Roland Roth/Dieter Rucht (Hg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945, Ein Handbuch, Campus Verlag: Frankfurt/Main 2008, 770 S., 49,90 EUR. ISBN: 978-3-593-3872-9.
Mit ihrem Handbuch sozialer Protest- und Reformbewegungen erlauben die
beiden Autoren erstmals einen zusammenhängend-kompakten Zugriff
auf die sozialen, politischen und wissenschaftlichen Entwicklungen
diesseits und jenseits der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Roland
Roth lehrt Politikwissenschaft an der FH Magdeburg-Stendal, Dieter
Rucht ist Soziologe an der FU Berlin.
Von der Arbeiterbewegung, studentischen Protestkampagnen über
Antiatomkraft- und Friedensbewegung hin zu Bürgerbewegungen der
DDR: Am Ende steht die Erkenntnis, es gibt keinen eindeutigen
„Bewegungsbegriff“. Vielmehr sei nach 60 Jahren in „unterschiedliche
Etappen“ zu gliedern. Zu dieser Einschätzung tragen nicht zuletzt
die Charakterzüge rechtsextremistischer Aktivitäten sowie
Aktionen gegen Globalisierung, Gentechnik oder – wie nach Ende des
Zweiten Weltkriegs – gegen Arbeitslosigkeit bei. Bislang fehlte ein
vergleichbares Werk, gleichwohl Roth und Rucht bereits ein Kompendium
zu „Neuen sozialen Bewegungen in Deutschland“ veröffentlicht haben
(Frankfurt/Main 1991 [1987]).
Im wesentlichen Politologen, aber auch Pädagogen, Soziologen und
Historiker haben insgesamt 21 Bewegungen und sachverwandte Projekte als
prägend für die Entwicklung von Demokratie in Deutschland
ausgemacht. Die formale Gliederung des Handbuchs erfolgt in vier
Kapiteln: „historisch-politischer Kontext“ (S.39-154), „Bewegungen,
Proteste und Themenfelder“ (S.157-446) sowie die Schlussbetrachtungen,
die auch über eine umfangreiche Chronologie-Tabelle und
Literaturangaben verfügen (S.635ff.).
Die periodische Unterteilung erfolgt in Nachkriegszeit (1945-1960),
„CDU-Staat“ und „Große Koalition“ (1960-1970), den Weg zur
Einheit (1970-1990) sowie das „vereinigte Deutschland“ (1990-2005).
Hierbei ist bedeutend: Protestäußerungen der aktuellen
Gegenwart artikulieren sich zunehmend in (global) organisierten
Netzwerken, so die Herausgeber. Daher sei ein klarer „Bewegungsbegriff“
erst seit den 80er Jahren zu erkennen. Frühere Proteste
hätten eher Kampagnen- oder Initiativencharakter gehabt.
Möchte man die Rolle beider großen Kirchen in Deutschland
für die soziale Bewegungskultur im Nachkriegsdeutschland
herausstellen, so hat man es neben den Antiglobalisierungskampagnen und
an ethischen Themen wie Genforschung orientierten Debatten der
Gegenwart vornehmlich mit der Friedensbewegung, der
Dritte-Welt-Bewegung sowie dem Komplex der ehemaligen Deutschen
Demokratischen Republik (DDR) zu tun. Evangelisch-Lutherische wie
römisch-katholische Kirchengemeinden haben von der Bundesrepublik
aus über Partnerschaften vielen Gemeinden in der DDR bei ihrer
seelsorgerischen und sozialverantwortlichen Aufgabe wie
Arbeitslosenunterstützung oder Alkohol- und Suchtbetreuung helfen
können. Bei dem sich in der DDR formierenden Bürgerprotest
der 1950er Jahre, vor allem aber später nach 1980, spielte die
Kirche zwei unterschiedliche Rollen. Zum einen als Organisator und
Multiplikator von Initiativen, Bewegungen und Netzwerken: als Beispiele
seien die „Initiative für einen sozialen Friedensdienst“ des
Dresdner Pfarrers Christoph Wonneberger, die „Frauen für den
Frieden“ oder „Frieden konkret“ genannt (S.380ff.). Zum anderen aber
wurde die Kirche in der DDR aus der Sicht jüngerer Mitglieder zum
Objekt kritischer Auseinandersetzung: das Verhältnis von
Kirchenleitung und Staat hinsichtlich des Umgangs mit Dissidenten wurde
zunehmend als „Anpassungsleistung“ (S.383) betrachtet. Hieraus
entstanden der „Arbeitskreis Solidarische Kirche (AKSK)“ und die
„Kirche von unten (Kvu)“.
Auf Basis dieser sich entwickelnden Aktionskultur konnten letztlich
(friedliche) Protestaktionen, Friedensgebete, Mahnwachen u. Ä. wie
um die Leipziger Nikolaikirche durchgeführt werden und leisteten
so sicherlich einen nicht kleinen Beitrag zur Überwindung der DDR.
Fazit: Die Beiträge richten sich an ein „breites“ Publikum – und
verfehlen dieses Ziel auch nicht. Von der Lesbarkeit her ist das Werk
gut angelegt, die Sinnabschnitte der einzelnen Beiträge gliedern
sich abwechslungsreich, der Ausdruck flüssig. Daher eignet sich
dieses Handbuch auch zur Lektüre für Schüler und normale
Leser. Die Vorstellung vergangener und mitunter eingegangener
Bewegungen wie der 68er-Zeit mit der Außerparlamentarischen
Opposition, der Friedens- oder der DDR-Bürgerbewegungen ist schon
allein deshalb wichtig, um von ihnen zu erfahren. Denn oft treten diese
Abschnitte deutscher Gesellschaftsgeschichte in den Hintergrund. So
erscheint Theodor W. Adornos charakterisierende Anmerkung zur
Gesellschaft nach wie vor, oder überhaupt aktuell: „sie ist
wesentlich Prozess“ (S.7).
Rezensent:
Hans-Christian Roestel
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