies führt zur grundsätzlichen Frage nach einer Verbindung von erfahrungsgeschichtlicher und strukturgeschichtlicher Perspektive. Es wäre ferner auch interessant, den katholischen Widerstandsdiskurs (Stichwort „Tyrannenmord“) einmal näher als mögliche Handlungsmaxime in den Blick zu nehmen. Möglicherweise wurden auch bestimmte Traditionsstränge in der Frage eines Rechts auf Widerstand, die andere Verhaltensnormen hätten bewirken können, bereits vor dem Zweiten Weltkrieg verdrängt und nicht wieder reaktiviert. Insgesamt ist die von Damberg eingeschlagene Perspektive der longue durée zur Erhellung dieser Frage sehr anregend.
Wie kompliziert und heterogen sich die Rezeption der lutherischen Position(en) zum Krieg im Protestantismus gestaltete, verdeutlicht der Beitrag von Jochen-Christoph Kaiser. Auch hier ergeben sich letztlich neue Forschungsdesiderate bei der weiteren Klärung des theologiegeschichtlichen Deutungshorizonts. Dies wird resümierend auch im Diskussionsbericht von Josef Pilvousek hervorgehoben: Es gibt „noch keine annähernd befriedigende Darstellung des Themenkomplexes ‚Krieg und Frieden in Theologie und Kirche’“ (S. 235).
Der dritte Teil widmet sich zum einen dem kirchlichen Leben unter dem Druck der kriegsgesellschaftlichen Sonderbedingungen. Annette Mertens konkretisiert in diesem Rahmen das bekannte Stichwort des „Klostersturms“ anhand des sehr sprechenden Beispiels des Canisiushauses der Franziskanerinnen in Schwäbisch Gmünd. Sie macht das Vorgehen des NS-Staates und die Reaktionen der Betroffenen auf die Fremdnutzungen katholischer Einrichtungen zwischen 1940 und 1942 deutlich. Winfried Süß zeigt am Beispiel des Gesundheitswesens, zu welchen erheblichen Anpassungsleistungen an die Maximen der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik sowohl die evangelische Diakonie als auch die katholische Caritas bereit waren (vgl. S.319). So arrangierte sich die katholische Kirche zum Beispiel trotz ihrer prinzipiell ablehnenden Haltung mit dem Programm der Zwangssterilisationen und fuhr hier einen „für die Gläubigen nur schwer nachvollziehbaren Pendelkurs zwischen Kooperation und Verweigerung“ (S. 336). Uwe Kaminsky zeigt am Beispiel der Zwangsarbeit in evangelischer Kirche und Diakonie, dass Kirche ein „Teil der NS-Gesellschaft“ (S.361) war. Diese Feststellung ließe sich auch nach der Lektüre des Beitrages von Monica Sinderhauf über katholische Wehrmachtsseelsorge im Krieg machen. Hier wird nicht nur die Bedeutung des Feldgeneralvikars Georg Werthmann (1898-1980), Feldgeneralvikar von 1936-1945, gegenüber dem katholischen Feldbischof der deutschen Wehrmacht Franz Justus Rarkowski (1873-1950) aufgewertet, sondern auch die Feldseelsorge zwischen „Dienst am Vaterland“ und „Bedrängnis“ charakterisiert (S. 285). Jana Leichsenring dekonstruiert in ihrem Beitrag über die Kirchen und den Umgang mit Christen jüdischer Herkunft und Juden zwischen 1933 und 1945 den 1948 von Bruno Blau in der Schweizer Zeitschrift „Der Freund Israels“ veröffentlichten Artikel, in welchem dieser den Einsatz der christlichen Kirchen für die von den Nazis verfolgten Juden gelobt hatte.
Eine weitere Gruppe von Aufsätzen arbeitet mit der Verhältnisbestimmung von katholischem Milieu und Nationalsozialismus. So kann Christoph Kösters zeigen, dass dieses Milieu an der „Heimatfront“ trotz aller Anfeindungen die Zeit des Nationalsozialismus relativ geschlossen überstanden hat. Thomas Flammer betont demgegenüber am Beispiel der „Wandernden Kirche“, dass auch außerhalb des Milieus Katholiken trotz aller Widrigkeiten zu ihrem Glauben gestanden haben (vgl. S. 416). Für Christoph Holzapfel tritt im Kontext seines erfahrungsgeschichtlichen Zugangs zum Umgang von katholischen Soldaten mit dem Krieg deren Sozialisation vor dem Krieg als wesentlicher Bestandteil ihres Erfahrungsprozesses in den Blick. „In dieser Zeit erwarben sie [die Soldaten, N.P.] das soziale Wissen, mit dem sie während des Krieges deutend umgingen“ (S. 422). Als Beispiele wählte er den klassisch katholisch sozialisierten Alois Weber (1894-1917) und den in Oberschwaben aufgewachsenen Gerwich B. (geb. 1918) aus, wobei dessen Sozialisation zwar denjenigen bekannt sein dürfte, die Oberschwaben kennen, für alle anderen jedoch auch einige Erläuterungen wertvoll gewesen wären. Holzapfel zeigt eindrucksvoll, dass beide, so lange es ihnen der Verlauf des Krieges erlaubte, in der Konstruktion ihrer Kriegswirklichkeiten an die ihnen vertrauten zivilen Lebenswelten anknüpften. Die Zusammenstellung der drei letztgenannten Beiträge gehört zu den besonders gelungenen Seiten dieses Sammelbandes, zeigen sie doch drei methodisch sehr unterschiedliche Zugänge zur Frage nach der geistigen Kriegsbewältigung der Katholiken. Dass die sog. „Resistenzthese“, die gelegentlich in forschungsgeschichtlichen Zusammenhängen referiert wird (z.B. auf S. 484), überholt ist, haben zwar auch die anderen Beiträge zum Katholizismus im dritten Teil gezeigt, doch wird dies besonders am Beitrag von Flammer nochmals für das „katholisches Milieu“, das übrigens nie einfach mit dem gesamten Katholizismus gleichzusetzen war, vorgeführt. Im Resümee von Diermar Süß heißt es konsequenterweise dazu, dass sich im Rahmen eines simplen Antagonismus - hier das katholische Milieu, dort der feindliche nationalsozialistische Staat - „die Fragen nach dem Beziehungsverhältnis von Kirche und Krieg kaum hinreichend beantworten“ ließen“ (S. 467).
Der letzte Beitrag im dritten Teil stammt von Ellen Ueberschär zu den Geschlechterbeziehungen in der Deutschen Evangelischen Kirche während des Zweiten Weltkriegs, der wegen eines fehlenden Pendants einer Genderperspektive auf katholischer Seite etwas in der Luft hängt. Wie der zweite Teil wird auch der dritte durch einen Diskussionsbericht, diesmal von Dietmar Süß, abgeschlossen. Hier wird insgesamt festgehalten, dass die Kirchen einerseits „Teil der mobilisierten Kriegsgesellschaft“ waren, während der NS-Staat gleichzeitig versuchte, die Gesellschaft zu entkonfessionalisieren. In diesem Spannungsfeld habe die Frage nach Konflikt- und Konsenszonen im Mittelpunkt der Debatte gestanden (S. 467).
Der vierte Teil umfasst vier Aufsätze. Winfried Becker bietet auf nicht ganz zwanzig Seiten einen hervorragenden Überblick über Forschungsstand und Forschungsperspektiven zum Thema Widerstand seit 1945. Dabei zeigt er sehr überzeugend, dass die kategoriale Trennung von religiös-christlichem und politischem Widerstand kritisch zu hinterfragen wäre (S. 490). Björn Mensing zeigt in seinem Beitrag über „braune“ Protestanten und protestantische „Märtyrer“, dass die bisherige Zuteilung - die Deutschen Christen waren braune Protestanten, die Bekennende Kirche steht für Widerstand (S. 493) - so nicht zutrifft. Seine Fallbeispiele machen besonders deutlich, dass Widerstand auch als persönlicher Prozess zu begreifen ist. Karl-Josef Hummel geht auf die Entwicklung der Geschichtsbilder im deutschen Katholizismus von 1945 bis 2000 ein und sprengt mit etwa 50 Seiten als Herausgeber vermutlich seine eigenen Umfangsvorgaben der Beiträge. Der Tenor der Darstellung ist von einem Plädoyer für mehr Gerechtigkeit gegenüber den historischen Akteuren gekennzeichnet, die zum Teil so schlecht weggekommen seien, dass die „intensive Erforschung der NS-Diktatur durch die katholische Zeitgeschichtsforschung (…) durch die aufgezwungene Verteidigungsperspektive bestimmt“ geblieben sei (S. 566). Hier wäre zu bedenken, dass in einer Generation von Nachgeborenen, in der Massenmedien wie die Bild-Zeitung „Wir sind Papst“ titeln, eine solche Zwangslage als überwunden gelten könnte. Der Verteidigungsmechanismus sollte zumindest auch nicht dem Ziel eines differenzierten Geschichtsbildes im Wege stehen. Dass die von Hummel beschriebene Konfliktlinie als weitgehend überwunden gelten darf, zeigen nicht zuletzt die verschiedenen, fast gänzlich in ihrem Urteil sehr ausgewogenen Beiträge dieses Sammelbandes. Bereits der letzte Aufsatz von Franziska Metzger über katholische Erinnerungsdiskurse über den Zweiten Weltkrieg in Österreich und in der Schweiz macht deutlich, dass hier eine neue Forschergeneration herangewachsen ist, die methodisch äußerst reflektiert und emotional unaufgeregt über Konstruktionen von Wirklichkeit wie die „Neutralität“ und der „Sonderfall-Mythos“ in der Schweiz oder den „Opfer- und Widerstandsdiskurs“ in Österreich schreiben. Während früher offenbar mehr um die Elemente der Erinnerung gerungen wurde, scheint heute ein größeres Interesse an den Konstruktionsmechanismen der Erinnerungskultur zu bestehen. Freilich wird auch der Diskurs über den Diskurs diese Erinnerungskultur mitgestalten. Oder um es frei nach Thomas Brechenmacher zu sagen: Wir sollten uns auch heute keine Illusionen über die „Unparteilichkeit“ der Geschichtsschreibung machen. Diese ist nur vielschichtiger, d.h. auch in ihren Wertungen unübersichtlicher, geworden. Franziska Metzger hat hierzu eine sehr interessante These aufgestellt, indem sie feststellt, dass die Dekonstruktion der traditionellen Erinnerungsdiskurse „sich vor allem in einer Pluralisierung und Dezentralisierung der Geschichtsdiskurse aus(drückt), wozu auch gehört, dass sie nur partiell ist, d.h. dass traditionelle Diskurse neben den aufgebrochenen weiterexistieren“ (S. 592).
Wer sich über Forschungsstand und -perspektiven der kirchlichen Zeitgeschichte zum Thema „Kirche und Zweiter Weltkrieg“ umfassend informieren möchte, dem sei der vorliegende Band sehr zur Lektüre empfohlen.
Rezensentin:
Nicole Priesching
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